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Full text of "Homilien und Predigten auf alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahrs"

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Homilien 
| und 
Predigten 
allen Sonn: und Fefttagen des. 
FJahrs 


von 


IJ. D. Bro camann, 
Domkapitular, Dr, und Brofefför der Ereoiuit in. ‚mühner. 






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— 


Vom breigehnten bis zum legten Ermnage nach dem Sf 
de heil. Dielſaltlteu. 


| w W 

Zweite Auflage. 

- “ | “nm \ | 
Münster, 1840. 

Berlas, Drucıund vapier der Eoppenratpfiken Buh- und Kuuſthandlanc. 


Gegenwärtiger vierter und fegter Theil der Homilien und Pre 
digten auf alle Sonn» und Feſttage des Kirchenjahrs von J. 9. 
Brodmann, Dom:Capitulae und Profeffor, enthält nichts, mas 
der Eatholifchen Glaubens» und Gittenlehre entgegen ift, weshalb der 
Druck deffelben erlaubt und das Buch ſelbſt als ein geeignetes: Mit: 
tel zum Unterricht und’ zur Erbauung empfohlen wird. J 


“ Begeben zu Loͤbberich auf der Bifitationsreife 
ben 21. Junius 1829. 


Der Bifchof von Münfter 
| Caspar Maxr. 


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oo BASE: 
Br. 
1836 
EZ 
Bdorrede 


— — — 


Mit dieſem vierten und letzten Theile ſind jetzt die Ho⸗ 
milien und Predigten auf alle Sonn⸗ und Feſttage des 
ganzen Kirchenjahres beſchloſſen. Da faſt auf jeden Sonn⸗ 
und Feſttag zwei Predigten vorkommen: fo find in die⸗ 
ker Sammlung eigentlich zwei Jahrgänge enthalten. - 

Der Herauögeber, in der feften Ueberzeugung, daß 
dad Wort Gottes am meiften wirkfam fey „zur Beleh⸗ 
rung, zur Wiverlegung, ‚zur Befferung, zur Unterweilung 
in der Gerechtigkeit" (2. Zim 3, 16.) hat es Daher zur 
heiligſten Pflicht ſich gemacht, das ‚göttliche Wort in je— 
der Predigt rein und Bar darzulegen, und die Lehre, bie 
et vortrug, auf das Wort Wottes zu gründen, aus dem⸗ 
ſelben abguleiten, und auf ſolche Art in Vereinigung mit 


der Kraft des göttlichen, Wortes auf Das menſchliche Les 
| 670 J 





vw | 

ben anzuwenden. In jeder Homilie hat er daher nicht 
nur die ganze evangeliſche Perikope auf eine faßliche Art 
zu erklaͤren ſich bemuͤhet, ſondern dieſe Erlaͤuterung auch 
noch ausgedehnt auf Alles, was mit der Perikope in 
Verbindung ſtand, derſelben zunaͤchſt vorherging oder 
nachfolgte. Vorzuͤglich bei den Reden unſers Heilandes 
iſt dies Verfahren ſtrenge beobachtet; ſo daß nicht blos 
die Bruchſtuͤcke der Reden, ſo wie ſelbe in den Periko⸗ 
pen vorkommen, ſondern die ganzen Reden in ihrem Zu⸗ 


ſammenhange in dieſen Homilien eine Erlaͤuterung ge⸗ 


funden haben, jedoch immer ſo , daß derjenige Theil der 


Rede, welcher in der Perikope enthalten war, vorzuͤglich 
und am meiſten in's Licht geſetzt worden iſt. Es be⸗ 


darf nicht wiederholt zu werden, daß dieſe Methode, 


welche wegen Kürze der Zeit auf der Kanzel nicht im- 
me ganz ausführbar war, für die Belehrung und Er- 
bauung des Leſers ſehr geeignet iſt. 

So iſt dann, wenn man die in einem beſondern 
Baͤndchen abgedruckten, während ber 5. Faſtenzeit gehal- 
tenen Homilien über das Leiden und ben Tod unſers 
Herrn Jeſu Chriſti dazu nimmt, eine faßliche und prak⸗ 
tiſche Schrifterklaͤrung der meiſten, wenigſtens ber bebeuz 


V 


tendſten Stellen aus allen unferen h. Evangelien in die⸗ 
fe Sammlung niedergelegt. Bugleich iſt jedesmal die 
entiprechenbe Glaubenslehre, die in dem evangeliſchen 
Lerte begründet war, aus derſelben abgeleitet und nach 
den Ausſpruͤchen der katholiſchen Kirche dargelegt und 
erklaͤrt. Daß es der Herausgeber an dem, was doch in 
der Predigt die Hauptſache, und ihr vorzuͤglicher Zweck 
iſt, an der eigentlichen Anwendung, oder, wie man es 
zu nennen pflegt, an der Sittenlehre niemals habe feh⸗ 
len laſſen; dafuͤr moͤgen die Reden ſelbſt zeugen. Um 
dieſem Zwecke noch deſto mehr zu entſprechen, iſt zugleich 
die: Einrichtung getroffen, daß faſt jedesmal, wenn die | 
erſte Rede an einem Sonn⸗ oder Feſttage eine Homilie 
war, und mehr die Erlaͤuterung des Evangeliums und 
der damit verbundenen Glaubenslehre zum Gegenſtande 


hatte, die zweite Rede eine ‚eigentliche Predigt if, und 


mehr die Sittenlehre, jedoch in ſtrenger Verbindung mit | 
dem entprechenden evangelifchen Ausſpruche , worauf ſie 
begruͤndet iſt, damit auch die Sittenlehre als bibliſche 
Lehre erſcheine, auseinander zu ſeben und einzuſchaͤrfen 
zum Swei bat, 


vi 

Ueber einzelne, in dieſem letzten Theile vorfommenbe 
Reden hat der Herausgeber nicht. gu bemerken, als daß 
die erfle Rede am efte. aller Heiligen den für die Kirche 
und für die Wiſſenſchaft leider zu fruͤh verflachenen Pro⸗ 
feflor Pilgrim zum Verfaſſer hat. Sehr gern Hat der 
Herauögeber diefe Predigt als ein Zeugniß fowohl won 
der firengen Rectgläubigkeit, als auch von dem ausge⸗ 
zeichneten Rednertalent ſeines verſtorbenen Freundes in 
dieſe Sammlung aufgenommen. | ' 

Da «6 dem Herausgeber wegen" anhaltender Lraͤnk⸗ 
Uichtkeit ſeit einigen Jahren nicht mehr vergoͤnnt iſt, auf 

oͤffentlicher Kanzel das Wort Gottes zu verkuͤndigen: fo 
iſt es ſein ſehnlichſter Wunſch und ſein inſtaͤndiges Ge⸗ | 
bet, baß bie göttliche Gnade diefen gedruckten Meden in 
den Herzen vieler Lefer ein fegenreiches Sedeihen geben 
möge. | | 


Minter, ben‘ 2. Junius 1829. 


De Serausgeben 











x Indhaltsverzeichniß 
| ve — 
im vierten Bande enthaltenen Homilien, Betrachtungen 
| und Predigten, 


Erſte Abtheilung. 


Reden an den Sonntagen zwiſchen dem dreizehnten und letzten 
Sonntage nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


Erſte Rede. Erſte Rede am drelzehnten Sonntage nach dem Feſte 
der h. Dreifaltigkeit. 
Tert: Selig die Augm, bie ſehen, was ihr ſchet! eut. 
10, 23. 
Thema: Welche Seligkeit noch größer , als jme, fen 
Seite 1 
Zweite Rede, Zweite Rede am breizehnten Sonntage nad) bem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Tert: Die Parabel von dem barmherzigen Samariter. Luk. 
40, 25— 37. ’ 
Thema: Bon der Liebe dee Naͤchſten S. 17 
Dritte Rede. Erſte Rede am vierzehnten Sonntage nah dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Tert:_ Das Evangelium von ber Set ber zehn Aueſiti. 
gen. Luk. 17, 11-19. | 
Thema: Won ber Dankbarkeit gegen Bott. 8.32 
Vierte Rede. Zweite Rede am vierzehnten Sonntage nach dem 
Tefte der h. Dreifaltigkeit. 
Tert: Und diefer war ein Samariter. Luk. 17, 16. 
Thema: Ueber ben unfhägbaren Werth der Rechtgtäubigkeit, 
©. 46 





VIII 


Fuͤnfte Rebe, Dritte Rebe am ergeiten Sonntage nach dem 

Feſte der h. Dreifaltigkeit, 

Tert: Steh auf, geh! dein Glaube hat dir. geholfen. Luf. 
17, 19. | 
Thema: Auguſtinus in ſeinem gute und in feiner Bes 
| ehrun. . + a oe . Seite 60 
Schöte Rede. Erſte Rede am fünfzehnten Sonntage nach dem 
Seite ber h. Dreifaltigkeit. 
Tert: Das Evangejfium Matth. 6, 24 — 34. 

Thema: Vom Vertrauen auf Got, . : . S.70 
Siebente Rede. Zweite Rede am fünfgepnten. Sonntage nach 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 

Text: Suchet am erflen das Reich Gottes und Seine Se: 

rechtigkeit, und jenes Alles ſoll euch zugegeben verden! 

Matth. 6, 83. | 

Thema: Bon der göttlichen Fuͤrſehung. | 9— | ©. 86 
Achte Rede. Am fechezehnten Sonntage nach. bem Sefte der 6. 

Dreifaltigkeit. 

Text: Die Auferweckung des Juͤnglinge zu Mais, kuk. 7 
11 — 17. 

Thema: Troſt im ſchwerſten, Leiden. .  .. ‚8. 101 
Neunte Rede. Erſte Rede am ſiebenzehnten Sana mach dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. 

Text: Das Evangelium des h. Lukas 14, I. 
Thema: Beſondere Anwendung auf Krankenbeſuch. . ©, 112 
Behnte Rede. _ Zweite Rede am .fehenzehnten. Somntage nach 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. .; 
Zert: Iſt es erlaubt, am Sabbat geſund zu wachen? 
Luk. 14, 3. 
Thema: Der Sabbat der Inden und der Sonntag bei 
Chriſten.. W ©. 124 
Eilfte Rebe, Erfie Rede am achtzehnten Sonntage nach dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Text: Das Evangelium von dem großen Gebote. Matih. 
22, 23-45. Mat. 12, 18—37. Luk. 20, 2744. 


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u... 








IX 


Thema: Auslegung und Anwenbung Aus Evangeliums. 
Seite 139 
Zwoͤlfte Rede, Zweite Rede am achtzehnten Sonntage nach dem 

Feſte der h. Dreifattigkeit. 

Text: Du folft den Herrn, deinen Goeit, Heben von gungen 
Herzen, und von ganzer Seele, unb von beisam ganzen 
Gemuͤthe. Diefes ift das größte und vornehmſte Gebot. 
Das andere Ift ihm gleich: Du follft deinen Nächten lie⸗ 
ben, wie dich felbft. An diefen zween Geboten hängt das 
ganze Geſetz und die Propheten. Matth. 2, 3732, . 

Thema: Bon ber Verbindung der Gottes, Selbſt⸗ und 
. Mächftentiebe. . . . . . 8. 157 


Dreizehnte Rede. Erſte Rede am neunzehnten Sonntage nach 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 

Tert: Das Evangelium von ber Heltung bed Gichtbruͤchigen. 

Math. 9, IE. Mark, 2, 1—12. Zul. 15, 1785, 

Thema: Bon ber Beichte. S. 174 


Vie⸗rzehnte Rede. gweite Rede gm neunzehnten Sonntage nad) 
ben Feſte ber h. Dreifaltigkeit. 
Tert: Was denket Ihe Arges in eueren en Herzen? Matth. 9, 4. 
Thema: Bon den Diäten, über unfere Gedanken zu machen. 
S. 191 
Fun fjehnte Rede. Am. zwangigften Sonhtage nach dem Feſte 
der h. Dreifaltigkeit. 


Tert: Die Parabel vom hochzeitlichen Kleide. Matth. 22, 


1—14., in Verbindung mit Matth. 21, 33—46. . 
Thema: Ueber den Beruf zum Chriſtenthum. &. 203 


Sechszehnte Rede. Erſte Rede am ein und zwanzigſten Sonn⸗ 


tage nach dem Feſte ber h. Dreifaltigkeit. 
Text: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder fit, fo glaus 
bet ihr nicht. Joh. A, 48. 
Thema; Ueber hart fcheinende Worte unfereg Herrn. S. 220 


Siebenzehnte Rebe. Zweite Rebe am da und. serien 


Sonntage nach dem geſte der b Dreifaltigkeit. 


x ' f 
Fert: Wem the nicht Zeichen und Wunder fehet, fo glaubet 
ihr nicht, Joh. A, 48. | . 
Themas Weber ben Werth unferer Religion. Seite 234 
4 chtzehnte Rede. Erſte Rede am zwei und gwanglaften Sonns 
- sage nad) dem Feſte ber h. Dreifaltigkeit. 
Zert: Die Parabel vom Könige, ber rechnen wollte, Matth, 
18, 335. 
Thema: Mer feinen Bruder nicht vergibt, dem wird Gott 
ch nicht ven ee 246 
Meunzehnte Rede, Zweite Rebe am zwei und zwanzigſten Sonn⸗ 
tage nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Text: Die Parabel von dem Könige, welcher Rechnung: hal⸗ 
tn wollte. Matth, 18, 23 — 36. 
Thema: Ueber die Pflicht der Verſoͤhnlichkeit, als Fort⸗ 
J ſetzung ber achtzehnten Rede.. S. 263 
Zwanzigſte Rede. Erſte Rede am drei und zwanzigſten Sonn⸗ 
tage nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Text: Das Evangelium vom Zinsgroſchen. Matth. 22, 
15—22%. Mark. 12, 13—17. Luk, 20, 20 - 26. 
Thema: Gebet dem Kaifer, was bes Kaiſers iſt, und ‘Gott, 
was Gottes iſtt. 6S. 278 
Ein und zwanzigſte Rebe. Zweite Rebe. am drei und zwan⸗ 
zigſten Sonntage nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Text: Gebet Gott, was Gottes ift!-Matth. 22, 21. 
Thema: Von der Freiheit. unfers Willens. .„ S. 287 
| Zwei und zwanzigfte Rede. Erſte Rede. am vier unb zwan⸗ 
zigften Sonntage nach dem Feſte ber h. Dreifaltigkeit. 
Text: Die Berufung des Matthaͤus: die Auferweckung dee Toch⸗ 
ter des Jairus. — Matth. 9, 9-26. Mark. %, 14- 22. 
| Mark, 5, 22—43. Luc, 5,,27—39. Luc. 8; 41—56. 
, Thema: Dom Vertrauen auf Jeſum Chriſtum. S. 298 
Drei und zwanzigſte Rede. Zweite Rebe am vier und zwan⸗ 
zigſten Sonntage nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Tert: Jeſus erweckt die Tochter des Jairus. Matth. 9, 18—25. 
Thema: Ermunterung zum Vertrauen. . GS. 315 


— —· — —⸗ 


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Bier und. zwanzigſte Rede, Erſte Hehe am fünf und zwan⸗ 
zigſten Sonntage nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Text: Das Evangelium vom legten Weltgericht. Matth. 
24, 15—35. ' 
Thema: Mie gelebt, fo geſtotben.. Seite 327 
Fünf und zwanzigfte Rede. Zweite Rebe über das Evangelium 
vom legten Weltgerichte nach Luk. 11, 2533. — Fortſetzung 
ber vorhergehenden, 
Thema: Wie deine innere Belchaffenheit im Tode, fo bein 
Gericht.. on. . . S. 339 


Schs und zwanzigſte Rede Am ſechs und zwanzigſten 
Sonntage nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 
Text: Die Parabel vom Senfkorn und Sauerteige in Ver⸗ 

bindung mit den vorhergehenden und nachfolgenden Para⸗ 
bein. Matth. 13. Luk. 8. | 
Thema: Kleiner Anfang, ficherer Zortgang, ſiegreiche Voll⸗ 
endung.. oo. ©. 351 . 

Sieben und zwanzigfte Rebe Am. legten Sonntage nach 
bem Feſte ber h. . Dreifaltigkeit. Im Jahr 1816. 

Zert: Moher nehmen wir Brod, daß biefe zu eſſen haben? 
Koh, 6, 5. 
Thema: Bon ber’ hhriſtuchen Wohlthaͤtigkei. S. 364 


- ‚weite Abtheilung. 


Reben an ben Feſttagen ber Kirche zwifchen dem dreizehn⸗ 
ten und letzten Sonntage nach dem Feſte der heil, Drei⸗ 
faltigkeit. 


Acht und zwanzigſte Rebe Erſte Rede am Feſte der geil, 
Schutzengel. 
Text: Wahrlich! Ich ſage euch: Wenn ihr euch nicht be⸗ 
kehret, und werdet, wie die Kindlein: fo werdet ihr nicht 
in das Reich der Himmel eingehen. Matth. 18, 3. 
Thema: Ueber die Erziehung der Kinder zut Demuth, 
©. 376 - 


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| mn und zIwanz igfte Rede. Zweite Rede am u der h. 


Schugenge 
Zert: Sehet zu, daß ie Keinen diefer Aleinen mißachtet! 
Denn, Ich ſage euch: ihre Engel im Himmel ſchauen 
allezeit das Antlitz Meines Waters, der in den Himmeln 
iſt! Match, 18, 10. 
Theme: Die Sehne der Schrift von den h. Schutzengeln. 
. Seite 389 
Dreißigſte Rede Erſte Rede am Feſte Mariä Geburt. 
Text: Selig! die reines Herzens find, denn ſie werden Gott 
ſchauen. Matth. 5, 8. 
Thema: Ueber die Strafbarkeit der Unkeufchheit. S. 399 
Ein und breißigſte Rede. Zweite Rede am Feſte Mariaͤ 
Geburt. \ | 
Zert: Jakob seugete Joſeph, den Mann Mariä, von wel⸗ 
her geboren ward Jeſus, Der genannt wird Chriſtus. 
Matth. 1, 16. 
Ihe ma: ‚Ganz gewöhnlich das außerliche, ganz ungewoͤhn⸗ 
lich das innerliche Leben Mariaͤ. . ©. 413 
Zwei und dreißigfie Rede Erſte Rede am Jahresfefſte der 
Kirchweihe im Dom, welches zu Münfter am Sonntage nad) dem 
21. September gefeiert wid. | 
Tert: Heut iſt diefem Haufe Heil widerfahren. Luk. 19, 9. 
| Thema: Auch unfer Haus foll eine Kirche ſeyn. ©. 422 
Drei. und dreiß igſte Rede. Zweite Rede am Jahresfeſte der 
Klrchweihe fm Dom, 
Tert: Eiche die: "Wohmeng Gottes bei den alhen Offenb. 
21, 3. 
Thema: Worauf unſere Anhaͤnglichkeit an den Glauben un⸗ 
ſerer Kirche ſi ih gruͤnde.. S. 436 


Dies und dreifigße Rede, Erſte Rebe am Feſte aller Hei— 


Iieen. 
Zert: Lobet ben Herrn in Seinen Heiligen! Pf. 150, 1. 
Abema: Ueber die Verehrung und Anrufans der Heiligen. 
S.. 448 











XIII 


Fuͤnf und dreißigſte Meda. Zweite Rebe am efte aller Hei⸗ 
figen. 
Tert: Die adıt Seligprrifungen, Matth. 5, 3— 10. in Ver⸗ 
bindung mit Zul 6. 
Thema: Heiligkeit ift der Meg zur Seligkeit. S. 460 
Sechs und dreißigſte Rede. Dritte Rebe am Feſte aller Hei⸗ 
ligen. 
Text: Nicht zu rechnen find die Leiden bdiefer Zeit gegen bie 
Herrlichkeit, bie bereinft fol offenbar werben en uns. 
Roͤm. 8, 18. | 
Thema: Ermahmung zur Wachſamkeit.. . ©. 469 
Sieben und dreißigſte Rede. Am Gedaͤchtnißtage aller Seelen. 
Tert: 3. C. tft getödtet worden nach dem Fleiſche, aber aufs 
erftanden nach dem Beifte, in welchem Er auch hingekom⸗ 
mm ift und hat verfündiget den Geiftern, die im Vers 
wahrfam maren. 1. Petr. 3, 18 und 19. Denn dazu 
ift. auch den Todten das Evangelium verfündiget, auf daß 
. fie, von Menfchen zwar gerichtet, nach dem Fleiſche, bei 
Gott aber leben im Geifte. 1: Petri 4, 6. 
Thema: Ueber das Daſeyn eines Reinigungszuftandes in je 
nee Welt, und übes die Wirkfamkeit unferer Fuͤrbitte für 
bie Serien der Abgeflorbenn. .  '. . ©. 478 
Ahr und dreißigſte Rede. Am Feſte Miari& Opferung. 
Text: Selig der Leib, der Dich getragen, und die Brüfte, die 
Du gefogen haft! Luk. 11, 27. 
Thema: Bon Geluͤbdenn. S. 49. 


