Die Kunst ist ein Träger der Ideen.
Früher hat Beuys immer „es ist doch klar“ usw. gesagt. Langsam übernahm
das „logisch“ die Bedeutung, weil die Sätze weniger klar wurden, aber mehr
logisch.
Es ist kein einfacher Satz, den er uns übers Telephon bei der Friedensbien¬
nale in Hamburg hinterlassen hat. Es geht um einen neuen Anfang, neuen
Boden, neue Gedanken, neue Vorstellungen, die wir uns erkämpfen müs¬
sen, um unsere Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Der Mensch muß sich
ständig darüber im klaren sein, was um ihn geschieht, so daß „die Befreiung
der von der Fähigkeit getragenen Arbeit“ immer „freikommt“, z. B. daß
Systeme ihn nicht hemmen, täglich hemmen. Es werden immer neue
Systeme auftauchen, aber jeder Mensch muß ständig dafür sorgen, daß das
Tragende befreit wird.
Das Tragende? Was ist das Tragende. Es ist ein Rätsel, wenn man bedenkt,
wie verschieden die Menschen sind, wie verschiedene Bedürfnisse wir
haben. Grundsätzlich brauchen wir Essen und Wärme. Sie hängen schön
zusammen, Essen und Wärme, aber darum geht es wohl nicht in unseren
wohlgenährten Zeiten - WestZeit - aber Wärme doch. Beuys hat auch über
den „Wärmecharakter des Denkens“ geredet. Die Wärme wird in Denken
umgesetzt, und das eben in Fähigkeiten unter Menschen, die Energie muß
zurück, der Generator muß ewig laufen, und dazu haben wir heute die Mög¬
lichkeiten, weil wir doch sehr viel über Zusammenhänge wissen, z. B. die
Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Kriegen, zwischen Ökonomie
und Unrecht und über den Zwang der repräsentativen Demokratie, die
Kräfte freiläßt, die wir eher unterbinden sollten durch Fähigkeiten, die als
Menschsumme genau das Tragende sind, wenn man das ewige Generator¬
prinzip durchdenkt.
Es war eine FRIEDENSBIENNALE, die in Hamburg eröffnet wurde. Den
Frieden (nicht Krieg!) als tragendes Elementzu sehen ist wohl klar. Untersei-
nem Flügel lag eine Oxygenflasche, und durch das Telephon hat Joseph
Beuys Felisch gebeten, den Sauerstoff loszulassen, als Energiebild oder
auch das Tragende. Lange haben ökologische Fragen ihn und uns beschäf¬
tigt. Soweit ich Beuys kenne, geht es in dieser Frage nicht (nur) um das Über¬
leben der Menschheit, das ist doch selbstverständlich, klar, aber als logisch
gilt es, die Fähigkeiten zu entwickeln, uns sinnlich zu bereichern, klüger zu
werden, und dazu brauchen wir die Ökologiebalance als das Tragende.
Als Beuys von Rene Block gefragt wurde, ob er bei dem Eröffnungskon¬
zert mit Paik und Christiansen mitmachen wollte, stimmte er sofort zu. Am
29.11.1985 war es plötzlich saukalt und bestimmt nicht klug für einen Herz¬
kranken, nach draußen zu gehen, aber er hatte sofort eine Lösung: „Ich
mache übers Telephon mit“. Block sollte nur die Pedale von Beuys’ Flügel
abschrauben und oben auf den Flügeldeckel stellen, vielleicht als seine
Beine, dann eine Tafel mit einem Stück Kreide dazustellen und unter den Flü¬
gel die Oxygenflasche hinlegen und sie verwenden, wenn er übers Telephon
darum bat. Er wollte dann als Zeichen für den Konzertanfang anrufen.
Das Eröffnungskonzert der Friedensbiennale lief unter dem Motto „Der
Frieden muß aktiv werden“. Der Raum wurde voll von Lautbildern: Paik spielt
Pferdegeige-Reitergeige, und Christiansen spielt einen Klaviervogel. Auf
seinem Flügel steht ein weißes Kanarienweibchen, das ständig hin und her
hüpft und pip sagt. Ein Friedensvogel, der wie der Mensch im Käfig geboren
ist und lebt und ißt und singt und hüpft. Christiansen schlägt zwischen den
Akkorden mit seinen Armflügeln und singt unterwegs ein paar Worte: „Love
is here to stay - We are here to play.“ Paik geht zum Fernseher und zeigt nun
das Tokiovideo, ein Konzert mit ihm und Beuys, wo Beuys das ö-ö-Thema
aufnimmt und sich in Japan verständlich macht. Auf Tonband läuft im Saal
das Meer und SYMPHONY NATURA und die Wölfe singen mit Beuys’ ö-ö
zusammen ssang-ssang (koreanisch = zusammen). Es erinnert an Beuys’
Slogan für die DEUTSCHE STUDENTENPARTEI: „Es ist die größte Partei der
Welt, die meisten Mitglieder sind Tiere.“
Paik greift seinen Flügel voller Liebe an und spielt Chopin. Christiansen
akkompagniert ihn fliegend auf seinem Flügel, dabei fällt Paiks Mikrophon
aus und Chopin flattert in der großen Halle herum. Nach dem Applaus ist nur
noch ein Klingeln und das Kanarienweibchenpipsen im Meer zu hören -
Ruhe.
Während des Konzertes hat Beuys sich telephonisch gemeldet. Der
Sauerstoff ist ausgelassen, und er hat den schönen Satz: BEI EINEM
WESENSGEMÄSSEN... usw. durchgesagt und Felisch hat ihn auf der Tafel
mit Kreide niedergezeichnet, mit dem Dreieck und der Vierzahl - und nach
Wiederholung des Satzes durch Beuys und seiner Frage „Gut so?“ und nach
Felischs „Ja“, hat Beuys uns allen „Auf Wiedersehen“ - gesagt.
Keiner konnte wissen, daß es zugleich sein Abschiedskonzert wurde
Viele waren darüber enttäuscht, daß er nicht persönlich kommen konnte -
er fehlte und fehlt immer noch, auch weil er so stark mit dem Begriff des akti¬
ven Friedens verbunden ist.
Fähigkeit zur Liebe. Fähigkeit neue Ideen für den Frieden zu entwickeln,
das ist Kunst. Es ist „Wärmecharakter im Denken.“
Henning Christiansen, Berlin, 29.11.1987