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Full text of "Henning Christiansen, Nam June Paik & Joseph Beuys - Abschiedssymphonie, Op. 177"

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Die Kunst ist ein Träger der Ideen. 

Früher hat Beuys immer „es ist doch klar“ usw. gesagt. Langsam übernahm 
das „logisch“ die Bedeutung, weil die Sätze weniger klar wurden, aber mehr 
logisch. 

Es ist kein einfacher Satz, den er uns übers Telephon bei der Friedensbien¬ 
nale in Hamburg hinterlassen hat. Es geht um einen neuen Anfang, neuen 
Boden, neue Gedanken, neue Vorstellungen, die wir uns erkämpfen müs¬ 
sen, um unsere Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Der Mensch muß sich 
ständig darüber im klaren sein, was um ihn geschieht, so daß „die Befreiung 
der von der Fähigkeit getragenen Arbeit“ immer „freikommt“, z. B. daß 
Systeme ihn nicht hemmen, täglich hemmen. Es werden immer neue 
Systeme auftauchen, aber jeder Mensch muß ständig dafür sorgen, daß das 
Tragende befreit wird. 

Das Tragende? Was ist das Tragende. Es ist ein Rätsel, wenn man bedenkt, 
wie verschieden die Menschen sind, wie verschiedene Bedürfnisse wir 
haben. Grundsätzlich brauchen wir Essen und Wärme. Sie hängen schön 
zusammen, Essen und Wärme, aber darum geht es wohl nicht in unseren 
wohlgenährten Zeiten - WestZeit - aber Wärme doch. Beuys hat auch über 
den „Wärmecharakter des Denkens“ geredet. Die Wärme wird in Denken 
umgesetzt, und das eben in Fähigkeiten unter Menschen, die Energie muß 
zurück, der Generator muß ewig laufen, und dazu haben wir heute die Mög¬ 
lichkeiten, weil wir doch sehr viel über Zusammenhänge wissen, z. B. die 
Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Kriegen, zwischen Ökonomie 
und Unrecht und über den Zwang der repräsentativen Demokratie, die 
Kräfte freiläßt, die wir eher unterbinden sollten durch Fähigkeiten, die als 
Menschsumme genau das Tragende sind, wenn man das ewige Generator¬ 
prinzip durchdenkt. 

Es war eine FRIEDENSBIENNALE, die in Hamburg eröffnet wurde. Den 
Frieden (nicht Krieg!) als tragendes Elementzu sehen ist wohl klar. Untersei- 
nem Flügel lag eine Oxygenflasche, und durch das Telephon hat Joseph 
Beuys Felisch gebeten, den Sauerstoff loszulassen, als Energiebild oder 
auch das Tragende. Lange haben ökologische Fragen ihn und uns beschäf¬ 
tigt. Soweit ich Beuys kenne, geht es in dieser Frage nicht (nur) um das Über¬ 
leben der Menschheit, das ist doch selbstverständlich, klar, aber als logisch 
gilt es, die Fähigkeiten zu entwickeln, uns sinnlich zu bereichern, klüger zu 
werden, und dazu brauchen wir die Ökologiebalance als das Tragende. 

Als Beuys von Rene Block gefragt wurde, ob er bei dem Eröffnungskon¬ 
zert mit Paik und Christiansen mitmachen wollte, stimmte er sofort zu. Am 
29.11.1985 war es plötzlich saukalt und bestimmt nicht klug für einen Herz¬ 
kranken, nach draußen zu gehen, aber er hatte sofort eine Lösung: „Ich 
mache übers Telephon mit“. Block sollte nur die Pedale von Beuys’ Flügel 
abschrauben und oben auf den Flügeldeckel stellen, vielleicht als seine 
Beine, dann eine Tafel mit einem Stück Kreide dazustellen und unter den Flü¬ 
gel die Oxygenflasche hinlegen und sie verwenden, wenn er übers Telephon 
darum bat. Er wollte dann als Zeichen für den Konzertanfang anrufen. 

Das Eröffnungskonzert der Friedensbiennale lief unter dem Motto „Der 
Frieden muß aktiv werden“. Der Raum wurde voll von Lautbildern: Paik spielt 
Pferdegeige-Reitergeige, und Christiansen spielt einen Klaviervogel. Auf 
seinem Flügel steht ein weißes Kanarienweibchen, das ständig hin und her 
hüpft und pip sagt. Ein Friedensvogel, der wie der Mensch im Käfig geboren 
ist und lebt und ißt und singt und hüpft. Christiansen schlägt zwischen den 
Akkorden mit seinen Armflügeln und singt unterwegs ein paar Worte: „Love 
is here to stay - We are here to play.“ Paik geht zum Fernseher und zeigt nun 
das Tokiovideo, ein Konzert mit ihm und Beuys, wo Beuys das ö-ö-Thema 
aufnimmt und sich in Japan verständlich macht. Auf Tonband läuft im Saal 
das Meer und SYMPHONY NATURA und die Wölfe singen mit Beuys’ ö-ö 
zusammen ssang-ssang (koreanisch = zusammen). Es erinnert an Beuys’ 
Slogan für die DEUTSCHE STUDENTENPARTEI: „Es ist die größte Partei der 
Welt, die meisten Mitglieder sind Tiere.“ 

Paik greift seinen Flügel voller Liebe an und spielt Chopin. Christiansen 
akkompagniert ihn fliegend auf seinem Flügel, dabei fällt Paiks Mikrophon 
aus und Chopin flattert in der großen Halle herum. Nach dem Applaus ist nur 
noch ein Klingeln und das Kanarienweibchenpipsen im Meer zu hören - 
Ruhe. 

Während des Konzertes hat Beuys sich telephonisch gemeldet. Der 
Sauerstoff ist ausgelassen, und er hat den schönen Satz: BEI EINEM 
WESENSGEMÄSSEN... usw. durchgesagt und Felisch hat ihn auf der Tafel 
mit Kreide niedergezeichnet, mit dem Dreieck und der Vierzahl - und nach 
Wiederholung des Satzes durch Beuys und seiner Frage „Gut so?“ und nach 
Felischs „Ja“, hat Beuys uns allen „Auf Wiedersehen“ - gesagt. 

Keiner konnte wissen, daß es zugleich sein Abschiedskonzert wurde 
Viele waren darüber enttäuscht, daß er nicht persönlich kommen konnte - 
er fehlte und fehlt immer noch, auch weil er so stark mit dem Begriff des akti¬ 
ven Friedens verbunden ist. 

Fähigkeit zur Liebe. Fähigkeit neue Ideen für den Frieden zu entwickeln, 
das ist Kunst. Es ist „Wärmecharakter im Denken.“ 

Henning Christiansen, Berlin, 29.11.1987