Dritte Abtheilung. 
. Einige Gelegenheitö- Reden zwilchen dem breizehnten und lets 
ten Sonntage nad) dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


Meun und breißigfie Rebe. Am 17. September, als am 
Sefte des h. Lambertus, gehalten zu Hoetmar. 
Tert: Danket Gott! denn Er iſt gütig; und emig waͤhret 
Seine Huld. Pf. 117, 1. 
Thema: Dank wegen der, geſegneten Erndte. ©. 507 


® 


j 


xIv: 
Vierzigſte Rede. Trauerrede auf den Tod. Pius VIL 

Text; Selig iſt der Menſch, dee die Anfechtung erbuldet, denn, 
nachdem er bewährt. worben, wich er empfangen die Krone 
des Lebens, welche ber. Here verheißen hat benen, Die Ihn 
lieben, Jak. 1, 12. . 00% . ©. 518 

Ein und vierzigfte Rede. Predigt bei der Einweihung der 
nen errichteten Pfarrlicche zu Varlo „im Kreiſe Borken, am 
21.. October 1824, — 

Tert: Heut iſt dieſem Hauſe Hat erfahren. Luk, 19, 9. 

’ ©. 532 

Zwei und vierzigfie Rede Am 11.November, ald am Feſte 

bes h. Martinus, gehalten in ber Pfarrkirche zum b* Martinus 
im Jahre 1811. 

Text: Selig die Todten, welche im Herrn ſterben! Von nun 
an, ſpricht der Geiſt, ſollen ſie ruhen von ihren Be⸗ 
ſchwerden; denn ihre Werbe folgen ihnen nach. Offenb. 
14, 13. 

Thema: Von der Worbeteltung zum Tode.. ©. 551 

Drei und vierzigfte Rede, Am Feſte des heil. Clemens am 

23. November | | | 
— Texrt: Nimm dich ihrer an, bie fammt mir gearbeitet haben 
| für- das Evangelium, nebft Clemens, und meinen uͤbri⸗ 
gen Mitarbeitern, dern Namen im Buche des Lebens 

ſtehen! Philip. 4, 3. 

Thema: Ueber die Liebe, nach dem Sendſchreiben des. h. Cle⸗ 
> mens an die Korinther... . S. 560 





Reden an ben Sonntagen zwiſchen dem 
dreizehnten und letzten Sonntage nach 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 





Erſte Rede, 


Erſte Rede am dreizehnten Sonntage nach dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


= ert: 
Selig die Augen, die fehen, was ihr ſehet!“ euk. 10, 23, 
Spyema: 
Welche Seligkeit noch groͤßer, als jene, fey- 


Selig die Augen, die ſehen, was ihr ſehet!“ Luk. 10, 28. 
In der lebten Zeit Seined Lehramts hatte der Herr 3.& 
die zwoͤlf Apoflel audgefandt, um zu lehren, um Seine Lehre 
zu verfündigen, und hatte ihnen bie Macht gegeben, Kranke zu 
heilen, und Wunder zu wirken. Späterhin batte Er auch 22 
andere Juͤnger, die nicht zu den Apofteln gehörten, zu der name 
lichen Abficht ausgeſandt, und ihnen die nämlihe Macht er- 
theitt, Als diefe num zuruͤckkehrten, und einen frohen Bericht 
abftatteten über den fegenreichen Erfolg ihrer Sendung, hielt 
der Herr an fie eine Furze Anrede, wovon der vorgelefene Text 
de Schluß ifl. Damit wir nun dieſen wichtigen Ausſpruch 
unferd Herrn, einen Ausſpruch, der auf Seine eigene Perfon 
fi) bezieht, defto beffer einfehen, wollen wir⸗zuvor auf Seine 
ganze Anrede an diefe 72 Jünger unfer Nachdenken richten. 
9 Thl. Ste Aufl, 0 1 | 


‚ 3 


I. 

„Es kamen,“ fo erzählt der Evangelift Lukas, „bie Zwei 
und fiebenzig zurüd mit Freude, und ſprachen: Herr! audy die 
Teufel find und: unterwärfig in Deinem Namen.” Die Macht, 
Teufel auszutreiben, hielt man für das größte unter ben Wun⸗ 
bern, weil es von der Macht des Wunderthaͤters über Die Geis 
fierwelt ein Beugniß war. Indem alfo die Jünger nur über 
das größte der Wunder, welches fie in Seinem Namen gewirkt, 
einen frohen Bericht abſtatteten, wollten ſie damit zugleich ſa⸗ 
gen, daß fie auch andere Wunder, die fie für geringer anſahen, 
mit eben fo ſegenreichem Erfolg in Seinem Namen gewirkt 
hätten. 

Als die zwölf Apoflel von ihrer Sendung zurüdgelommen 
Wwaren,-"hatten fie, wie der Evangelift Markus erzählt, dem 
Herrn berichtet von Allem, was ‘fie gethan, und was fie ge⸗ 
Ichrt hatten; Marl. 6, 30. hatten alfo von dem Erfolge ihrer 
Lehre berichtet: auffallend ift e8 daher, daß diefe Zwei und fie- 
benzig nur von dem Erfolge ihrer Wunderkraft fprachen. Soll: 
ten fie dabei nicht ganz frei geweſen feyn, von eitelm Self: 
gefallen? Die Antwort, die der Herr ihnen gab, macht es eis 


nigermaßen wahrſcheinlich. 


Er ſprach zu ihnen: „Ich ſah den Satan wie einen 
Blitz vom Himmel fallen.“ J. E., der Sohn Gottes, von 
Ewigkeit erzeugt, ſah, ehe die Welt erfchaffen war, den Satan 
mit feinem Anhange, der aus Hoffart gegen Gott fi) empört 
Hatte, ploͤtzlich wie einen Blitz vom Himmel 'herabftürzen. So 
war dieſes Wort eine nachdruͤckliche Warnung nicht nur fuͤr die 
Juͤnger, ſondern auch fuͤr und Alle, mit aller Sorgfalt zu wa⸗ 
then über jede Regung einer Neigung, welche vor Gott fo fehr 
ein Graͤuel und Abſcheu iſt, welche den Geiſt fo ſehr verunrei⸗ 
niget, daß fie Engel aus dem Himmel geſtuͤrzt hat. J. €. 
ſah, als Sohn des Menſchen, durch Seine Ankunft in bie Welt, 
vurch Seine Lehren und Verdienſte die Macht des Satans uͤber 
die Menſchen, das Reich des Boͤſen geſtuͤrzt; darum ſprach Er 
kurz vor Seinem Tode: „Seht iſt das Gericht uͤber dieſe Welt; 
jest wird ber Fürft dieſer Welt ausgeſtoßen werben,“ Joh. 


13,831.: Darum fſprach Br in der Nacht vor Seinem Tode: „Der 
Fuͤrſt diefer Welt Hi ſchon gerichtet.” Bob. 16, 11. Waren 
alſo bie Juͤnger auch ganz frei won ditelm Selbſtgefallen; fo 
wellte der Herr ihnen mit: jenen Worten Tagen: „Laßt euch das 
nit befremden, baß ihr durch die Kraft Meines Namens bie 
Herrſchaft habt über dem Weufel; denn ich habe feine Macht 
fhon gebrochen!" :Darum fuhr er fort und fprach: „Siehe, Ich 
habe emch Marht gegeben; zu treten auf Schlangen und Scor⸗ 
pionen, ‚und Aber alle Gewalt des Feindes, und nichts wird 
euch verlegen.” Bwar äft-diefe Verheißung auch buchftäblich 
erfüllet worden, wie wir’d von dem Apoftel Paulus wiſſen, daß 
Der ſchnell tödtende Biß der giftigſten Schlange ihm gar nicht 
Tchadete. Der Herr ſprach ‚hier aber gewiß von den Nachftel: 
Yungen des Teufels und aller Feinde Seiner Lehre, wie es deut: 
ih erhellet aus den Worten: „und: über alle Gewalt des Fein: 
De." "Die Schlange, Die das Gift Int Munde führt, mit ih: 
ren Bifle verlegt, if mac dem Suͤndenfall das Bild des offe- 
men Feinde, der mit dem Munde. fpriht. Der Scorpion, der 
das Gift.nicht im Munde, ſondern im Schwanze trägt, iſt das 
Bild det verborgenen, hinterliſtigen Nachftellungen. Ueber alle, 
ſowohl über die offenen‘, als über die verborgenen Rachſtellun⸗ 
gen hat der Herr Seinen Juͤngern die Macht gegeben, und 
won dieſen auf ihre Nachfolger bis dum Ende der Belt über- 
Prag. «- 
Aeußerſt wichtig und aller‘ Schenzigung werth auch fuͤr 
und iſt das Wort, welches bet Herr jetzt zu feinen Juͤngern 
ſprach; „Doch daruͤber freuet euch nicht, daß die Geiſter euch 
unterwuͤrfig ſind; freuet euch aber, daß enre Namen in den 
Himmoln aufgeſchrieben Andi Mas fol und mehr Freude ma: 
then: die Macht, Wunder zu wirkten, «ober die zuverſichtliche 
Hoffnung zum Himmelk — Wollte: wir aber nicht nieinen, 
daß. ein: Minſch, mit der: Babe: der Wunder ansgeruͤſtet, auch 
von Gott beſonders begnabigt fort Wenn auch ‚ein großer, ſtar⸗ 
Ber :Staube zut Ausuͤbung dieſer Macht erfordert wird‘; ‚St 
cherheit für das ewige Heil gibt aber dieſer Glaube nicht. "Sagt 
nicht der Apoſtol Paulus: MWenn ich haͤtte alle Glaudenskraft, 
1* * 


fo daß Ic) Berge verſetzte, bie Liebe aber nicht haͤtte; "nichts 
- wäre ih?” 1. Cor. 13, 2. Hatte nicht auch Judas, als er 


von dem. Herem mit ben ‚anderen Apofteln ausgefandt wurde, 


diefe Wundermacht empfangen? - und wohl auch. ausgehbt ? 
Spricht nicht ber Here Selbſt in der VBergrebe: „Ed werden 
Viele zu Mir fagen an jenem Zage: Herr!. haben wir nicht 


in Deinem Namen Teufel audgetrieben? in. Deinem Namen 


viele Wunberwerfe gethan? Dann. werde Ich ihnen anfagen: 
Ich habe euch nimmer anerkannt; weichet von Mir, ihr Uebel- 
thaͤter!“ Matth. 7, 22—23. Was alfo bei den Menfchen als 


ein fichered Zeichen: göttlicher Begnabigung angefehen wird; das 


ift ed nicht, fol euch Feine zu große. Freude machen. Das fol 
euch aber die rechte Freude machen, daß Ich euch zu Beinen 
Juͤngern aufgenommen habe, daß Ich euch als Bürger Meines 
Reiches auf Erden gleichfam aufgefchrieben habe; wenn ihr num‘ 
treu beharret in Meiner Lehre, wenn ihr Mir nachfolget; dann 
find eure Namen auch in ben Himmeln aufgefchrieben, dann 
habet ihr bie zuverfichtliche Hoffnung, dereinſt Bürger des Him⸗ 
meld zu werden; und das allein fol euch bie vechte Zreube 
machen. Der. h. Gregorius fogt: „Weil dad Gemüth der Juͤn⸗ 
ger hinſchwebte auf Freude über fich und auf zeitliche Freude; 
fo werben fie zuruͤckgerufen von der Freude über fich zur ges 

meinfchaftlichen, von der zeitlichen zur. ewigen. Denn die J Sure 
ger der Wahrheit follen Feine Freude haben, als über das Gut, 
was fie mit allen Frommen gemeinfchaftlich haben, und wobei 
ihre Freude Fein Ende haben wird.” Und diefe Freude iſt auch 
und bereitet. Mir find nach der Empfahung der h. Taufe in 


das Buch unfter Kirche, als Bürger des Reiches 3. C. auf. 


Erden aufgezeichnet, wir find durch die h. Sakraniente des. Al⸗ 
tard und der Firmung ald Bürger diefes Reiches befiegelt; ver⸗ 
barren wir nun in Seiner Lehre, leben wir aus. und nach dem 
Stauben unferer Kirche, welche. uns in alle Wahrheit leitet, 
den Weg zum Himmel und mit Sicherheit führt; dann haben 
auch wir die zuverfichtliche Hoffnung, daß wir bereinfi zum 
Himmel gelangen werben, daß auch unfere Namen in den Him⸗ 
meln aufgefchrieben find, Gibt uns alſo unfer Gewiſſen das 








— — — — — 


Zeugniß, daß wir nach der Lehre unſers Glaubens zu leben 
eifrigſt bemuͤht ſind, daß wir, wenn wir in Sünde gefallen 
find, unſere Sünden herzlich bereuet, und aufrichtig bekannt 
haben, Diefelben zu meiden flanbhaft entfchloflen find; gibt uns 
alfo ber Glaube das Zeugniß, daß unſere Sünden und verges 
ben, daß wir im Stande der Gnade find; dann foll diefed ver: 
einigte Zeugniß bed Gewiſſens und des Glaubens und mehr 
Freude machen, ald wenn wir die Macht hätten, die größten 
Wunder zu wirken, welche uns Feine Sicherheit fuͤr unſer ewi⸗ 
ges Heil geben wuͤrde. 

„Zu dieſer Stunde,“ faͤhrt nun der Evangeliſt Lukas fort, 
und will hierdurch andeuten, daß der Herr das Folgende zu 
der naͤmlichen Zeit, in unmittelbarer Verbindung mit dem Vor⸗ 
hergehenden geſprochen habe: indem er aber mit den Worten: 
„zu dieſer Stunde,” die Rebe unterbricht, gibt ex auch zugleich 
zu verſtehen, daß der Herr Selbft die Rede durch ein kurzes 
Stillſchweigen unterbrochen habe, Won großen Dingen hatte 
der Herr zu Seinen Süngern gefprochen, hatte ihnen einen Bid - 
in das Reich der Ewigkeit eröffnet, hatte Sich ihnen ald Den⸗ 
jenigen, Der da gekommen fey, Satans Reich zu flürzen, und 
die Menfchen wieder zu Gott zuruͤckzufuͤhren, geoffenbaret. - Und 
darin beruhet ja die ganze Geheimnißlehre des Heils. Und dies 
8 Geheimniß war nur einigen wenigen ungebildeten DMenfchen 

den Unmünbigen gleich fowohl an Kenntniffen, ald an Reinheit 
des Herzens, durch göttliche Offenbarung mitgetheill. So war . 
es dee Rathſchluß bes ewigen Vaters. Durchdrungen von der 
Ziefe dieſes anbetungswuͤrdigen Rathſchluſſes ward Er als 
Menſch in eine hoͤchſt feierliche Stimmung verſetzt. Wenn wir, 
die wir bloß Menfchen find, durch die Betrachtung göttlicher, 
überiwdifcher Dinge. in eine höchft feierliche Stimmung verfeßt 
werden; wie mußte dann ber Gottmenfch J. C., Der ald Gott 
göttliche Dinge und dad Geheimniß des göttlichen Rathfchlufs 
fed ganz bdurchfchauete, von biefer ‚lebendigen Anfchanung in 
Seinem Gemüthe ganz ergriffen werben! In diefer feierlichen 
Gtimmung „frohlodte Er,” wie der Evangelift fagt, „im heili⸗ 
gen Geiſte,“ und fprach: „Ich preife Dich, Water! Herr des 


s 





— 6 — 


Himmels und der Erde; daß De ſolches vor Meilen und Wer 
flandigen verborgen, und ben Kleinen offenbaret haſft. Ia, Va⸗ 
ter: denn: fo war. es wohlgefällig. vor Dir.“ Richt deu wah⸗ 
ren Meilen und Werfländigen war es verborgen, ſondern Den 
jenigen, die fich felbit fie weife und verfländig halten, dem 
ſtolzen Weifen der Welt, die fich felbft ‘genug find‘, Feiner hoͤ⸗ 
beren Weisheit und Hülfe zu bebärfen wähnen. Solchen ſtol⸗ 
zen Weifen der Welt ift noch: jebt, wie damals, bie Lehre des 
Heils ein verfchloffened Geheimnig. Die Kleinen find diejeni⸗ 
gen, die fich ſelbſt für Elein und gering halten, find die Demuͤ⸗ 
‚thigen, die Armen im Geifte, Die allein‘ für bie. Sehne des Heild 
empfaͤnglich find. Wie nachdruͤcklich hat der Here ‚durch diefen _ 
- feierlichen Auöfpruch Seinen. Abſcheu bewiefen an ber flolzen 
Selbſtgenuͤgſamkeit, und Sein Wohlgefallen an dev bemüthigen 
Selbſtgeringſchaͤtzung! So. preifet: der Herr die Gerechtigkeit des 
himmlifchen Vaters gegen diejenigen, bie Er, weil fie von Ihm 
ſich nicht wollen ewleuchten laffen, iheer Finſterniß überläßt: fü 
meifet Er zugleich die Barmherzigkeit des himmliſchen Vaters 
mit welcher Er bie Demuͤthigen erleuchtet. 
Wie der Herr in dieſer Lobpreifung Gottes dem himmli⸗ 
ſchen Vater Zeugniß gegeben hatte; fo gibt Er num auch Zeug⸗ 
niß Sich Selbſt. Damit die Jünger und wir Alle nicht ges 
zinger denken möchten von Ihm, ald von bem Vater; bamit. 
wir gefihert würben vor allem Irrtum über Sein Berhättnig 
zum Vater; fuhr der Herr fort und fprach: „Alles iſt Mir 
übergeben von Deinem Vater; und Niemand weiß, wer ber 
Sohn ift, ald nur der- Vater, und wer der Vater if, als nur 
- der Sohn, und wen ber Sohn es offenbaren will.” Die 
. größte Geheimnißlehre, die Lehre von ber vollkommnen Gleich⸗ 
beit ded Sohnes mit dem Water, die Lehre von der Gottheit 
36. ift in diefen Worten. ganz beftimmt und ausbrüdlich ent⸗ 
halten. „Alles iſt Mir übergeben von Meinem Vater.“ Won 
Ewigkeit ift Ihm Alles übergeben vom Water; Alles iſt ur- 
fprünglich ausgegangen vom Vater; Alles: ift ſchon von Ewig⸗ 
keit auögegangen vom Water auf den Sohn. A Ihm Alles 
vom Water ſchon von Ewigkeit übergeben; fo iſt ber Sohn auch 











— 7 — 


von gleicher Weſenheit, wie der Vater; fo kann auch der Sohn, 
wie der Water, göttliche Dinge offenbaren, und bie Gnade ges 
ben, fie zu faflen. „Niemand weiß, wer der Sohn, wer Ich 
eigentlich fey, ald nur ber Water; und Niemand weiß, wer ber 
Vater fey, ald nur Ich, der Sohn.” Bott erfennen wir Alle; 
aber Sott in Seiner Welenheit erkennt nur den Sohn. 3. ©. 
etennen wir Alle; aber Ihn in Seiner Wefenheit erfennet nur 
ber Vater. Wenn alfo nur der Sohn die Wefenheit bed Va⸗ 
terd, und nur der Vater die Weſenheit ded Sohnes erkennen 
Fannz ſo iſt die Weſenheit des Sohnes eben ſowohl als die des 
Vaters, eine goͤttliche, ſo iſt die Weſenheit Beider Eine und 
Dieſelbe: denn das Goͤttliche kann nur vom Goͤttlichen, Gott 
kann nur erkannt werden von Gott, von Sich Selbſt: wenn 
alſo der Sohn den Vater kennt; fo iſt Er mit Ihm von der⸗ 
felben Wefenheit. — Der Herr fegt noch hinzu: „Und wen 
es der Sohn will offenbaren.” Der Sohn kann alfo auf gleiche 
MWeife wie ber. Water, göttliche Offenbarung mittheilen, iſt alfo 
an Erkenntniß und an. Macht dem Water vollkommen gleich. 
Das iſt «8 alfo, was den Weiſen der Welt verborgen iſt 
und bleibt, daß 3. ©. Gott und Menſch if, dag Ihm vom 
Bater Miles übergeben iſtz daß I. C. gekommen ift als Lehrer 
und Verkuͤndiger göttlicher Geheimniffe, die ohne Seine Offen- 
baxung Fein Menſch erkennen konnte, daß Er gekommen ifl, 
dem Weiche des Satans ein Enbe, und die Menfcheg gut und 
felig zu machen. 3: €. frohlockte im h. Geiſte, als Er diefe 
Offenbarung Seinen Juͤngern mittheilte: denn dieſe Lehre, daß 
der Sohn Gottes, Selhſt Sort, im Flejſche erſchienen iſt, ups 
Suͤnder ſelig zu machen, iß die Grundlehre unſers Heils. 

Das iſt die Anrede die der Herr an Seine von ihrer 
Senbung zuruͤckkehrenden Singer ‚hielt. Da ihre Freude über 
die Ausübung ihrer Wunderkraft von einem . leiten Anfluge ei⸗ 
telen Selfigefallens nicht ganz frei feyn. mochte; fo erinnert Er 
fe, daß fie diefe Macht yon Ihm empfangen hätten; und ſpricht 
als ‚Einer, Der nur erzählt, was Er Selbſt gefehen und. gehört 
bat, von dem Reiche der Geifter und ber Ewigkeit. Dann, ride 
tet Er dee Aufmerkſamkeit auf eine andere Gabe von maleid 


— 8 — 


hoͤherem Werthe, als jene des Wunderkraft, auf die Gnade, zu 
Seinem Reiche, zu Seiner Nachfolge berufen zu feyn, welche 
Ihnen die zuverfichtlichfte Hoffnung zum Himmel gebe. In ih⸗ 
nen, den Erftlingen Seined Reiches, erblidt Er zugleich alle 
- Ihre wahren Nachfolger bis zum Ende der Welt, erblidt Er 
auch Alle von uns, die Seine wahren Nachfolger fen würs 
ben, ſchauet in Einem Blicke die Fülle der Seligkeit, welde 
durch die Erfüllung des göttlichen Rathſchluſſes dem Menfchens 
geſchlechte zu Theil werden follte. Dann ergießt Sih Sein 
von Liebe überwallendes Herz in ‘die. feierlichfte Sobpreifung 
Gottes, und offenbart göttliche Geheimniffe. | 
Als J. ©, jene letzten Worte fprach, hatte Er Seinen 
Blick zum Bater im Himmel gewendet; jetzt wendet Er Sei⸗ 
nen Blick auf die Jünger, — wer vermag ed mitzufühlen: 
‚mit welcher Innigkeit und Liebe? — und fprach — wer vers 
mag es mitzufühlen: mit welcher Herzlichkeit? — die rührens 
ben Worte: „Selig die Augen, die da fehen, was ihr fehet! 
Denn Ich fage euch: viele Propheten und Könige wollten fes 
ben, was ihr fehetz und haben’s nicht geſehen; und hören, 
was ihr hoͤret, und haben's nicht gehört.” Wei. einer anderen 
Gelegenheit hatte Er auch eben fo zu den Apofleln gefprochen:: 
„Selig find eure Augen, daß fie fehen, und eure Ohren, Daß 
fie hören,” Matth. 13, 16. Bloß das Sehen mit den Augen 
bed Leibed wollte der Here mit biefen Worten nicht andeuten, 
. denn alle Uebrigen, bie nicht Jünger waren, auch Seine Feinde 
fahen ja mit den Augen ihres Leibes. Bloß dad Sehen im 
Geiſte wollte ber Herr ebenfalls nicht andeuten, benn jene Pro- 
pheten und Könige, 3. B. David, Ezechlad, vor welchen aber 
. bee Here den Juͤngern ben Vorzug gab, fahen ja im Geiſte 
den Tag ded Heren, erlebten thn aber nicht, fahen im Geifte 
Chrifti Herrlichkeit; fahen aber nicht mit ihren Augen die Werte 
Seiner Herrlichkeit. Sowohl das Yeibliche, als das geiflige 
Sehen und Hören wollte der Herr alfo mit jenen Worten an⸗ 
deuten, wollte bamit fagen: „Selig diejenigen, welche Meine 
"Werke, welche dad, was ihr fehet, mit ihren Augen fehen; 
Meine Worte mit ihren Ohren hören, es aber auch in ihrem 


y _ 





— 9 — 


Herzen auffaſſen und bewahren, und damit Früchte bringen int 
Stauben, in des Hoffnung und Liebe! Selig alfo, die Meine 
Perfon und Meine Werke fchen! Selig, die fo, wie ihr, mit 
Mir in fo naher und inniger Verbindung flehen; felig ſeyd ihr, 
die ihr als Meine Juͤnger zu Meiner Nachfolge berufen feyb! 
Solche Antriebe zu einem reinen, heiligen Leben, zu einem Le⸗ 
ben, was mit Sicherheit zum Himmel führt, hatten jene Pros 
pheten und Könige nicht, als ihr fie habet, da ihr Meine Lehre 
täglich hoͤret, und dem göttlichen Ratbichluß in Seiner Vollen⸗ 
dung noch fehen werdet. So hat denn der Herr mit biefen 
nämlichen Worten auch uns felig gepriefen, da wir zwar nicht 
mit den. Augen unferes Leibes, aber mit den Augen unferes 
Geiſtes, im Glauben fehen und hören, wad bie Heiligen des 
alten Bundes zu fehen und zu hören verlangt, aber nicht ges 
fehen und gehört, was die Jünger gefehen und gehört haben. 


Il. 

„Selig die Augen, die fehen, was ihr fehet!” So fpricht 
Derjenige, Der es wußte, wad Er Seinen Züngern fihon war, 
und noch feyn würde; Der, weil Er des Menfchen Herz ges 
bildet, die Seligkeit Tannte, die Er ihnen fchon gegeben hatte, 
unb noch geben würde. Was viele Popheten und Könige gleiche 
ſam beim Anbruche der Morgenröthe nur in der Dämmerung 
geſehen, und im vollen Lichte zu fehen fo fehnlich verlangt hats 
ten; das fahen fie jebt im vollen Sonnenlichte. O «8 waren 
fehöne Tage, die Tage bed Menfchenfohnes auf Erden; Tage 
himmliſcher Wonne und Geligkeit für Jene, die Seine vers 
trauteften Umgangs gewürdigt wurben; age, von denen Jos 
hannes der Käufer, der Ihm doch nicht fo nahe war, fpricht : 
‚Der Freund des Bräutigamd, der da ſteht, unt auf Ihn hoͤ⸗ 
xet, freuet fich herzlich der Rede des Braͤutigams; diefe Freude 
iſt mir vollkommen zu Theile geworben.” Wer vermag fie zu 
faflen die Seligkeit der Jünger, Ihn Selbft, den Abglanz ber 
Sottheit, von Angefiht zu Angeficht zu fehen, Seine Worte, 
Die und, obichon wir fie nicht aus Seinem Munde vernehmen, 
ſo fſehr entzuͤcken, begleitet bon Seinem lebendigen Vortrage, zu 





. 
⁊ 20 
\ 


hören; Sein Weifpiel, Seine Werke, als Yugenzeugen zu fe 
ben! Seine Serrlichkeit zu fehen, „eine Herrlichkeit, als bes 
Eingebornen vom Water, voll Gnade und Wahrheit!" Wer vers 
mag fie zu faffen die Seligkeit der. Liebe, die Er ihnen gege⸗ 
ben hatte! wie mußten fie Den lieben, in Dem fie nur bie 
Liebe erblidten, Der ihnen taͤglich neue Beweile Seiner Liebe 
gab, Deſſen täglicher Umgang, Deſſen ganzes Weſen Liebe war. 
D Johannes! wie warft du fo felig in biefer Liebe, ald du mit 
der Vertraulichfeit eines guten Kindes bein Haupt auf Seine 
Bruſt legteſt, und von den Armen Seiner Liebe dich umſchloſ⸗ 

fen fühlteft, — und aus dem Innerſten Seines Herzend mis 
himmliſcher Weisheit, bimmlifchen Freuden, und bimmlifcher 
Seligkeit erfüllt wurbefi! In dieſer Liebe waren fie Alle felig. 
Diefe Liebe konnte ihnen felbft Sein Tod nicht vauben: ihr 
Glaube, ihre Hoffnung wurde bei Seinem Tode erſchuͤttert, ihre 
Liebe aber nicht, ihre Liebe hielt fie aufrecht im Glauben. Ins 


dem wir alfo dieſer Seligkeit der Juͤnger und erinneren,, ſtim⸗ 


men wir ein in den Ausruf unferd Heilandes: „Selig die Au- 
gen, die geſehen haben, was ihr gefchen habet!“ die ihr bem 
Aag des Herrn, den Herrn im Fleiſche gefehen habet! 


Aber m. w. Zuhörer! iſt nicht auch und eine gleiche, eine . 


noch größere Seligkeit verheißen? Das. ift fie: und zwar in 
mehreren Verheißungen. Erinneren wir uns 1) an die Ant⸗ 
wort, die ber ‚Here jener Frau gab, die entzuͤckt über Stine 
Reden und Thaten Seine Mutter felig pried! Was ſprach Gr 
zu ihr? „Selig, die das Wort Gottes hören, und ed im Her⸗ 

een bewahren!” Luk. 11: Daß Seine Mutter dad Wort Got⸗ 
tes immer mit ber größten Treue im Herzen bewahrte; dieſes 
Zeugniß gibt ihre der Evangeliſt. „Nicht deßwegen,“ wollte 
alſo 3. €. fagen, if Meine Mutter felig, weil fie Mich unter 
ihrem Herzen getragen, und au ihrer Bruſt geſaͤugt hat; ſon⸗ 
dern allein defwegen, weil fie dad Wort Gottes fo treu be= 
wahrt hat; und biefe Seligkeit kann Jedermann zu Theil wer⸗ 
den. Es mußte ſich fuͤgen, daß gleich nachher, als der Heiland 
noch im Reden und Lehren begriffen war, Seine Mutter ſelbſt 





mit eigenen Verwandten ded Wegs vorbei Fam, und Ihn zu 
forehen wünfchte. Um num dab Mork, dad Er fo eben geſyr⸗⸗ 
en, mit der That felbft zu befnäftigen, ſprach Car „Ber iſt 
Mine Mutter? und wer find Meine Bröbet“ Und indem 
Er Beine Hand über Seine Juͤnger ausſtrckte, ſprach Er: 
„Gehet hier Beine Mutten und Meine Brüder! Denn wer 
ben Willen Meines hinunliſchen Waters thut, der ift Mir Bru⸗ 
der und Schwefter und Mutter.” Matth. 12, 48 — 60. Diefe 
große Verheißung iſt für und Alle, diefe Seligkeit ik und Al⸗ 
ien verheißen, eime Seligfeit, die daraus entfpringt, daß veir 
das Wort Gottes mit Aufmerkſamkeit hören, mit Sorgfalt bes 
wahren, und ben Willen haben, es treu zu. befolgen, und es 
wirklich befolgen. Dad: Hören allein macht noch nice fellg. 
Hoͤren, und nicht bewahren, und, nicht befolgen, if noch fhlint= - 
mer, als gar nicht hoͤren. Wenn dad Wort auf einen Stein, 
ober unter Domen fällt; fo bringt es feine Frucht. Dias 
Wort muß mit. Sorgfalt, muß fo bewahrt werden, daß es 
Frucht bringen. kann. Es fcheint, daß Iene es einigermaßen fo 
bewahren, bie es auf ſich anwenden, und einen- guten Vorſatz 
darnach machen. Wenn ed aber bei den bloßen Worſaͤtzen 
bleibt, wenn ber Vorſatz nicht zur Ausführung kommts; fo 
ſche i nen ſolche nur bad Wort Gottes zu bewahren, fie bewah⸗ 
von es aber in der That nicht, kommen daher auch zu der Ser 
ligkoͤt nicht, Die dad Wort Gotted gewähren foll.. Ste gehoͤ⸗ 
sen vielmehr zu denen, von denen I. C. fagt: „Nicht Alte, die 
zu Die fagen: Herr! Herr! werben eingehen in dad Himmel: 
reichz; fondern nur Jene, die den Millen Meines bimmilifchen 
Vaters thun, werben in das Himmelreich eingeben.” Matt. T. 
Das Hören alfo, und das Bewahren, und das Thun; das if 
die Hauptſache; dieſes zuſammengenommen ift es, mas ſelig 
Das hat uns bet Herr feierlich verſichert mit den Wor⸗ 
ten: „Wer Meine Lehre hat, und fie beobadhiet; der wird es 
ſelbſt erfahren, daß fie aus Bott ſey.“ Hören wie alfe das: _ 
Wort Gottes immer aus ber Wbfiht, um es zu ‚befolgen; und 
beftveben wis uns veblich, nach demſelben unſer Leben einzurich- 
ten; - dam find wir Som eben fo nahe und eben fo werth, als 


— 12 — 


Bruder und Schwefter und Mutter. Und wer fo nahe mit 
Ihm verbunden ifl, ber ift feld. 

2) Noch bei einer anderen Belegenheit hat ber Heiland und 
* Allen eine gleiche Seligkeit mit den Juͤngern verhelfen. Was 


ſprach Er nach Seiner Auferftehung zu dem Apoflel Thomas, 


als diefer, ber nicht eher glauben wollte, bis ex geichen hatte, 
den Auferfiandenen vor fich fah, und audrief: „Mein Herr und 
Mein Gott!? Selig,” ſprach Er, „bie da glauben, obfchon 
fie nicht ſehen!“ Nicht wahr, mit diefen Worten find wir 
Alle ganz ausdruͤcklich gemeint? Wir haben Ihn nicht im 
Zleifche gefehenz aber auf das Wort Seiner Apoflel glauben 
wir, daß Er im Zleilhe-auf Erden erfihienen, im Fleiſche von 
den Todten auferflanden, im Zleifche zum Himmel gefahren 

it, im Fleiſche zur Rechten Seines bimmlifchen Vaters fißt, 
und im Sleifche wiederkommen wird, zu richten die Lebendigen 

und. die Zobten. Wir glauben, daß Er, Der in ber Gehalt 
des Fleifches unter und gewandelt, und unfere Knechtsgeſtalt 
angenommen bat, vom Himmel gekommen iſt, um und ben 
. Himmel wieder aufzufchließen; daß Er durch Sein Blut: und 
‚gereiniget, durch Seinen Tod von der Sünde uns erlöfet hatz 
daß Er als ein Opfer für unfere Sünde geftorben if. Und 


diefer Glaube iſt es, der felig macht, eben fo. felig macht, als 


"wenn wir Ihn mit. Augen gefehen hätten. Hätten bie Sünger 
Ihn gefehen, und Diefes nicht geglaubt, fo würde dad bloße 
Sehen fie nicht felig gemacht. haben. Diefee Glaube ift die 
einzige Quelle aller wahren Seligkeit auf Erben. Denn biefer 
Glaube offenbart und den Rathſchluß ber göttlichen Barmher⸗ 
zigkeit und Liebe gegen das Gefchlecht der Menſchen; dieſer 
Glaube ehrt und, wie biefer Rathſchluß durch den Menichens 
und Gottesfohn I. ©. aufs vollkommenſte if erfüllet worden. 
Und diefer Rathfchluß iſt Barmherzigkeit. und Liebe. Barm⸗ 


herzigkeit und Liebe des Waters iſt die Hingebung bed Soh⸗ 


ned. zu Kreuz und Tod für bad Heil der Menfchen; Barmher⸗ 
zigfeit und Liebe ift die Selbflaufopferung des Sohnes zu uns 
feree Errettung. Dee Glaube eröffnet uns alfo. ben Himmel 


der Eiche in dem Vaterherzen Gottes, und eröffnet und zugleich. 











— BB — 


einen unverfiegbaren Quell der Liebe und der Seligleit in un 
ferem eigenen Herzen. Sollten wir Den nicht lieben, Der un 
zuerſt, Der uns ohne unfer. Verdienſt, Der uns. auf folde 
Weite, Der und bis in den Tod geliebt hatt Wo bie Liebe 
iſt, da iſt Seligkelt: die Liebe allein macht ſelig. Diefe Liebe 
entſpringt aber aud dem Glauben: dena der Glaube lehrt uns 
den Water, und Den Er gefandt bat, «ts die Liebe kennen. 
„So hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingebornen 
Sohn. für fie dahin gab, damit ein Jeder, der an Ihn glaubt, 
nicht verloren gebe, fondern das ewige Leben habe.” Joh. &, 
Das iſt der ganze Inhalt unſerer Glaubenslehre; und dieſe 
Lehre ift die Lehre von ber Biebe Gottes. Darum iſt auch nur 
der Gläubige, nur der wahre Chriſt, wahrer, reiner und dauer⸗ 
bafter Freude hier auf Erden fähig. Er wandelt unter dem 
Schupe der Waterliebe Gottes: dad iſt fein Troſt, feine Ruhe, 
feine Freude. Gott ik mein Bat, 3. ©, der Sohn Got⸗ 
tes, ift mein Bruder, mein Exlöfer, mein Seligmacher, ber 
Himmel ift mein Vaterland: das iſt fuͤr ihn ein nie verfiggen- 
der Quell der reinften Freude und Seligkeit auch mitten unter 
den ſchwerſten Bebrängniffen dieſes Lebens. Der Ungläubige 
aber, der nur von Sinnenfreuden weiß, lernt ihre Vergaͤng⸗ 
lichkeit. und ihren Stachel und ihre Nachwehen bald genug Durch 
gene Erfahrung kennen, und. vergebens "für ihn die Mühe, 
dieſelbe durch beftändigen Wechſel zu erneuern: dad Auge wird 
nicht gefättiget dur) Sehen, dad Ohr nicht buch Hören; bie 
Sinnlichkeit wird: immer unbänbiger in ihren Zorberungen und 
Anmaßungen, je mehr fie befrichiget wird. Die Gegenwart 
gibt ihm. keinen Troſt, bie Zukunft keine Hoffnung. Der 
Glaube fuͤhrt zur Liebe, und die Liebe allein macht ſelig. Mit 
vollem Herzen wollen wir daher einſtimmen in dad Wort uns 
ſers Sellandes: „Selig, die glauben, obſchon fie nicht ſehen!“ 
Aber m. w. 3.1 3. €. bat auch gefagt, daß der einzige 
Weg, der zur Seligkeit führe, ſowohl zur Seligkeit des Hims 
mels, als zur Seligkeit bed Glaubens, fchon hier auf Erben 
der Weg des Kreuzes fey, das heißt: ber Weg bes Gehorſams 
in treuer Befolgung ber göttlichen Gebote, alſo ber Weg des 


-U- 


veſtoͤndigen, taͤglichen Kampfes gegen uns ſelbſt, gegen unſere 
unordentlichen Begierden und Leidenſchaften, ber Weg der Ge 
duld, ber bereitwilligen Unterwerfung unter Gottes Fuͤgungen. 
Der Evangeliſt Matthäus fuͤhrt uns? auch die Worte an, weiche 
wir vorhin ſchon betrachtet haben, bie Worte: „Ich preiſe Dich, 
Water, Herr ded Himmels und der Erde! daß Du folched den 
Weiſen und Berfländigen verborgen, und eoffenbaret haft ben 
Kleinen.’ Vielleicht hat der Herr biefe Worte bei der naͤm⸗ 
Jichen Gelegenheit, als die Zwei und fiebenzig zuruͤckkehrten, zu 
dieſen naͤmlichen Juͤngern gefprochen. Damm fett der Ser, 
nachdem Er geſprochen hat: ‚Alles iſt Mir Üibergeben von Mei- 
nem Water,” noch hinzu: „Kommt Her zu Mir, Alle, die ihr 
wühfelig und beladen feyd; Ich will euch erquicden! Mehmet 
auf euch Mein Joch, und lernet von Mir, Ich bin fanftmittbig 
und demuͤthigen Herzens; und ihr werdet Ruhe finden für euere 
See. Denn Mein Joch it fanft, und Meine Buͤrde iſt leicht.“ 
Maith. 11,.28-—80. Sehet, weichen Gebrauch der Herr da⸗ 
von macht, Haß Ihm alle Dinge find. übergeben worden vom 
Water! Die Muͤhſeligen und. Beladenen, weldye mit Schmerz, 
AIhr tiefes: Elend der verderbten Natur im. Leibe der Sünde 
und des Wodesimit Ach umbertragen, Jadet Er zu Sich. ein, 
um fie zu erquicken. Ungeachtet ber großen Gaben, welche bie 
Suͤnger empfangen hatten, waren ſie der Gefahr, zu fünbigen, 
noch immer -Preis gegeben, "waren und blieben fie. nad) muͤhſe⸗ 


Kg und beladen. Weihe Wartung: für uns, unſere Gebrech⸗ 


Lichkeit; unſere Schwachheit, unfere Neigung und Weufahr, zu 
Mndigen, ſtets Im-Tebendigen Andenken :zu erhalten. Der Herr 
Jehrt aber zugleich, wie wir vor diefer Gefahr uns ſchuͤtzen 
Golfen, und · ermunkert uns durch Gem Beiſpiel, durch dad Bei⸗ 
piel: Seiner / Sanftmuth und Demuth. Ex, Dem Altes über⸗ 

geben iſt, iſt vvn Herzen demithig. Demuth jſt She! Grund⸗ 
Wge:Aller Tugend: ws. Demuth, da auch Sanftmuth: wo feine 
Dunftmuth, da: auch keine Demuth: wo Demuth und Sanfte 
Muth, da iſt ber Pelle Grund aller Tugend; ud avo Rugend, 
ba Ül- auch Ruhe der! Seele. Das iſt das Boch, welches der 
Herrlelcht, Bas Ei bie Würde, ‚weiche Ey fanft: nennate 


- 1 — 


leicht und -fanft durch bie Liebe. Darum fagt der h. Johan⸗ 
ned: „Das iſt die Liebe. Gottes, daß wir Seine Gebote halten; 
und Seine Gebote find nicht ſchmer: denn Alles, was aus 
Gott geboren ifl, überwindet die Welt.” 1. Joh. 5, 3. Wollen 
wir alfo theilhaftig werben ber Seligleit der Liebe, wozu der 
Gaube führt; fo müffen wir bie Liebe durch die That bewei⸗ 
fen, das heißt: durch, thätigen Gehorſam gegen Gottes Gebote, 
und durch bereitwillige Unterwerfung unter Gottes Willen. 
Richt - im flüchtigen Spiele füßer Gefühle beſteht die Liebe; 
fondern im treuen Gehorſam. Darum fprah J. ©: Bleibet 
in Meiner: Liche! Wenn ihr Meine Gebote haltet, fo bleibet 
ihe in Meiner Liche;:fo wie auch Ich die Gebote Meines Was 
ters gehalten habe, umd bieibe in Seiner Liebe.” Bob. 15, 10. 
Bift du alfo z. B. mit deinem Nächften in Uneinigkeit gera- 
then, glaubft du von ihm dich werachtet und beleidiget; fo achte 
nicht auf Fleiſch und Blut, achte nicht auf die Stimme beiner 
Leidenfchaft, ſondern auf die Stimme deined Herrn; ſprich zu 
Ihm: „Du wilft: ich fol vergeben; weil. Du: es will, fo 
will ich. vergeben von ganzem Kerzen, damit auch. Du meine 
Sünden mir vergebeſt!“ Dann glaube feſt, daß der Herr. zu 
dir Spricht: „Ran bi Du Mir wie. Bruder, Schwefler and 
Mutter, :weil du den Willen Meines Vaters gethan haft!“ 
und ber innere Friede, der dir zu Theil wird, wird bir zum 
Zeugniß feyn, daß der Herr jetzt fo ‚gegen dich gefinnet iſt. 
Wenn Verſuchungen des Fleiſches dich überfallen, und du, ein⸗ 
gedenk der Gegenwert. des Kern, zu dir ſelbſt ſprichſt: „Bie 
koͤnnte ich das han, und in den Augen Gottes ſuͤndigen ?“ — 
und der Verſuchung ſtandhaft widerſtehſt; fo wird ber Herr dir 
gewiß Seinen Frieden geben. Es bleibt alſo dabei: das Thun, 
das Thun allein iſt die: Hauptſache. Nicht glaͤnzende Worte, 
nicht ſuͤße Empfindungen, nicht ſchmachtende Seufzer, ſondern 
Werke muͤſſen unſeren Glauben, unſeren Gehorſam, unſere Liebe 
beweiſen. Wenn wir alfa. forgfältig über uns ſelbſt wachen, 
um Alles, was Seiriem heiligen Wilſen zuwiber if, zu mei- 
Den; wenn .wir mit entſchloſſenem Muth und ſiandhafter Be 
barrlichkeit Kämpfen gegen die Verfuchungen bed Fleiſches, des 


Zorns, der Höffart, de Eigennutzes; wenn wir um Seinet⸗ 
willen die größten und fchmerzlichflen Opfer nicht fcheuen; ohne 
Aufſchub uns ‚Toßreißen von einem Umgange, ber für unfere 
Reinigkeit oder für unferen Glauben gefährlich iſt; und ed da⸗ 
durch an den Tag legen, baß kein Menſch auf Erden uns fo 
werth iſt, als unſer Herr und unſer Gott; um Seineiwillen 
bereit find, die ſchwerſten Beleidigungen won ‘Herzen zu verge⸗ 
ben; dann beharren wir in Seiner Liebe, dann werben wir 
von Ihm geliebt, dann werben wir bie Seligkeit Seiner Liebe 
erfohren. Wenn wir Menfchen und gebrungen fühlen, Senen, 


die um unfertwillen große und fchmerzliche Opfer bringen, uns - 


fer ganzes Herz zuguwenden; follte dann nicht Er, die Liebe 
felbſt, dom Liebenden Sein ganzes Herz zuwenden? Vertrauen, 
dankbarer Gehorfam gegen Ihn, unentwegliche Treue im Thun 
nad Seinem Willen, dad ift der Weg zum Vaterherzen Got⸗ 
tes. Unendlich dankbar, weil unendlich. liebreih, ift Gott für 
unfere geringe Treue Wenn wir im..täglichen Umgange nur. 
auf Seinen h. Willen achten, wenn wir in bes Pflichten un- 
ſers Standes und Berufs Seinen h. Willen anerlenuen, und 
deshalb dieſelbe mit der gewiſſenhafteſten Irene erfüllen: dann 
find wir Ihm wie Bruder und Schwefler und Mutter, Ihm 
eben fo nahe und eben fo wert. Wenn wir in ben ſchweren 


Werhängniffen dieſes Lebens die Prüfung Seiner Weitheit und 


Liebe erkennen, und die. Hand kuͤſſen, die und fchlägt; und mit 


Vertrauen zu Ihm fprechen: „Ich danke Dir, Water! daß Du 


mich züchtigefl und demuͤthigeſtz fo werben wir erfahren, daß 
dieſe Prüfung un zum Helle war, und in den größten Leiden 
vn größten Troſt finden. | 
Denn Er it und fo nähe, Der und biefen. Frieben, ber 

alle Vernunft: überfleigt, verheißen bat. Er ift nabe einem Je⸗ 
Yen, der auf Ihn vertraue, an Sem Wort ſich hält, und 
Seinen Willen zu thun redlich bemuͤhet if. Wir haben Seine 
Verheißung: „Selig, die glauben, obfchon fie nicht ſehen!“ 
Mir haben aber: auch die andere Werheißung: „Selig bie Aus 
gen, die Ihm. fehen!” Wir werben Sn bereinft ſehen ‚wie 
Er if. Amen.  - un 














m 


-n- 


Zweite Rede 


weite Rede am breisehnten Sonntage nach dem 


Fefte der h. Dreifaltigkeit. 


Tert: 
Die Parabel von dem barmherzigen Samariter. Luk. 
10, 25— 37. 
Shbema: 


Don der Liebe des Naͤchſten. 


Unſer Her J. C. hatte an. die 72 Jünger, die von ihrer Sen⸗ 
dung zuruͤckgekehrt waren, eine Anrede gehalten, in welcher Er 
auf-die Lehre der h. Schrift Sich berufen hatte Da fland ein 
Schriftgelebster dabei, einer von jenen füch weile duͤnkenden 


Weifen und Verkändigen der Welt, benen nach dem Ausſpru⸗ 


he des Heren die Lehre des Heils verborgen fey; und wollte 
Ihn auf die Probe ftellen, ob Er auch wirklich eine fo gründ- 
lihe Kenntniß der h. Schrift befiße, und legte Ihm daher eine 
tage vor, welche man ohne bie tieffte Einfiht i in Die ganze 
ritiehre nicht beantworten konnte. 


oo l. . 
„Und ſiehe! ein Geſetzlehrer kam her, verſuchte Ihn, und 


ſptrach: Meiſter! was muß ich thun, um das ewige Leben zu 


ererben?“ Mir koͤnnen uns vorſtellen, wie dieſer Mann, der 
nur fragte, um zu verſuchen, auf dieſe vorher ausgedachte Frage 
fi fo viel einbildete, mit welchem ſelbſtgefaͤlligen Duͤnkel er 
die Frage vorlegte, ſich voraus ſchon freuete auf die Verlegen⸗ 
beit, in welche dieſe Frage den Herrn feßen wuͤrde. Bei einer 
andern Gelegenheit wurde dieſe naͤmliche Frage dem’ Hesen von 
einem veichen Juͤnglinge vorgelegt, welcher aber,: nicht um zu 


verſuchen, fondern aus guter Abſicht fragte: „Was fol ich Gu⸗ 


6 thun, auf. daß ich dad ewige Leben habe?“ Der Herr. gab 
mE. auc. 2 


nn 


— 1 — 


ihm bie Antwort: „Halte bie Gebotes” nannte ihm dann einige 
der zehn Gebote, und fagte zuletzt: „Liebe deinen Nächften, als 
dich felbft!” Der. Iernbegierige Juͤngling verlangte Unterricht, 
darum gab ber Herr “ihm Unterricht. Der Schrift und Ge- 
ſetzlehrer verlangte keinen Unterricht, und: mußte felbft willen, 
worauf ed, um dad ewige Leben zu erlangen, einzig und allein 
anfäme. Darum antwortete ihm der Herr mit ber Frage: 
„Bas fteht im Geſetze gefchrieben? wie liefeft ou?” Im Ge: 
feße fand wohl Vielerlei gefchriebenz der Schriftlehrer verftand 
es aber recht gut, daß der Herr mit jener Frage nicht wiſſen 
wollte, was Alles im Geſetze geſchrieben ſey, ſondern welches 
das Haupt⸗ und Grundgebot des ganzen Geſetzes, welches je⸗ 
nes Gebot ſey, auf deſſen Befolgung allein das ewige Leben 
uns verheißen ſey. Die Schriftgelehrten pflegten das große Ge⸗ 
bot von der Liebe Gottes und des Naͤchſten, mit großen Buch⸗ 
ſtaben auf einem Stuͤck Leinwand gewirkt, an ihren Kleidern, 
etwa, um es immer vor Augen zu haben, am Aermel zu tra⸗ 
gen. Deßwegen war dieſer Schriftgelehrte auf die Frage: „Wie 
lieſeſt du?“ mit der Antwort ſogleich fertig, mit der ganz rich⸗ 
tigen Antwort, indem er zwei Gebote nannte, wovon dad eine 
im fünften, 5. Mof. 6, 5., daB andere im dritten Buche Mo: 
ſes, 3. Mof. 19, 18. fleht, welche beide zufammen genommen, 
nur Ein Gebot, und zwar, wie 3. C. den Audfpruch gethan 
hat, das Hauptgebot und den Inhalt des ganzen Geſetzes aus⸗ 
machen. „Du folft,” antwortete der Schriftgelehrte, „Gott, 
deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, 
aus allen Kräften, und von ganzem Gemüthe, und beinen 
Nächten, wie dich felbfl.” Das erfte diefer beiden Gebote ſchaͤrft 
Mofes, indem er es ald das Grundgebot erklärt, mit dem 
"größten Nachorude ein, als bad Gebot, von deſſen Beobach⸗ 


tung bie Erfüllung aller Gebote abhangen würde. Das mußte 


der Schriftgelehrte alſo wiſſen. Bon dem zweiten, bem Ge 
bote der Naͤchſtenliebe, fpricht Moſes nur gelegentlich, mit An- 
wendung auf beſondere Fälle, nennt e8 aber auch ausdruͤcklich 
im dritten Buche. Der Schriftgelehrte verrieth alfo, indem er 
bieje beiden Gebote fo gut zu vereinigen wußte, eine nicht ge⸗ 


— 9 — 
ringe Einficht in dad Geſetz, handelte aber nicht nach feiner 
Einſicht, nicht nach ber Liebe, welche dad Geſttz vorichrieb; 
fonft würde er den Herm nicht verfucht haben. Er mußte füh 
alfo befchämt und getroffen fühlen durch die Antwort, die der 
Herr ihm gab: „Du haft recht geantwortet; thue das, und du 
wirft das ewige Leben haben!" 

Der Schriftgelehrte hatte auf feine Frage, ald auf eine 
fhwere Frage, ein großes Gewicht gelegt; da er nun fo Burz 
abgefertiget wurde, fchämte er fich wegen ber Anmefenden, 
ſuchte fich zu rechtfertigen, und um zu zeigen, baß feine Frage 
doch fo Heicht nicht fey, daß er mit der Furzen Abfertigung fich 
nicht befriedigen könne; that er eine neue Frage, und ſprach: 
„Wer ift denn mein Naͤchſter?“ — Uns Chriften kommt diefe 
Stage freilich ald dumm und einfältig vor, weil wir aus ber 
Lehre unferd Heilandes wiflen, daß dad Gebet der Naͤchſtenliebe 
ein ganz allgemeines fey, auf alle Menfchen ohne Unterfchieb 
fih erfirede. Auch im Geſetze Moſes wird diefes Gebot im 
mannigfaltigen Anwendungen .ald ein allgemeines erklaͤrt. Zur 
Zeit J. C. hatten aber die phariſaͤiſchen Schriftiehrer tiefem 
Gebote eine ganz verkehrte und befchränkte Auslegung: gegeben. 
Einige fagten, ed erſtrecke fi nur auf den Zreund ober Ver⸗ 
wandten; Anbere fagten, ed erſtrecke ſich höchflens auf ben Re⸗ 


Vgiondgenofienz; fo arg hatte man an dem Geſetze ſich wergrif: 


fen, daß man fich erdreiftet hatte, einem neuen Zuſatz, der gar 
nicht im Geſetze fland, in daflelbe einzufhieben, nämlich: „ben 
Freund ſollſt du lieben, den Feind aber haflenz“ indem man 
die Ausfprüche Gottes gegen die Kananiter, als das Volk Zirael 
diefelbe mit Krieg überziehen follte, auf dad gewöhnliche Ver⸗ 
haͤltniß zwiſchen Menichen und Menfchen ganz irrig anwendete. 
So kam denn bei Schriftgelehrte auf feine Frage, welde naͤm⸗ 
lich bieß: „welden Menden muß ich nad dem Gefsbe- als 
meinen Nächften anfehen ?“ 

Obſchon der Mann. auch mit Diefer Frage ed nicht redlich 


meinte, ‚gab ihm ber ‚Here boch eine Antwort, wie Er fie nur 


dem aufrichtigfien, lernbegierigſten Schüler hätte geben koͤnnen, 
gab ihm eine Antwprt, Die eine Lehre für und Alle, die sine 
| 2* 


— m — 


Grundlehre in Seinem Reiche if. Anſtatt es ihm aber. weite 
laͤufig auseinander zu feßen, wie. das Geſetz zu verftchen fey, 
wie das Geſetz Liebe gegen alle Menfchen ohne Unterfchied er» 
fordere; erzählt Er ihm eine Parabel, aus welcher es deutlich 
verhellet, wie. die wahre Nächftenliebe unter Menfchen keinen Un⸗ 
terſchied mache, und wie fie vorzüglich durch wirkliche That fich 
bewähre, und erzählte dieſe Parabel auf eine ſolche ungemein 
ruͤhrende Art, daß fie auch unfer Mitgefühl rege macht, um 
deſto mehr zu der wahren, thätigen Nächftenliebe zu ermunteren. 
Berfegen wir und alfo im Geifte in den Kreis Seiner Zuhörer, 
und hoͤren wir: biefe Parabel wieder, als wenn wir fie aus 
dem Munde 3. C. Selbft hörten! 

„Sin Menſch ging hinab von Serufalem gen Iericho, und 
fiel unter Räuber; die zogen ihn aus und fehlugen ibn; gingen 
davon, und ließen ihn halbtodt liegen.” Merket wohl, m. 3.! 
ber Herr fagt bloß: „ein Menſch,“ ohne zu beflimmen, ob 
diefer Menſch ein Jude, Samariter oder Heide geweien ſey; 
ed war ein Menfch, und das war genug. Der Weg von Je⸗ 
ruſalem nach der fech8 Stunden weit entfernten Stadt Sericho 
ging neben einem großen Walde vorbei, in weldhem damals 
oft Räuber ſich aufhielten. Dadurch wird dieſe Parabel an- 
ſchaulich und wahrfcheinlih. Der Unglüdliche war nicht nur 
rein ausgepluͤndert, ſondern dabei Außerft mißhandelt, war 
ſchwer verwundet. Da lag er in feinen Wunden am Wege, 
konnte kein Glied rühren, und mußte, wenn ihm nicht Hülfe 
"Fam, den Tod erwarten. Doc die Hülfe fcheint nahe zu ſeyn. 

Ein Priefter kommt daher, kommt von Serufalem, bat 
dort in feiner Woche den Gottesdienſt verwaltet, Opfer ge⸗ 
bracht, iſt noch voll von heiligen Sefinnungen, von Gefühlen 
der Liebe; .der wird ded Unglüdlichen fi) annehmen. Aber 
:feine Doffnung wird vereitelt... Denn ed heißt: „Es begab fich 
aber, daß ein Priefter denfelben Weg hinab zog; und er fah 
— dh, und ging vorüber.” Er fah ihn, fah den Ungluͤcklichen 
in feinem Blute liegen, merkte kaum darauf, hatte wohl an⸗ 
dere Gefchäfte, hatte nach Haufe zu eilen; die That ift fo eben 
vollbracht, die Räuber find vielleicht noch: in der Nähe, — „er 





— 2 — 


ging vorüber.” — Wie ed dem Elenden zu Muthe feyn mußte, 
als er diefe Hoffnung vereitelt fahb. Aber eine neue Hoffnung 
geht ihm auf: ein Levit kommt auch des Weges. Ein Levit, 
ein öffentlicher Lehrer des Geſetzes, der gewiß ſchon oft dab 
Geſetz: „du folft deinen Nächften lieben, als dich ſelbſt,“ in 
der Synagoge auögelegt und eingefchärft hatte, wird doch das 
Gefeß, welches er gelehrt hat, wohl felbft in Ausübung brin⸗ 
gen. Der Unglüdliche fcheint auch in feiner Hoffnung fich nicht 
ganz getäufcht zu haben. „Der Levit Fam,” wie ed in ber 
Grundfprache heißt, „an den Ort, ging hinzu, fah ihn.” Der 
Leit hatte doch mehr Mitleiden, ald der Priefter, er ging doch 
wenigſtens binzu, fah ihn, ſah ihn in ber Nähe, fab fein mat⸗ 
tes Auge, feinen flehenden Blick, — fprechen konnte der Halb: 
todte nicht; aber es heißt woleder: „er ging voruͤber.“ Vielleicht 
mochte der Levit wohl zu den zarten Seelen gehören, die aus 
überzarter Empfindfamleit kein fremdes Elend fehen koͤnnen, 
die aus überzarter Empfindſamkeit gefühllos find, die Eeiner 
Müuͤcke wehe thun Können, über wahres menfchliched Elend aber 
fein Wehe empfinden. Das ift die Empfindſamkeit, ober viel 
mehr Empfindelei, welche vorzügli dad Schaufniel bildet! 
über die anmuthige Darftellung eines erbichteten Elends ſchwim⸗ 
met man in Thränen, die aber noch cher, ehe dad Schaufpiel 
au Ende ift, fchon vertrodnet find: für wirkliches Elend in der 
wirtühen Welt, welches nicht in einer fo anmuthigen Geftalt 
erfheint, bat man weber Thränen, noch Hülfes mit Schaus 
dern wenbet man ſich ab und geht voruͤber, wie jener Levit. 
Vieleicht mochte. den Leviten auch wohl die Furcht vor den 
Käubern überfallen, Die Unficherheit. des Orts kann und aber 
von der Ausübung einer heiligen Pflicht, . die Feinen Aufihub 
leidet, nicht frei forechen, . gibt dem Liebeswerke ein deſto groͤ⸗ 
Bered Verdienſt. 
Die Hand aufs Herz, m. 3.1 würden Viele von und in 
einem ähnlichen Falle wohl beſſer gehandelt haben, old jener 
Priefter und Levit? „Wie kann man mit einem fo verunglüd- 
ten Menfchen auf der Reife ſich wohl abgeben? es würde und 
ja die größte -Unbequemlichfeit machen; und zudem. — man 
. 


fieht es ja, — ber Ort hier iſt fehr unfihers — ich bebaure 
ihn von Herzen; aber nur gefchwind weiter!" Würden nicht 
Biele auf eine ſolche Art fidy zu entichuldigen willen? 
Der Heiland ift aber mit einer folhen Entfchulbigung nicht 
zufrieden; er hat und in biefem Beiſpiele gelehrt, wie viele 
Menſchen, denen ed an der wahren Liebe fehlt, in folhen und 
ähnlichen Fällen zu handeln pflegen, aber nicht handeln follen; 
nun lehrt Er und in einem anderen Beiſpiele, wie der wahre 
Chriſt handeln, gegen feinen. Naͤchſten gefinnt feyn foll. 
Ä Huͤlflos und verlaffen liegt nun der Unglüdliche da; alle 

Huͤlfe ſcheint für ihn verloren, da fie ihm fogar von denjeni⸗ 
gen geweigert wirb, von welden man fie am erften hätte er⸗ 
warten follen. Und wovon man unter den Juben die Hülfe 
am wenigfien ewarten durfte, davon Fam fie jest, von einem 
Samariter. 

„Ein Samarit aber, der da reifete, Fam hin, neben ihn; 
und er fah ihn, und erbarmte fich.” Geſehen hatten die beis 
ben Anderen audy, aber fie hatten gefehen, ohne ſich zu erbar⸗ 
men. Sp -hartherzig werben fie freilich wohl nicht geweſen 
feyn, daß fie nicht einiges Mitleiden Tolkten gefühlt habenz aber 
welchen Werth kann ein flüchtiged Gefühl, ein kalter Wunſch: 
„Sott helfe bir!” wohl haben, wenn nicht bie thätige Hülfe 
binzutommt ? 

Der Samarit glaubte auf an bad Geſetz Mofed, Tannte 
alfo daB Geſetz: „Du ſollſt den Nächten lieben, wie dich ſelbſt!“ 
aber die Propheten, dieſe beften Ausleger bed Geſetzes, die zur 
Befolgung beffelben fo Eräftig ermunteren, nahm er nicht an, 
kannte er nicht; hatte alſo nicht fo viele Kenntniß von ber 
göttlichen Offenbarung, als jener Priefter und Levitz deſto grö- 
Ber fein Verdienſt, weil er bad Wenige, das ihm befannt war, 
mit folcher Treue anwandte und befolgte, und das natürliche 
Geſetz der Liebe, welches feinem Herzen eingefchrieben war, war 
in feinem Herzen nicht durch eine Menge willfürlicher, leerer 
Geremonien und Gebräuche, wie bei den pharifäifchen Prieftern 
und Leviten, unterbrücdt worden. Sehet nun, wie biefer Sa⸗ 
marit Alles thut, was die Liebe nur immer eingeben Tann! 


Zuvor thut er, was die bringendfle Roth zuerft erforderte. Er 
fleigt herab von feinem Laftthier, oͤffnet feinen Reiſevorrath, 
gießt Färkenden Wein und mildernded Del in bie Wunden, und 
verbindet die Wunden. Wein und Del hatte er zu feinem eis 
genen Bedarf auf die Reife mitgenommen; aber er leiftete dar⸗ 
auf Verzicht, weil ber Kranke ed noch mehr bedarf. Mit 
Freuden bemerkt er, daß feine Hülfe nicht fruchtios iſt: der 


‚ Halbtodte fühlt fich erquickt, geſtaͤrkt, erwacht wieder in's Le⸗ 


ben. Wie Mancher hätte es nun bei diefer Hülfleiftung be⸗ 
wenden laffen, zumal an einem fo gefahroollen Orte; hätte zu 
dem Unglüdlichen gefprochen: „dir Tann man nichtd mehr rau- 
ben, bu haft Feine Gefahr; für mich aber iſt es hier zu ge⸗ 
fährlich, ich muß weg eilen, Gott wird dir auch weiter helfen.“ 
So fpricht die Selbflfucht; nicht aber fo die Liebe; was bie 
Liebe thut, thut fie nicht halb. 

Erquidt und geflärft war zwar ber Elende; aber zum Ge⸗ 
hen war er noch ganz unvermoͤgend. Seht nun, wie edel, wie 
auf eigene Bequemlichkeit ſo ganz verzichtend, der liebende 
Samarit ſeiner ſich annimmt! Mit Muͤhe hebt er ihn auf ſein 
eigenes Laſtthier, geht zu Fuße neben her, fuͤhrt ihn in eine 
Herberge, und pflegt feiner, Fuͤhrt ihn in eine Herberge! 
nicht umſonſt fleht diefed Wort in unferem Evangelium. Rei⸗ 
ſende Juden hatten ober fanden an jedem Orte einen Gafl: 
Trend, bei welchem fie, weil fie. Eines Glaubens waren, eine 
Aufnahme fanden. Ungläubige Heiden aber, und irgläubige 
Somariter hatten im Judenlande Feine Gaflfreunde, mußten 
um Bezahlung in eige Herberge einkehren. In eine ſolche Her⸗ 
berge mußte dann der Samarit mit. feinem kranken Pflegling 
einfehren. Wohl wiſſend, bag bezahlte Pflege nicht immer die 
befte ift, daß Pflege aus Liebe. am weiſten wahl thut, blieb er 
den ganzen Tag und bie folgende Nacht bei feinem Kranken, 
und pflegte fein. Schwer möchte wohl derjenige unter und zu 
finden feyn, ‚der es in Ausübung ber Liebe fo weit gebracht 
hätte. Möchte Jemand das Alles auch gethan haben, einen 
Unglüdlichen mit Aufopferung eigener Bequemlichkeit in eine 
fichere Herberge gebracht, dann guch etwas Geld für feine Be⸗ 


wirthung gezahlt. haben; Vieles Hätte er freitich dann ſchon ge⸗ 
than; aber die Liebe ruhet nicht, bis ſie ihr Werk ganz vollen⸗ 


det hat. Wir dürfen dabei nicht unbemerkt laffen, Daß e8 vom 


Priefter und Leviten nur heißt: „fie kamen des Weges,“ was 
auf einen Pleinen Weg von einem Ort zum anderen hindeutet; 
daß e5 dagegen von dem Samariter heißt: „er reilete umher,“ 
“war auf Reifen, gewiß in feinen Gefchäften; konnte alſo am 
wenigſten der Zeit entbehren; und: doch gab er die Reife auf, 
bie er für den Tag ſich beſtimmt hatte, und blieb bei feinem 
Kranken, um ihm Troſt und Erquidung zu feyn. 

Am anderen Morgen hatte er den Kranken gewiß merklich 


wieder hergeſtellt gefunden; ſonſt würde er — Died duͤrfen wir 


von ihm erwarten, — noch laͤnger bei ihm geblieben ſeyn. 
Geſchaͤfte noͤthigten ihn, weiter zu reiſen; er beſchloß aber, 
ſeine Reiſe ſo einzurichten, daß er bald an den naͤmlichen Ort 
wieder zurüdfchren konnte. Daß er dem Wirth für die ſchon 
geleiftete Bewisthung gezahls habe, verfteht fih von’ ſelbſt; denn 
er zahlte ihm noch über dieſes für- die Zukunft. „Des Anderen 
Tages z0g er: zwei Srofchenftüde hervor, gab fie dem Gaſt⸗ 
wirth, und fprach: „Pflege fein!” Die zwei Groſchenſtuͤcke be⸗ 
tragen nach-unferem Gelde etwa zehn gute Groſchen, für jene 
Zeit bedeutend, und wenigſtens hinreichend, um einen Kranken 
auf einige Tage zu bekoͤſtigen. Er gab, fo viel er nur immer 
entbehren konnte, da er zu bem Gaſtwirth noch ſprach: „Und 
was du darüber noch aufwendeft, werde ich dir eritatten, wenn 
ich zuruͤckkomme.“ Mehr Eonnte er dem Unglüdlichen nicht 
thun; die Liebe hatte ihr Werk jebt ganz vollendet. | 
Seine Liebe war eine erbarmende Liebe, ging hervor 
aus reinem Mohlwollen und Mitleiven, fah in dem Unglüd- 
lichen nur den leidenden Menfchen, ohne auf deſſen Stand, 
Religion und Vaterland Ruͤckſicht zu nehmen. Sie war eine 
uneigennüßige "Liebe; denn ber Unglüdliche Tag da ganz 
ausgeplündert, aller feinge Güter beraubt; an Vergeltung fonnte 
nicht gedacht werben. Sie war eine thätige Piebe, bie fo- 
gleich zum Werke fchritt. Sie war eine ſich felbft auf: 
opfernde Liebe: der Samarit opferte auf nicht nur die ihm 











, 
—2 2 — ® 


fo nothwendige Zeit, nicht nur feine Bequemlichkeit, fondern 
auch fein Leben, - welches er der Räuber wegen wenigftens ei» 
ner großen Gefahr ausſetzte. Sie war eine beharrliche Liebe, 
die that, was fie nur immer thun konnte, und nicht eher ru⸗ 
hete, bis fie ihre Werk ganz vollendet hatte. Was die Liebe 
thut, das thut fie ganz, thut es aus dem reinften, ganz un⸗ 
eigennuͤtzigen Beweggründen, thut es zu der beften Abficht, und 
thut ed auf die befte, liebreichſte Art; das iſt ed, was der Hei⸗ 
land in diefer Parabel uns gelehrt bat. Und er lehrt & — 
nicht in trodnner Anweiſung, fondern in lebendiger Darftellung, 
wie man gegen Jeden fich zu betragen habe, um durch wirk⸗ 
lihe That darzutfun, daß wir ihn anzufehn haben als unfern 
Nächften. Darum richtet denn der Herr an den Schriftgelehrs 
ten die Frage: „Was meinft du? welcher unter diefen Dreien 
war wohl der Nächfle dem, der unter die Räuber gefallen war 2” 
Die Antwort war dem Schriftgelehrten: auf. die Zunge gelegt. 
Er antwortete: „Der. bie Barmherzigkeit an ihm that.“ Unb 
der Here fprach wieder zu ihm, wie Ex vorher fchon zu ihm 
gefproden hatte: „Gehe hin, und thue- du deßgleichen!“ Luk. 
10, 3-3. 

- Der Shhriftgelehrte hatte bie Frage gethan: „Wer ift 
denn mein Nächfter? wen bin ich Liebe zu erweiſen verpflich- 
‚tete Er hatte fo gefragt, „weil nach ihrer Lehre die Pflicht 
der Naͤchſtenliebe richt allgemein war, nicht auf alle Menfchen 
ohne Unterfchied fich erſtreckte. Nachdem der Herr, anftatt die 
Trage geradezu zu beantworten, die. Parabel erzählt hatte, wan⸗ 
delte Er bie Frage des Schriftgelehtten um in biefe Frage: 
„Ber hat fich felbft angefehen- als den Nächften deffen, dem er 
Liebe zu erweifen ſich für verpflichtet hielt.” . Es war im Grunde 
die nämliche Frage; aber die Antwort ergab fi) nun viel Yeichs 
ter: aud der erzählten Parabel. Die Frage war: - „wen fol ich 
als meinen Nächflen anfehen, und deßwegen, weil er mein 
Nächfter iſt, Lieben?“ Und die Parabel nöthigte nun zu der 
Antwort: „Jeden ohne Unterſchied, Jeden bewegen, weil er 
Menih, und als Menfh mein Nächfter iſt.“ Der Schriftges 
lehrte felbft war zw diefer Antwort genöthiget: indem er Die 


S 


— 83 — 

Antwort gab: „ber bie Barmherzigkeit an ihm that,” mußte 
ex beſchaͤmt und ftilfchweigend feinen Irrthum befennen. Und 
Darauf zielte auch die Iehte Antwort bes Herrn: „Gehe bin, 
und thue du deßgleichen!” Thue du nad dem Beiſpiel des 
Samariterd! Siehe auch du, fo wie er, einen. Jeden für deinen 
Naͤchſten an! mache unter ihnen keinen Unterfchieb, frage nicht 
erſt, ob derjenige, der beiner Hülfe bedürftig ift, ein Heide, ein 
Samariter, ein Zube fey? übe Liebe gegen Jedermann! 


. IL. | | 

Und in der That Tann wahre Liebe des Nächften nicht 
befichen, wenn fie nicht allgemein ift: denn alles Andere, 
wad wir in dem Menfchen lieben Können, iſt veränberlich, 
hinfällig, allem und jedem Wechfel unterworfen. Wir hegen 
3. B. Liebe gegen Iemand, weil er gotteöfürchtig, weil er 
bienfifertig if, teil wir dieſes ober jenes gute Werk von ihm 
wiſſen; oder wir lieben ihn, weil er unfer naher Verwandter, 


unſer Vater, unſer Sohn, unfer Bruder if. Das Alles for» 


dert. und auf zu einer befonderen, größeren Liebe; aber der ei⸗ 
gentliche, fefte Grund wahrer Nächftenliebe ift e8 nicht. . Ober 
du liebſt Jemand deßwegen, weil ex dich Liebt, dir Wohlthaten 
erweiſet: hoͤre, was ber Herr J. C. ſpricht: „Wo ihr liebet, 


die euch lieben, was werbet ibr für Lohn Haben? Thun nicht 


daſſelbe auch die Zoͤllner?“ Matth. 5, 46. Warum iſt — ic 
will nicht ſagen: — ſo viel Hader und Zank, ſo viel Uneinig⸗ 
keit und Zwietracht, ſo viel Haß und Feindſchaft, — ſondern 
warum iſt fo viel Kaltſinn, ſo viel Gteihgültigkeit, fo viel 
Lieblofigkeit unter uns? warum iſt wahre Nächftenliebe fo felten 


unter und? — felbft unter Hausgenoſſen und ‚unter nahen Bere 


wandten? Weil wir, wenn wir Jemand lieben, nur Das in 
ihm lieben, was veränderlih und unbefländig iſt, nicht dag, 
was Beftand und feflen Grund hat, was allen Menfchen ge- 
meinfchaftlich iſtz weil wir nur ben Verwandten, den freund, 
den Wohlthäter, weil, wir nicht den Menfchen in ihm lieben: 
fo fange hat auch die Kiebe gegen Verwandte, Kreunde und 
Wohlthaͤter Feinen Beftand und Feinen Werth, ift vielmehr nur 











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— m — 
eine verborgene Eigenllebe. Den Menſchen im Menſchen lieben, 
was heißt dieſes? was macht den Menſchen zum Menſchen? 
— Daß er goͤttlichen Urſprungs, daß er ein Ebenbild Gottes 
iſt. Freilich iſt dieſes göttliche Ebenbild in und Allen, iſt vor⸗ 
zuglich in den Boͤſen und Laſterhaften ſehr verunſtaltet; aber 


. din jeder Menfch, fo fehr er auch ausgeartet iſt, iſt und bleibt 


body noch Menfch, iſt ein Gefchoͤpf, welches von Gott mit 
Vernunft und einem freien Willen audgeftattet, und als ein 
ſolches Gefchöpf immer noch ein Ebenbild Gottes, und des 
hoͤchſten Vollkommenheit immer noch fähig if. Siehe ba einen 
Menfchen, der in Suͤnden und Laftern aller Art ganz verfoms 


men iſt, verachte ihn deßwegen nicht; er iſt noch Menfch, kann 


noch ein Heiliger werben. Giche! Bott hat gegen einen Jeden, 
ber Menſch ift, dadurch Seine Liche bewieſen, daß Er ihn in 
dieſed Leben berufen, und dadurch zum ewigen Leben, zur hoͤch⸗ 
ſten Bollkommenheit und Seligkeit, zur innigften Vereinigung mit 
Sich Selbſt beſtimmt hat, Und diefe Befimmung bleibt ihm, fo 
Lange er Menſch iſt, fo lange er Im Fleiſche noch auf Erden wallet. 
Und du wollte den von deiner Liebe ausfchließen, ben Sott fo hoch 
erhoben, fo fehr geliebt hatt Den Gott liebt, wollteft du nicht 
Beben? wie Lönnteft du dann Gott Heben? So geht denn bie 
wahre Nächfienlicbe von Gott aus; und wie fie von Gott 
nsgeht, fo führt fie auch auf Gott zuruͤck. Ihr wiſſet ja, was 
der h. Johannes fpricht: „Wenn ihre ben Nächten, ven ihr 
feet, nicht liebet; wie koͤnnet ihre dann Gott, Den ihr nicht 
febet, lieben?” Dee unfihtbare Gott hat fich in dem Menfchen 
gleichfans ſichtbar gemacht, Indem Er Sein fihtbares Ebenbild 
ihm eingeprägt bat. Lieben wir das fichtbare Ebenbild nicht; 
wie können wir dann Ihn, den Unfichtbaren, Heben? So fol: 
ken wir ums alſo .anfehen, als Menfchen, ald Kinder. eines 
Vaters, ald Seine Ebenbilder, von Ihm zur höchften Vollkom⸗ 
menheit und ewigen Seligkeit beflimmt: das ift allen Menfchen 
gemeinſchaftlich, und das fol der Beweggrund unferer Liebe feyn. 
Als Chriften haben wir aber noch weit. dringendere Bes 
weggründe, noch kraͤftigere Antriebe zur allgemeinen Naͤchſten⸗ 
liebe. Mit und iſt eine neue, zweite Schöpfung, eine wahre 


- .- 

Wiedergeburt vorgegangen: ; Durch J. €. find wir mit Gott 
wieder verföhnt. Einen Jeden von und hat Er fo geliebt, bag 
“ Er für einen Jeden von uns bloß aus Liebe Blut und Leben 
dahin gegeben hat; Jeder von uns ift gleichfam mit Seinem 
Blute bezeichnet. Jeder von und muß daher .einen Jeden als 
einen Geliebten. 3. C. anſehen. Eoliten wir nun Den .nicht 
lieben, den 3. €. fo geliebt, daß. Er Sein Leben für ihn da= 
bin gegeben hat? wie koͤnnten wir dann Ihn Selbſt lieben, 
wenn. wir nicht lieben wollten Denjenigen, den Er fo fehr ge⸗ 
liebt bat? Dadurch find wir Alle in bie innigfte Verbindung 
mit Ihm getreten, fo daß wir Ihn ald unfer Haupt, und felbfi 


als Seine lieder betrachten follen. Darum hat Er den Aus⸗ 


ſpruch gethban: „Eine größere Liebe gibt es nicht,. als daß 
Jemand fein Leben hingibt für :feine Freunde.” Darum gibt 
Er und auch ein neued Gebot; — ein neues Gebot bewegen, 
weil neu die Beweggründe und Antriebe find, die Er uns in 
Seiner Liebe bid zum Tode gegeben hat: darum ſpricht Er: 
„Sch gebe euch ein neues Gebot, daß ihre euch einander. liebet, 
"wie Ich euch geliebet habe. Daran wird man erlennen,. Daß 
ihr Meine Sünger feyd, wenn ihr euch einander liebet, wie Sch 
euch geliebet habe.” Und. wie liebreich hat Er durch ‚Seine 
Anordnungen dafür geforgt, um dieſe Liebe ſtets lebendig in 
und zu unterhalten! Durch die h. Taufe werden wit ſchon 
“als Mitglieder Seines Reiches aufgenommen; wir haben. Alle 
Ein gemeinfhaftliches Vaterland, — das Chriſtenthum; . find 
Mitbürger in Einem,Reiche, worin 3. €. der König und Herr 
iſt: und wer vor ſich ſelber der Kleinfte und Geringfte in die- 
fem Reiche iſt, der ift vor Ihm der Größte. Durch die heil. 
Kommunion aber werben wir aufgenommen nicht nur als Seine‘ 
Hausgenoſſen, fondern ald Seine Tifchgenoffen, wir fpeifen Alle an 
Einem Tiſche, an welchem Er Selbſt den Vorfig führt, an welchem 
Er Seibft in Liebe Sich uns hingibt, um und Alle mit Sich und 
unter einander in Liebe zu vereinigen. So hat Er durch diefes h. 
Saframent und Alle zu Einer Familie vereiniget, in welcher Er 
Selbſt ald-unfer erfigeborner Bruber .erfcheint. D, m. C.! wenn 
wir Alle innigft durchdrungen wären von biefer innigen Verbindung, 


\ 


— 2» — 
worin wir mit unferem Sellanbe fliehen; wenn wir und alfo Ä 


als Geliebte von Ihm, ald Miterlöfete durch Ihn, wenn wir 
und Alle ald Bürger Seines Reichs, ald Mitglieder Seiner 


Familie, als Seine Haus: und Tiſchgenoſſen . betrachteten; 


müßten wir und dann nicht von ganzem Herzen lieben? 

Nur mit Liebe können wir Seine Liebe vergelten. Ihm 
Selbft, Der Alles hat, können wir Seine Liebe nicht vergelten, - 
Da Hat Er und nun an Seiner Statt unferen Nächten anges 
wiefen, und den Ausſpruch gethban: „Was ihr dem Geringften 


unter euch thut um Meinetwillenz; das habet ihr Mir Selbſt 


gethan.“ O, welcher Antrieb zur Liebe! Und in unferer Pas 
rabel hat Er und die Anweilung gegeben, wie wir lieben ſollen. 
Sn einem lebendigen Beilpiele hat Er und gezeigt, wie bie 
wahre Liebe gefinnt ift, wie die wahre Liebe mit der größten 


Aufopferung eigener Bequemlichkeit, eigenen Vortheils, fogar . 


des Lebend felbft aus den reinften Beweggruͤnden ſich thätig 
erweiſet, und nicht eher ruhet, bis fie ihr Werk ganz vollendet 
bat. Zu einem- folden, mit ſolchen Aufopferungen verbundenen 
Liebeswerk mögen wir nur felten die Gelegenheit haben. Der 
Heiland hat und ein großes. Beifpiel aufgeftellt, um uns darin 
anfchaulich zu zeigen, wie wir im Kleinen, wie wir im täglichen 
Leben gegen einander gefinnt feyn folen. O Gott! wenn in 
einer Familie, in einer Haushaltung die Liebe die Herrichaft 
führte; wahrlich, ein Himmel auf Erden wuͤrde eine folche 
Haushaltung feyn; wie von einer ebernen Mauer. umgeben, 
fagt der h. Chrifoflomus, würde ein foldhes Haus, und gegen 
alle Anfälle des Böfen geſchuͤtzt ſeyn. Wo Ale einander, fo 
Herrichaften als Dienftboten, als: Glieder 3. ©. ſich betrach⸗ 
teten und’ liebten, wer vermörhte von diefer Liebe fie zu. fcheis 
den ? Leidet ein Gtied, fo leiden alle mit; freuet ſich das 
eine, fo freuen ſich Alle; ſanft und gelaſſen würden die Befehle 
der Herefchaft, gewiffenhaft treu wuͤrde ihre Ausführung ſeyn; 
wie koͤnnte Neid unter ihnen Statt finden, da Ieder- über das 
Sute des Andern fi erfreuet? Eben fo wenig ift Streben 


nach Vorzug, ift eitele Aufblähung unter ihnen: möglid, da 
Jeder, feiner eigenen Fehler und Schwachheiten fich.: bewußt, 


Y 


lieber Vorzug gibt, ald nimmt. Niemand benfet Arges von 
Anderen, fondern. fie find fo offen und aufrichtig gegen einan- 


der, daß Jeder dem Anderen: in's Herz ſehen kann. Darum 


ereifert ſich Keiner gegen den Anderen; wird Jemand beleidigt, 
ſo ſucht er mit Sanftmuth den Beleidiger zu beſaͤnftigen, da⸗ 
mit er nicht ſuͤndige. Sieht Einer, ſagt der h. Chriſoſtomus, 
den Anderen fehlen, ſo wird er betruͤbt; aber ſelbſt dieſe Be⸗ 
trübnig iſt nicht ohne Luſt; denn die Traurigkeit und die Thraͤ⸗ 
nen der Liebe find angenehmer, als alle Luft und jebe andere 


Freude. Wahrlich), die ba froh find und lachen, haben Feine 


foiche Freude, ald Jene, die um ihrer Geliebten willen trauern. 
Bad muͤhſam und befchwerlich iſt, macht die Liebe leicht; alles 
Gute ift in ihree Hand; fie bahnt und erleichtert und den 
Weg der Tugend, und macht und nur das Boͤſe fchwer. 

Seht da, mu G.! nur ein ſchwaches Schattenbild von alle 
dem Guten, was die Liebe gewährt, von dem Frieden, ber 
Freude und der Seligkeit, womit fie die Herzen der Menichen 


- , erfüllet! Ohne Liebe Feine wahre Tugend, wie feine wahre 


Freude und Seligkeit. Wollen wir gut werben und Gott ge: 
fallen, fo müffen wir Liebe üben, wie und wo wir koͤnnen, 
und alles meiden, was der Liebe entgegen: if. 

Darum fagt der Apoftel Paulus: „Wir follen einander 
unfre Schwachheiten ertragen, und nicht und felbft zu gefallen 
leben. Seglicher aus Euch gefalle dem Anderen — zum Gu⸗ 


ten, zur Erbauung. Denn auch 3. ©. lebte nicht, Sich Selbſt 


zu gefallen, fondern wie gefchrieben fteht: Die Schmähungen 
derer, bie Dich fchmäben, kamen Über Mich.... Der Gott der 
Geduld und bed Troſtes verleihe Euch, Cined Sinnes zu feyn 
unter einander, in 3. C., auf daß ihr einträchtig, mit Einem 
Munde, verberrlichet Gott und den Water. unferd Herrn 3. €. 
So nehmet denn, Einer des Andern, Euch an, wie auch J. ©. 
ener fih angenommen set, zur Verherrlichung Gottes, Alm, 
3, 1—8 
% C. bat unler fich angenommen zur Verhemlichung 
Gottes. In der Liche des Samariters hat Er Seine Liebe 
gegen uns abgebildet. Denn um uns aus dem Elende der 


Sünde zu erretten, if Er vom Himmel gelommen. Wir. was 
ven durch unfere Suͤnden in unferem Innern ganz verwundet 
und zerriffen, waren nicht wie Halbtobte, waren gänzlich erflor- 
ben für das ewige Leben. Da iſt Er unermüdet umbergegan- 
gen, hat das lindernde Del Seiner Lehre und den ftärkenden 
Bein Seined ermunternden Beiſpiels in unfere Wunden ges 
goffenz hat um unfertwillen aufgeopfert Seine Bequemlichkeit, 
Seine Ehre, Seinen Namen, und Fein zeitliche Gut für Sich 
behalten; hat und nicht etwa auf ein Lafttbier gehoben; hat 
und ald der gute Hirt auf Seinen eigenen Schultern getragen; 
hat und in eine gute und fichere Herberge gebracht, in Seine 
Kirche, und hat und in berfelben alle Mittel zu unferer voll- 
kommenen Wiederherſtellung bereitet, und und diefe Mittel nicht 
mit Geld und Gut, fondern mit Seinem eigenen Blute erwor⸗ 
ben, bat Sein Leben wirklich für und dahin gegeben. Und 
nun hat Er und biefed Vermaͤchtniß und biefed einzige Gebot 
binterlaflen: „Cine größere Liebe gibt e8 nicht, ald daß Je⸗ 
mand fein Beben hingibt für feine Freunde. Ich gebe Euch 
ein neues Gebot: daß ihr einander liebes, wie Ich euch geliebet 
habe.“ Amen. 


_m_ 
Dritte Rede 


Erſte Rede am vierzehnten Sonntage nad dem 
| Belle der h. Dreifaltigkeit, 





Tert: 
Das Evangelium von der Heilung ber schn Ausfägigen 
euf, 17, 11— 19. 
Thema: 
Von der Dankbarkeit gegen Gott. 


I, | 
Als der Her 3. C. einft nach Serufalem zum Feſte reifen 
wollte, nahm Er Seinen Weg durch die Gegend, wo die Lands 
ſchaften Galilda und Samaria an einander gränzten. „Unb 
als Er kam zu einem Fleden, begegneten Ihm zehn ausſaͤtzige 
‚Männer, die blieben ftehen von ferne, und erhuben ihre Stimme 
und fprachen: „Jeſu! Meifter! erbarme Dich unfer!” Was ung 
in unferen Gegenden vom Ausfage bekannt ift, ift gar nichts 
in Vergleich mit dieſer fchredlichen, Außerft fchmerzhaften und 
ekelhaften Krankheit im Morgenlande, wo fie eigentlich einhei⸗ 
mifch iſt. Das Geficht wird aufgedunfen, die Haut dürre und 
gefpannt, und belegt ſich am ganzen Leibe vom Kopfe bis zu 
den Füßen mit einer weißen Krufte, aus welcher allenthalben 
eiternbe Gefhwüre durchbrechen, fo daß das rohe Fleifch fichts 
bar wird. Die Augen find immer triefend und verlieren ihren 
Glanz; die Haare, die mit einer flintenden Rinde überzogen 
“werden, fallen aus; die Nägel an den aufgefchwollenen Häns 
den und Füßen fallen ab. Mit Einem Wort: die ſchoͤne menſch⸗ 
- liche Geftalt wird zu einem Scheufal, vor deffen Anblick jebers 
mann ſchaudert und flieht. Es fcheint, daß man Fein Mittel 
gegen diefe fchredliche Krankheit wußte; wenn fie nicht im An- 
fange von felbit fi) gab und heilte, fo wurde fie unheilbar, und 
endigte mit einem frühzeitigen, traurigen Tode. Dabei iſt biefe 


- — — — — — 


Krankheit ſehr anftetend durch Beruͤhrung, fo daß derjenige, 
welcher nicht einmal den Ausſaͤtzigen felbft, fondern nur das, 
was er angerührt hat, berührt, alfobald angeftedt wird. Deßs 
wegen war es im Geſetze vorgefchrieben, daß Jeder, an deffen 
Leibe Spuren biefer Krankheit ſich zeigten, einem Prieſter fich 
darſtellen mußte, welcher dann nach den Beftimmungen im 
Gefeße darüber urfheilen mußte, ob die Krankheit der wirkliche 


Ausſatz fey. Fand nun der Priefter nach einer genauen Unter- 
fuhung, daß ed wirklich der Ausfag fey, fo mußte der Kranke 


alfobald von aller menfchlichen Geſellſchaft fich entfernen, mußte 
allein wohnen; mußte, fobald Menfchen in der Nähe waren, 
alfobald ſich zurüdziehen. Glaubte der Kranke fich geheilet, 
fo durfte er nicht eher dem Umgange mit Menfchen wieder fich 
anfchließen, bis er vorher eiriem Priefter fich gefteflt hatte. Fand 
nun der Priefter nach genauer Unterfuchung, daß der Kranfe 
wirklich geheilt war, dann wurde füt ihn ein Opfer entrichtet, 
zum Dank und zum Zeichen ber Reinigung; dann tauchte ber 


Priefter- einen Yſopſtengel in dab Blut des geopferten. Thieres 


und befprengte damit den Geheilten, welcher danır mehrmals 
am ganzen Leibe ſich wachen mußte. Darum betete David in 
feinem Bußpfalm, den wir ihm fo oft nachbeten: „Beſprenge 
mi mit Yfop, umd ich werde gereinigets waſche mich, und ich 
werde mehr ald Schnee weiß werben!“ Mehrere Tage, Unters 
fuhungen, Opfer und Reinigungen gingen dann noch bamit 
bin, che der Kranke für vollkommen geheilt erklaͤrt, und der 
menfchlichen Geſellſchaft wieder gegeben wurbe. Alle diefe Ver⸗ 


ordnungen fliehen ganz umftändtih im 3. Büche‘ Moſes, im 


13. und 14. Kapitel. 


Wir koͤnnen uns alſo eine Vorftellung machen von dem 
ſchrecklichen Elend, welches jene zehn, von aller menſchlichen 


Geſellſchaft ausgeſchloſſene Maͤnner zum traurigen Umgange mit 


einanber vereiniget hatte. Einer unter denſelben war ein Sa⸗ 


mariter, welche der Religionshaß ſonſt immer von den anderen 
trennte. Juden und Samariter hatten gemeinſchaftliche Noth 
und Elend. jetzt mit einander vereiniget. Der gefeglichen Vor⸗ 


ſchrift gemäß‘, blieben fie von ferne fiehen, als I den Heiland 
ar ai ate Aufl, u 


mit Seinen Jüngern Sic nähern ſahen. Gewiß hatten dieſe 
Unglüdtichen von den Wundern des Hellandes gehört; deßwe⸗ 
‚gen fafleten fie Vertrauen, als fie Ihn näher. fommen ſahen. 
Da flanden fie dann mit Flopfendem Herzen in’ einiger Entfers 
nung vom Wege, da fanden fie in dem frhmerzenden, brennens 
den Gefühle ihres Elends; und, als ſie Ihn nun nahe ſahen, 
als fie Ihn in Seiner goͤttlichen Hoheit und in Seiner menſth⸗ 
lichen Holdſeligkeit erblidten, da faffeten fie neuen Muth, da 
riefen Alle wie aus Einem Munde: „Jeſu! Meifter! erbarme 
Dich unſer!“ DO m. E.!. wenn diefes. Wort: „erbarme Dich 
meiner!” aus dem Innerften unfers Derzens kommt; wenn bie 
{ed Wort: „erbarme dich, meiner! fey mir armen Sünder gnäs 
dig!“ aus dem Innerfien. unfers veumütpigen, zerknirſchten Her⸗ 
zens Tonımt, um. von einem Ausfage, der noch weit fchlimmer 
ift, ald jener, um von dem Ausfage unferer Suͤnde gereiniget 
zu werben, dann. bürfen wir der Erhörumg immer. gewiß feyn. 
Um und zu einem .folchen demüthigen, vertrauensvollen Gebet 
zu ermunteren, auch barum hat der. Herr jene Ungluͤcklichen auf 
ihre vertrauensvolle Bitte yon ihrem äußerlicheh Ausſatze geheilt. 

Gr fah fie, und fprach: „Gehet, und zeiget euch den Prie⸗ 
flem!“. und es geſchah, da fie hingingen, wurben fie rein. In 
zwei Fällen mußte mag des Ausſatzes wegen einem Priefler 
fi fielen: wenn man glaubte, daß die Krapkheit wirktich: da, 
und wenn man glaubte, daß fie gebeilet ſey. Der erſte Fall 
hatte bei allen dieſen Unglüdlichen ſchon Statt_gefunden; bie 
Prieſter hatten alle zehn, als: mit dem wirklichen Ausſatze bes 
haftet, erklärt, und eben deßwegen von der menfchlichen Geſell⸗ 
ſchaft fie auögefchloffen. Wenn der Herr alfo- zu ihnen fprach: 
„Gehet, zeiget euch ben Prieſtern!“ fo konnte Er nur ben zweis 
“ten all damit meinen; und ed war eben fo viel, ald wenn Gr 
gefagt hätte: „Ihe merbet, wenn. ihr zu ben Prieflern kommt, 
geheilet ſeyn; gehet alſo zu Ihnen, damit fie nach dem Gefeke 
euch fuͤr geheilet erklaͤren!“ Sie verſtanden auch Alle Sein 
Wort, als ein Wort der Erhoͤrung; keiner von aͤhnen blieb ſte⸗ 
ben, ob Er nicht etwa noch beſimmter das Wort: „Ich will, 
ſey rein!“ ſprechen würde. - Alle glaubten Seinem Worte und 


’ gingen. Ind dem AugenWlid aber, ald Er jenes Wort fprach, 


war noch Feiner yon ihnen geheilet, denn ber Evangelift fagt 
ausdruͤcklich: „ald fie bingingen, wurden fie rein;” — wahr 
(heinlich Alle auf einmal. So belohnte der Herr ihren Glauben. 

Begleiten wir fie im Geiſte, wie fie vol Vertrauen auf 

Erin Wort bineilen zu einem Priefter, der am meiſten in der 
Kühe wohnte; wie fie feſt glauben, daß fie fchon zuvor, che 
fie beim SPriefter. ankommen, müflen geheilet fen, damit ber 
Priefter fie für: geheilt erklären koͤnne; wie fie noch wohl Feine 
große Strecke Weged mögen gegangen feyn, als ihr Glaube bes 
lohnt wird; als fie auf einmal eine neue, belebende Kraft in 
ihre ausgetrockneten Gebeine hineindringen fühlen; als fie fuͤh⸗ 
In, wie diefe Kraft auch über die äußerlichen Theile ihres Lei⸗ 
bed ſich verbreitet; als fie die Rinde des Ausſatzes fich brechen 
und losſetzen fühlen, als fie ihn wie Schuppen von ihrem gan⸗ 
zen Leibe berunterfallen fühlen und fehen, als fie ſodann ganz 
gereiniget fich erbliden! Wer vermag es mitzufuͤhlen, wie ih⸗ 
nen zu Muthe war, als ſie auf einmal innerlich im Koͤrper 
geſtaͤrkt und geſund ſich fuͤhlten, aͤußerlich ganz gereinigt ſich 
erblickten! 

Aber wie ganz verſchieden war der Eindruck, welchen dieſe 
wunderbare Heilung in ihnen bewirkte! Ohne Zweifel waren 
no beiſammen, als biefed Wunder. an ihnen geſchah; dars 
auf deutet der Vorwurf bin, den ber Herr gleich nachher über 
dieNeun ausſprach; deutet nämlich darauf hin, daß dieſe Neun 


ihren Weg zum Priefter fortzufegen befchloffen, und auf das _ 
Wort des Zehnten, eined Samariterd, nicht achteten, welcher 


darauf beftand, fie müßten zuvor zuruͤckkehren, um bem großen 
Bohithäter ihren Dand zu befennen. Jene erfreueten fich nur 
der empfangenen Wohlthat, eiteten, fo ſchnell fie Eonnten, zum 
Priefter, um nur ſo bald als möglich, unter bie Gefellfchaft der 
Menihen gefeglich wieder aufgenommen zu werben. Dielen, 
‚den Samariten, zog fein dankbares, liebendes Herz zuerſt zu 
ſeinem Wohlthaͤter zuruͤck, und er ruhete nicht, bis er Ihm 
zuvor ſeinen Dank entrichtet, bis er ſein volles De vor Ihn 
ausgeſchuͤttet hatte. 
3* 


— 


a. 


ss —' 
——— <= mn 


„Einer aber aud ihnen, ba er ſah, daB er rein geworben, 
kehrte zuruͤck und preifete Gott mit lauter Stimme; und er fiel 
auf's Angeſicht zu Deflen Füßen, und dankte Ihm. Und dies 
fer war ein Samariter.” „Da er fah,” fagt der Evangelift, 
das heißt: „fobald er fah, daß er war rein geworden, hielt 
er's für feine erfle Pflicht, zu danken. Hätte er vorher dem 
Prieſter fich geftellt, fo wären über acht Rage damit hingegans 
‚gen, ehe er einmal hätte hinweggehen bürfenz fo viele Zeit 
forderte dad Gefeg zu den wiederholten Unterfuchungen, Opfern 
und Reinigungen. Nach der Art aber, wie bie Begebenheit 
erzählt wird, müffen wir fchließen, daß biefelbe in Einem Zus 
fammenhange, ohne befondere Unterbrechung, ſich muß ereignet, 


daß der ruͤckkehrende Samariter den Herin noch an bem naͤm⸗ 


lichen Orte, entweber noch vor dem Zleden, ober doch wenigs 

ſtens in dem Flecken muß angetroffen haben. Acht Tage fpäter 

hätte er den Herrn, Der unterbeffen gewiß fchon weiter gereifet 

war, an einem anderen Orte auffuchen müffen, wovon aber ber 
Evangelift nichts bemerkt. 

Mit Wohlgefallen blickte dev Herr auf den Geheilten, ber 
zu feinen Füßen lag, und fein bdanferfülltes Herz audftrömen 
ließ. Da ſprach der Herr, wohl wiſſend, daß Alle geheilet 
feyen: „Sind ihrer nit zehn rein geworden? wo find bie 
Neune?“ Das war ein Wort ded Tadels über jene Neun, 
welche -fich beeileten, der gefeßlichen Vorſchrift genug zu thun, 
ehe fie der natürlichen Pflicht der Dankbarkeit, welche ihnen 
in’d Gerz gefchrieben war, genugthaten. Dadurch hat der Heis 
‚land und belehren wollen, daß nach einer empfangenen Wohls 
that, unfere erfie Pflicht fey, Gott, bem Geber alles Guten, 
dafür von ganzem, Herzen zu danken, Um dem Scheilten Feine 
Beranlaffung zu geben, die Uebrigen anzuklagen, führ ber Herr 
unmittelbar fort, und fprach: „Keiner iſt gefunden, der zuruͤck⸗ 
kehrte, und gäbe Gott bie Ehre, als biefer Fremdling.“ Mit 

dem mildeften Namen nannte der Herr biefen Samariter: Fremd⸗ 


‚ Uing, von welchen die Juden nur mit den’ aͤrgſten Schimpfna⸗ 


namen fprachen. Dieſer Mann, ber nur fo wenig von den h. 
Schriften kemt, die meiſten nicht annimmt, beſchaͤmt mit ſeiner 


— a37 — 


Dankbarkeit die anderen Rechtglaͤubigen, welche in den Pſalmen 
und Propheten ſo viele und ſo dringende Antriebe zur Dank⸗ 
barkeit hätten finden muͤſſen. Noch weit mehrere und dringen 
dere Antriebe zur Dankbarkeit gegen Gott haben wir Fatholis 
Ihe Ehriften vor anderen Srrgläubigen in den unverkennbaren 
Vorzuͤgen unferd Gotteödienfted, in der Untruͤglichkeit unſers 
kehramts und in dem Beſitze aller h. Sakramente. Wenn bie 
Irrgläubigen an Dankbarkeit uns übertreffen, fo trifft und ber 
nämliche Vorwurf. Dann ſprach der Herr zu dem dankbaren 
Seheilten: „Stehe auf, gehe, dein Glaube hat dir geholfen.“ 
„Sehe jetzt hin zum Priefler, damit du dem Geſetze genugthuefl, 
und unter bie Menſchen wieder aufgenommen werdeſt. Dein 
Glaube an Mich, ald an den Meſſias, hat dir geholfen; bleibe 
in dieſem Glauben!“ 


. I . | 

Diele Begebenheit ift ein fehr lehrreiches und warnendes 
Beifpiel für und Alle. . Allgemein hält man, und zwar mit 
größtem Recht, die Undankbarkeit für ein ganz abfeheuliches 
Lafter. Faſt das Nergfte, wad man: von einem Menfchen fagen 
kann, ift e8, wenn man von ihm fagt: „ex iſt ein unbanfbarer 
Menſch!“ Undankbarkeit ift ein häßliches, ein fchanbliches, ein 
recht abfcheuliches Laſter; ift um deſto abfcheulicher, je größer 
die Vohlthaten find, wofuͤr man zu danken fchulbig if. Und 
doch, To tief ed in der Natur des Menfchen gegründet liegt, 
ale Undanktbarkeit aufs -Außerfte zu verachten und zu verabs 
ſcheuen, fo fehr machen fich doch gar Wiele der Undankbarkeit, 
und zwar der ſchaͤndlichſten und abfcheulichften,. nämlich der Uns 
dankbarkeit gegen Gott. fchuldig. Wen haben wir bie meiſten 
und größten Wohlthaten zu danken? ja, wem haben wir ut» 
ſpruͤnglich und ohne Ausnahme alle Wohlthaten zu danken, 
auch ſolche, die uns durch andere Menſchen, oder durch beſon⸗ 
dere Umſtaͤnde zu Theil werden? Nicht allein dem großen Gott, 
unſerm beſten Vater, Deſſen Liebe, wie Seine Macht, gleich 
unendlich und unermeßlich iſt? Und doch, wie wenig werden 
dieſe Wohlthaten, die uns doch in einem jeden Augenblicke un⸗ 


x 
88 
N . 


fered Lebens zu Theil werben, von uns anerkannt! ach, wie 
felten ift fie unter und, die wahre, herzliche Dankbarkeit gegen 
Gott! Wir Hagen fo oft über unferen Mangel an Liebe; aber 
deßwegen haben wir fo wenig Liebe, weil wir fo ſchlecht bie 
Dankbarkeit üben: wo keine Dankbarkeit, da auch Feine Liebe; 
wer ‚aber von Herzen dankbar ift, der liebt auch von Herzen. — 
Es iſt gewiß nicht ohne Bedeutung, daß unter den zehn Aus⸗ 
fägigen nur Ein Dankbarer fih fand. Sof und diefed Bei⸗ 
fpiel nicht zu dem Schluffe veranlaffen, daß oft mur der zehnte 


Mann ein Dankbarer ſey? Sol es alfo nicht wenigftend eine 


bedeutende Warnung für und feyn? Müffen. wir alio nicht das 
Nämlicye auch von und befürchten? auch nicht mit gerechtem 
Mißtrauen auf uns felbft befürchten, daß unter diefer Verſamm⸗ 


lung ebenfalls -faum der Zehnte ald ein wahrhaft Dankbarer 


fi finden möge? Und wer wollte fo vermeflen ſeyn, von fi 
felbft zu denken: „ich gehöre zu diefen Zehnten?“ wer müßte 
nicht vielmehr, feiner Schuld fich bewußt, der weit größeren 
Zahl der übrigen Neunen fi beirechnen? 

Aber dabei dürfen und wollen wis’8 ‘nicht bewenben laſſen; 
wir wollen vielmehr, unferer Schuld und unferer Pflicht uns 


bewußt, und -erweden, und Alles thun, was in unferen Kräfe 


ten ſteht, um aus der gefährlichen Reihe jener Neunen heraus⸗ 
zutreten, und und der Fleineren Zahl jenes glüdttichen, ‚Gott ges 
fälligen Zehnten beizugefellen. Wir wollen. unfere Häupter und 
Herzen erheben, und in den unzähligen Wohlthaten, die uns 
von ber göttlichen Liebe immer in fo reichlichem, uͤberfließen⸗ 
dem Maße zu Theil werben, die Liebe unfers Gottes felbft 
erfennen, und wollen und ermuntern, dem Liebenden von Ders 
zen zu danken, Ihn won Herzen wieber zu lieben. 

Beſonders werden wir ald Chriften zu der jetzigen Jahrs⸗ 
zeit zu einem ganz vorzuͤglichen Danke fuͤr eine ganz beſondere 
Wohlthat dringend aufgefordert. Der Auguſtmonat iſt kaum 
zu Ende, und ſchon iſt unſere Aernte geborgen, iſt gerettet, iſt 
über alles Hoffen und Erwarten geſegnet. Vor zwei Jahren 
hatte um dieſe Zeit die Aernte kaum begonnen; — ach! in je⸗ 

nem traurigen Jahre gab es ja gar keine Aernte, und jetzt iſt 








4 


fie um die naͤmliche Zeit fchon faft ganz vollendet. Wir Staͤb⸗ 
ter wußten ſonſt die Wohlthat einer: gefegneten Aernte kaum 
zu fehägen; aber im Jahre 1816, da haben wir's gelernt, da 
haben wir's erfahren, wie Mißwachs und eine verunglüdte 
Aernte fo tief und fo ſchmerzlich in die Beduͤrfniſſe auch uns 
ſers täglichen Lebens eingreift, wie wir in bem täglichen Uns 
tehalte des Lebens von dem Herrn der Früchte und der Aernte 
fo ganz und gar abhängig find; da haben wir bie große Wohl⸗ 
that einer geſegneten Aernte recht zu ſchaͤtzen gelernt. 

Freilich war in jenem traurigen Jahre der Herr nicht we⸗ 
niger die Liebe, da Er unſere Saaten verderben ließ, als Er 
jetzt die Liebe iſt, da Er unſeren Fruͤchten in ſo reichlichem 
Maße das Gedeihen gibt. Der Herr iſt immer die Liebe, Er 
mag uns nehmen, oder Er mag uns geben. Seine pruͤfende, 
zuͤchtigende Liebe iſt eben ſowohl die Liebe, als Seine erfreuende 
Liebe. Es war gewiß eine bedeutende Warnung der allwalten⸗ 
den Fuͤrſehung, daß gerade in dem Jahre, da die Verheerun⸗ 
gen der Kriege, die ſo lange Zeit hindurch die Menſchen ge⸗ 
druͤckt hatten, aufhoͤrten; daß gerade in dem Jahre, ba ber 
Friede gefichert war, und der Menfch wieder freier zu athmen 
und: feined Lebens wieder etwas: froh zu werden anfing; daß 
gerade in dem nämlichen Jahre von einer anderen Seite ein 
anderes Uebel über und einbrach, welches noch weit tiefer und 
weit fchmerzlicher, als alle vorigen, in unfer Leben eingriff. 
Bar ed nit, als wenn der Herr Selbft zu und gefprochen 
hätte: „Sehet, ſo lange Zeit habe Ich.andere Menfchen, habe 
Ich alle Geißel des Krieged gebraucht, damit ihr von eneren 
Sünden abſtehen, euch beffern und befehren möchtet; aber es 
bat nicht gefruchtetz fo müffet ihr dann jetzt Meine zuͤchtigende 
Hand unmittelbar erfahren, damit ihr erkennet, daß Ich der 
Herr bin, Dem ihr durch eure Suͤnden euch vergebens zu wi⸗ 
derſetzen ſucht?“ Sollen wir denn jetzt ber Troͤſtung und ers 
freuen, Daß jene legte Prüfung und Züchtigung bei-und durchs 
gedrungen und ihre Abficht erreicht hat? dag wir jet feit zwei 
Jahren wirklich beflere Menfchen geworden find? follen wir das 
jeige Gedeihen unferer Zeldfrüchte, und unfere jegige fo gefeg- 


— 49 LU} 
x 


nete Aernte als ein beſonderes Zeichen des göttlichen Wohlges 
fallend, ober gar als eine befondere Belohnung für unfere Befs 
ferung anfehen dürfen? — Zu biefer eitelen, vermeffenen Hoff⸗ 
nung beredfiget uns der Glaube nicht: ‚der Glaube gibt und 
feine Hoffnung, die und nur über uns felbft werblenden und 
bethören, und und nur in eine höchft gefährliche Sorglofigkeit, 
in einen wahren Sündenfchlaf einwiegen koͤnnte. Dad aber 
lehrt und der Glaube, daß Gott Alles thut zu rechter Zeit, und 
aus ber weifeften, beften Abficht; daß Gott niemals ohne Noth 
fhlägt und züchtigetz daß Gott nach Seiner Liebe und erfreuet, 
wenn diefe Erfreuung mit unferm wahren Wohle beftehen Fann, 
wenn fie unferm wahren Wohle zuträglih iſt. Nach diefer 
Lehre find wir überzeugt, daß vor einigen Jahren die ſchmerz⸗ 
liche Prüfung und Züchtigung für unfer wahres Wohl auf 
gleiche Art zuträglich war, als es bie. zeitliche Segnung feyn 
fol, die wis aus der milden Hand der göttlichen Liebe jetzt em⸗ 
pfangen haben. Dad ift die einzige richtige Anficht, die wir 
von der empfangenen Wohlthat nehmen follen. Anſtatt alfo 





unnuͤtzer und gefährlicher Weife darüber zu grübeln, ob wir | 


diefe befonbere Wohlthat etwa durch unſre Beflerung möchten 
verdient haben, follen wir vielmehr, als für eine von unferer 
Seite ganz unverbiente Gabe dem Herrn innigft danken, und 
ſollen über uns felbft wachen, damit wir durch unfer kuͤnftiges 
Betragen und berfelben nach Kräften würdig zu machen fuchen 
mögen. Dabei ift ed auch unferer Natur felbft angemeffen, 
Daß wir weit lieber angenehme und erfreuende, als zuͤchtigende 
Gaben und Wohlthaten aus bed Herrn Hand empfangen. 
Um deſto fträflicher würben wir alfo vor Gott handeln, wenn 
wir bei biefen fo reichlichen, erfreuenden Wohlthaten Ihm nicht 
einmal von Herzen danken wollten, da ber Glaube und biefe 
Dankbarkeit zur heiligften Pflicht macht, und unfere eigene Na⸗ 
tur, und die Erfüllung diefer Pflicht fo fehr erleichtert. Wenn 
wir's jetzt an dieſem Danke fehlen ließen, dann würde wahre 
lich auch auf und Anwendung finden der Ausſpruch 3. C.: 
„Wenn biefe nicht riefen, fo müßten felbft die Steine ſchreien.“ 


Es bedarf daher flr und keineswegs eines obrigfeitlichen 
Befehls, um und zu einem Öffentlichen, gemeinfchaftlichen, feier⸗ 
lien Dan für die empfangene große Wohlthat aufzufordern, 
da wir durch Natur und Glauben dazu aufgefordert werben, 
da fhon der laͤngere Aufichub unſers Danks wirkliche Undank⸗ 
bakit wäre; da dad Beifpiel des Samariterd und, gelehrt hat, 
daß wir danken follen, fobald wir die Gabe empfangen haben, 
und unfer Herz von ber Liebe des Wohlthaͤters noch ganz warm 
und voll iſt. 

Danken wollen wir daher mit innigſt geruͤhrtem Herzen 
dem Herrn, daß Er in dieſem Jahre den Ueberfluß Seines Ges 
gend Über unfere Erde auögefchüttet: hat. Nicht bloß auf big 
Wohlthat, auf die Gabe wollen wir ſehen, fonbern auf bie 


Liebe des Geberd wollen wir dad Auge unferd Glaubens ride 


ten, wollen und durch Seine Gabe von neuem in der Ueberzeu⸗ 


gung :beftärken, daß der Herr und immerbar mit Seinen Gas 


ben erfreuet, und immerdar nur erfreuende Gaben gibt, wenn 


Seine Allwiſſenheit es erkennt, daß dieſe für unfer wahres. 


Wohl am zuträglichften find, wie alle Gaben, die er Seinen 
Auserwählten im Himmel ertheilt, lauter Freude und Seligfeit 


ind; daß Er, Der in Sich Selber felig ift, auch die Seinigen 
erfreuen und felig machen will. Ausrufen wollen wir daher, 


wie aus Einem Herzen und mit Einer Stimme: „Erheben will 
ih Dich, mein Gott und mein König! preifen will ich Deinen 
Namen immerdar. Groß ift der Herr, hochgelobt; erforfchen 
lift fich Seine Größe nicht. Ein Geſchlecht rühmt dem andes 
sn Deine Werke, verfündet ihm die Thaten Deiner Macht. 
Barmherzig, gnaͤdig ift der Herr, iſt fehonend und von großer 
Guͤte. Gottes. Güte erfüllet das AU; Seine Liebe erſtreckt ſich 
über alle Seine Werke. Der Herr unterſtuͤtzt die Sinkenden 
und hilft die Gebeugten wieder auf. Auf Dich fehen Aller Aus 


gen hin, und Du gibft ihnen ihre Speife zu rechter Zeit. Du 


reicheſt Deine Hand, und fättigeft hulbreich, was da lebt. Nahe 


it Gott Jedem, der zu Ihm betet, und. nahe benen, bie voll, 


Vertrauen zu Ihm ſlehen. 


Große Dinge bat Er an uns gethan, große Liebe in dies 
fem Jahre uns erwiefen,. indem, Ex die gefegnetefle Sruchtbars 
Zeit vom Himmel herabgefandt. bat. Nicht unfere Vorficht und 


Klugheit, nicht unfere Kunft, nicht unfer Fleiß, nicht des Lands 


manned Srühauffichen und Spätniederlegen bat ed gethan. 
Mir Finnen nur den Boden bearbeiten, nur duͤngen und pflüs 
- gen und den Saamen außfireuen: dad Gebeihen gibt allein der 
Herr. Er allein hat es gethan, Er, der almächtige und lieb⸗ 
reiche Vater aller Menfchen hat ed gethan; Er allein hat unſre 


Felder niit vollen Aehren geſchnckt, und bat ihr Heimbringen 


mit günfliger Witterung geſchuͤtzt. Hätte Er nicht gewollt, fo 
wäre fein Korn auf unleren Feldern gewachſen, oder dad reife 
Korn, die Hoffnung ded Landmannes und unfer Beduͤrfniß, 


waͤre vor unferen Augen wieder verborben und verfaul: Er⸗ 


kennet in jedem Sortfchritte vom Ausfäen des Korns bis zur 
Aernte, bed Herrn wunderbar wirkende Almadht, und Seine 
durch die Natur wunderbar wirkende Liebe! Wer machte, daß 


das audgefärte Kom im Schooße der Erbe zuerſt verfaultet 


Wer bewirkte, daß ed Wurzel fchlug, einen Keim trieb, und 
wie ein Grashaͤlmchen aus der Erde hervorwuchs? Wer zog 
das Haͤlmchen in die Höhe? Wer befahl. dem Thaue bie Erbe 
zu benegen? Wer hieß die Sonne ſcheinen? Wer gab der Erbe 
Kraft und Saft? Wer füllte jeden Halm mit Speife, die uns 
jest fo erquidend erfreuet! Er that ed, ber Allmächtige. Die 
. Schnitter konnten nun bei dem Gegen der Aernte mit bem 
Palmiſten froͤhliche Lieder ſingen, konnten mit ˖ ihm ſingen: 
„Die in Thraͤnen, — mit Sorgen ſaͤen, denten jetzt mit Freu⸗ 
den.” Mit Sorgen gebt der Ackersmann auf und ab, ben 
Saamen fireuend mit der Hand; mit Jubel kommt zuruͤck der 
Garbenträger. Der Here hat ed gethban: Ihm allein gebührt 
‚anfer Dank. c = 

Nicht nur heute, alle Tage wollen wir bem Herrn für 


Seine Gaben danken. Es iſt wahrhaftig ein- unriflicher Un⸗ 


dank, wenn wir bei unſerer Mahlzeit kein Dankgebet verrich- 


ten. Die Juden befhämen uns mit ihrem Beifpiel. Softten 
wir weniger dankbar feyn, als fie, ba ber Herr Selbfi mit - 








’ 
% 
— — — — — 








| — 18 — 
Seinem Tiſchgebet und das Beiſpiel gegeben bat? Dankbarkeit 
wird und am beften fchägen vor Unmaͤßigkeit, wird ſelbſt uns 
feren Genuß heiligen, daß wir bie Worfchrift des Apoſtels ber 
folgen: „Ihr möget eſſen oder trinken, ..: thut Alle im Nas 
mm unfer8 Herrn 3. ©. . 

Kein Tag vergeht, ohne daß ber Her uns Wohthaten 

erweiſet an Leib und Seele; ſo ſoll denn auch kein Tag ver⸗ 
gehen, vhne daß wir Ihm von ganzem Herzen danken. Laſſet 
uns am meiſten achten auf die Gaben, die Er uns an unſerer 
Seele erweiſet, wie Er uns warnt zur rechten Zeit, im Kampfe 
gegen bie Verſuchungen uns beiſteht, nach dem Falle, obſchon 
wir. Ihn beleidigten, uns zur Ruͤckkehr antreibt; wie Er nach 
Seinem eigenen Worte an umferm Derzen gleichfam wie vor 
der Thuͤre flieht und. anklopft und Eintaß begehrt, um und mit 
Seinen beften Gaben zu befeligen! Was iſt Waterforge unb 
Mutterliebe gegen die Sorge und Treue und Liebe, die Er täge 
lich uns erweilet! Könnten wir's einmal mit Einem Bilde 
überſehen, was Er nur einen einzigen Tag für. uns thut, ba 
wir Seiner kaum gedenken, ba es und gar nicht in ben Sinn 
tommt, daß Er mit einer folchen unermüblichen Liebe für das 
Heil unferer Seele wirkſam if; wahrlich, wir würben in lebens 
diger Erfenntnig Seiner Liebe und Treue, und unferer Untreue 
und Undankbarkeit aus dem Innerſten unfere® Herzens ausru⸗ 
. fon müflen: „Wir ſind's nicht werth, wir find’s nicht werth.“ 
Aber nicht mit. Worten allein follen wir ihm danken, ſon⸗ 


been lobpreiſen und danken follen wir Ihm vorzüglich duch 


unfere Werke und unfere Geſinnungen; follen vorzüglih Ihm 
danken durch beflere. Benutzung Seiner Gaben und Wohlthaten, 
und follen durch gute Werke und vechtichaffene Gefinnungen 
den guten Entfchlüffen ihren vollen, wahren Werth geben. „Seyd 
in Allem dankbar!” ermahnet uns der Apoftel Paulus; „denn 
das iſt der Wille Gottes in J. C. bei euch Allen.” 1. Theſſ. 
5, 18. Gott hat und nun Nahrung und Brod gegeben; das 
für follen wir -Ihm vorzüglich dadurch danken, daß wir dieſe 
Sabe für und und für Andere gut anwenden. Wäre es nicht 
grober Undank, wenn Einet das Kleid, dad ich ihm zum Ges 


4 — 


ſchenke gegeben, wegwäürfe und mit Fuͤßen träte? ?- & handelt 


Jener, der die Unterhaltungdmittel,. welche die Erbe und jet 
trug, in Unmäßigkeit und Weppigfeit verfchleudert, der Gottes 


Gaben nur dazu mißbraucht, um deflo freier ſuͤndigen zu koͤn⸗ 


nen. Huͤtet euch, daß ihr nicht dem Manne im Evangelium 
gleicht, der bei ſich ſelbſt dachte: „Nun ſind meine Fruͤchte 
reif, nun will ich ſie in Scheunen und Speicher ſammeln, nun 
will ich ein frohes, uͤppiges Leben fuͤhren und Alles thun, was 
mir gelüftet.” „Du Thor,“ hieß ber Ausſpruch des Richters, 


moch diefe Nacht wird man beine Seele von Dir fordern, und 


wo ift dann geblieben, was du gefammelt haft?“ Verſchließe 


dieſe Gottesgabe nicht in deine Scheunen, noch verſchwende ſie 


zu einem uͤppigen Leben! Verſchließe ſie in das Herz der Ar⸗ 
men, wo ſie von keiner Motte, von keinem Wurme gefreſſen 
werden! Du haſt Scheunen, den leeren Schooß der Armen; 
du haſt Scheunen, die duͤrftigen Haͤuſer der Wittwen; du haſt 


Scheunen, den hungrigen Mund der Waiſen, damit auch von 


dir geſagt werde; „Aus dem Munde der unmuͤndigen Kinder 


und Säuglinge haſt du dem Herrn Lob. bereitet.” Pſalm 8. 


Dieſe find die Scheunen, welche in Ewigkeit nicht werben zer⸗ 
Fört werden. Bedenke, die. Gabe der Freigebigkeit kehrt hun⸗ 


bertfältig zu dem Urheber des guten Werks wieder zuruͤck! 


Wenn dir die Erde reichlichere Früchte wieder gibt, als fie bes 
kommen hat; wie vielmehr wird die Vergeltung der göttlichen 
Barmherzigkeit Dasjenige, was du gegeben haft, unendlich vers 


vielfältiget‘ wieder geben! Siehe, in dem Weberfluffe deiner von 


Sott jest empfangenen Gaben, in dem wohlfeileten Preife als 
ler zu deinem täglichen Unterhalt nothwendigen Lebensmittel, 
erkenneſt du einen beſondern Beweis ber göttlichen Liebe. Je 
mehr du nun von ber göttlichen Liebe empfangen haft, um befto 
mehr fey auch bu liebreich gegen beine nothleidenden Brüber ! 

Willſt du gern danken, fo fehlt e8 dir dazu nie und nim⸗ 
mer an Gelegenheit, wenn du auch eben nicht viel an Andere 
geben, nicht viel für Andere thun kannſt. Denn fiehe, Dan 


ken iſt Lieben, und Lieben ift Gehorchen. Die wahre Liebe bes 
fieht ja darin, daß wir thun den Willen Deffen, Der aus Liebe 


ı 














‘unferen Herrn 93. €. gefanbt hat. Die wahre Liebe, der wahre 
Dank, befteht alfo vorzüglich darin, daß wir Alles aus allen 
Kräften meiden, wad dem Willen unfers himmlifchen Vaters 

zuwider iſt, daß wir alle Gelegenheiten zur Sünde meiden, von 
ben wirklichen Gelegenheiten mit muthiger Entfchloffenheit uns 
logreißen, daß wir wachen und beten und Tämpfen, um bie 
Sünde in und zu tilgen. Ein reumuͤthiges, zerfnirfchtes Herz, 
ift das befte Opfer unſers Dankes, welches wir Gott, unferm 

Vater, entrichten Finnen. Nicht nur die bitteren und herben, 
bie züchtigenden. Wohlthaten Gottes, follen und zur Beflerung 
unſers Lebend mit Nachdruck antreiben,. fondern auch vorzügs 
lich die erfreuenden. Ja, für ein gut gearteted Kind haben 
folche erfreuende Gaben noch weit mehr Kraft und Nachdruck, 
als die Prüfungen und Züchtigungen. Es erfenuet in denfels 
ben, wie überaus liebreich ber Here iſt; und jemehr es Seine 
erfreuenbe Liebe erfährt, im beflo mehr findet es fich angetrie⸗ 

ben, Alles zu meiden, was dem Herrn wißfälig, Alles zu 

thun, was Ihm wohlgefaͤllig iſt. 

Mit einer ſolchen Geſinnung wollen wir dem Herrn nicht 
nur fuͤr dieſe, ſondern fuͤr alle ſeine taͤglichen Gaben danken, 
wollen dieſe dankbare Liebe taͤglich in uns zu erhalten und zu 
beleben ſuchen, indem wir keinen Tag wollen vorbei gehen laſ⸗ 
ſen, ohne der empfangenen Gaben zu gedenken, damit wir durch 
Dankbarkeit zur Liebe gelangen und in der Liebe, wie unſere 

Vollkommenheit und Tugend, fo auch unfere Seligkeit, unſer 
Biel und Ende finden mögen, Amen. 








x 
36 — 
* 


Vierte Rede. 


| Zweite Rede am vierzehnten Sonntage nach dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


Tert: u 
„Und biefer war ein Samariter.” Luk. 17, 16. 
IJhem a: 
neber den unſchaͤtbaren Werth der Recht⸗ 
glaͤubigkeit. 


Ba einer Reiſe, welche ber Herr J. €. zum Feſte nach % 
zufalem machen wollte, nahm Ex Seinen Weg mitten durch 
Galilaͤa und Samarig, nämlich an ber Gränze her, wo dieſe 
beiden Länder von einander ſich Icheiden. Wegen des Haſſes 
zwifchen den Juden und Samaritern war dad Heilen durd) 
bad Samaritifche Land für den Juden mit vielen Unannehms 
lichkeiten verbunden, Bei der vorigen Zeftreife hatte der Herr 
Selbſt dieſes erfahren. Als Er einige Jünger in einen Sa⸗ 
maritiſchen Flecken geſchickt hatte, um. fuͤr Ihn zu beſtellen, 
nämlich Eſſen ober. Herberge, nahm man Ihn nicht auf, und 
zwar deßwegen nicht, weil, wie der Evangelifi Lukas fagt: 
„Sein Angefikt gerichtet mar, zu wandeln gen Jeruſalem.“ 
Luk. 9, 52 — 58. Afe,.aus, Religionsbaß wollte man Ihn 
nicht aufnehmen. Die Samariter waren Irrgläubige, nahmen 


nur die Bücher Mofes als göttliche an, hatten in früherer 


Beit, dem Gefeße zumider, einen eigenen Zempel auf dem 
Berge Garizim gehabt, der aber bamald zerftört war, hatten 
einen .abgefonderten Gottesdienſt gehabt, doch aber auch Theil 


nehmen dürfen-an ben drei großen Feſten in Serufalem, bis 


Einige von ihnen, gerade in dem Jahre, als der Heiland in 
Seinem zwölften Jahre im Tempel erfihien, duch muthwilli⸗ 
gen Frevel den Tempel entheiliget hatten. Kein Haß iE fo 
arg, fo unduldfam und graufam, als ber Religienöhaß: fo war 





— 4 — 

es zwiſchen den Suben und Samaritern, fo iſt es zu allen 

Zeiten gewvefen. Beide Partheien gaben ſich einander die bes 
kidigendften Schimpfnamen, und die Juden mochten es den 
Samaritern darin noch wohl zuvorthun. „Sagen wir nicht 
mit Recht,”  fprachen fie einft zu dem Heiland, „daß Du ein 
Samariter bift, und haft den Teufel?“ Joh. 8, 48. Ein 
Samariter feyn und den Teufel haben, galt alfo bei ihnen für 
dad Naͤmliche. So weit war es mit- ihrem Haffe gekommen. 


Wir leſen nun im heutigen Evangelium, daß zehn Aus⸗ 
ſaͤtige an den Meg fich flellten, wo der Here vorbeigehen wollte, 
und hm um Hülfe und Heilung anriefen, daß der Herr, ins 
dem Er fie zu den Prieflern hinwies, ihnen die Heilung vers 
fiherte; daß fie im Vertrauen auf Sein Wort hingingen und 
auf dem Wege geheilet wurden; dag neun von ihnen, ohne zu 
Ihm zuruͤckzukehren und zu banken, ihren Weg zu den Pries 
flern fortfegten; dag nur: Einer von ihnen -fogleih zu dem 
Heilande zuruͤckkehrte und mit lauter Stimme Gott pries und 
dankte. Nicht ohne befondere Bedeutung bemerkt der Evanges 
lift: „Und diefer war ein Samarit,” war alfo ein Irrglaͤubi⸗ 
ger, und gibt dadurch zugleich zu verſtehen, daß die Anderen 
whtgläubige Juden waren. Wir leſen ferner, daß der Herr 
über. den Undank der Anderen ein tadelndes Wort fpricht, und 
den Irrgläubigen wegen feiner Dankbarkeit vor jenen den Vor: 
zug gibt. Und am vorigen Sonntage haben wir gehört, wie 
der Herr in einer Parabel ebenfalls einen’ Samariter, einen 
Ingläubigen, als Muſter der Naͤchſtenliebe aufftelt, und ihm 
diefer guten Gefinnung wegen ben Vorzug gibt, nicht nur vor 
den rechtgläubigen Juden überhaupt, , ſondern ſogar vor ihren 
Prieftern und Leviten. 


Was follten die Juden, was follen auch wir baraus (era 
un, .bie wir und bed großen Vorzugs erfreuen, techtgläubige 
Batholifche Chriften zu feyn? Zwei ungemein wichtige Wahr 
beiten werben uns baburch and Herz gelegt, nämlich: 1) dag 
zwar bie Rechtgläubigkeit allein und Feine vollkommene Sichere 
beit für unfer ewiges Heil gebe, daß aber doch 2) die Recht⸗ 


. t 
t 
I — 8 — 


gläubigfeit für und von einem unſchaͤtzbaren Werth, und ein 
nothwendiges Bedingniß zu unſerm ewigen Heile ſey. 

Laſſet und jetzt auf dieſe für uns fo ungemein wichtige. 
Wahrheiten vor dem Angefichte des dem unfer Nachdenten 
richten! 


„I 

Da ber Herr fowohl in dem wirklichen Beiſpiel des heu⸗ 
tigen Evangeliums, ald in jener Parabel, einem Irrglaͤubigen 
vor Rechtglaͤubigen offenbar den Vorzug gibt, ſo moͤchte es 
Schein haben, als ob Er uns dadurch habe lehren wollen, 
uf Rechtglaͤubigkeit, aufs Rechtglauben, komme es eben 
nicht ſo ſehr an, ſondern es komme vielmehr einzig und allein 
an aufs Rechtthun. Das würde aber ein fehr übereilter 
Schluß ſeyn, ein. Schluß ohne Grund, welcher nicht nur in 
vielen anderen Worten unferd Herm, in Seinem ganzen Wan⸗ 
del, ſondern auch ſelbſt in unferm heutigen Evangelium feine 
Widerlegung finde. Das aber ergibt fich offenbar zuerſt aus 

dieſer Lehre unfer& Her: 
| dag die Nechtgläubigkeit allein vor Gott nicht gelte, vor 
Gott keinen Werth habe, wenn fie nicht mit guter tugendhaf⸗ 
ter Gefinnung und mit guten Werken verbunden fey, indem 
es in beiden Zäflen an diefer guten Gefinnung und an biefen 
guten Merken den NRechtzläubigen fehlte. Noch viel deutlicher 
und beftimmter lehrte diefes unfer Heiland 3. C. in mehreren 
Gefprächen mit den Suden, als dieſelben groß darauf thaten, 
daß fie Abrahams Kinder feyen. „Waͤret ihre Abrahams Kins 
ber,” fprach Er, „fo folltet ihr Abrahams Werke thun.” „Gott 
Tann auch aus Steinen dem Abraham einen Samen erweden.” 
Das heißt: „Der rechte, wahre Glaube ift nicht an euer Volk 
gebunden, Gott kann allenthalben, wo Er. will, Rechtgläubige 
Sich erweden.” Und Tann es wohl anders feyn? Der rechte, 
wahre Glaube ift Seine Gabe, iſt die größte aller Gaben Got⸗ 
tes, ift die Quelle aller übrigen Gaben. Diefe Gabe wird aber 
dazu gegeben, daß: man fie gebrauhe, daß man fein Leben 
darnach einrichte, dag man durch biefelbe zur wahren Tugend 


— 1 — 


mb Gerechtigkeit gelange. Wer nun dieſe Gabe dazu nicht 
gebraucht, weſſen Lebenswandel und Gefinnung mit feinem 
Stauden Im Widerfpruche fleht, dem muß diefe Gabe um deſto 
mehr zur Werantwortung bienen, je größer und koͤſtlicher fie 
it. Wer fie aber recht. gebraucht, wer fein Leben nach dem 
Guben einrichtet, der gelangt durch denfelben zur Tugend und 
Seechtigkeit. Darum heißt e8: „Der Gerechte lebt aus dem 
Glauben; das heißt, er findet in feinem Glauben alles, was 
ihm zur Nahrung feines inneren Lebens nothwendig iſt; fo wie 
der Menſch dem Keibe nach von der täglichen Nahrung fein 
Lehen unterhält, fo unterhält er dem Geifte nach fein Leben 
durch die tägliche Nahrung des Glaubens.” In diefem Geift 
und Sinne fpricht Jakobus: „Was hilft's, Liebe Brüder, fo 


Jemand fagt, er habe ben Glauben, hat aber die Werke nicht? 


Wird der Glaube allein ihn felig machen Fönnen?.. Wenn ber 
Glaube nicht die Werke hat, fo iſt er tobt in fich felber.. 


Willſt du wiffen, o leerer Menfch, daß der Glaube ohne Barle 
tobt ſey? Iſt nicht Abraham, unfer Vater, durch die Werke 


‚ gerechtfertiget worden, welcher feinen Sohn Iſaak auf dem 


Opferaltar darbrachte? Siehſt du nicht, daß der Glaube zu 


ſeinen Werfen mitwirkte, und durch die Merfe vollendet wurs 


wi... Sehet ihr nicht, daß der Menfch durch die Werke ges 


wötfertigt wird, und nicht durch den Glauben allein? .. . 


Dem gleichwie ber Leib ohne ben Geiſt tobt iſt, — alfo ift 
an der Glaube tobt ohne die Werke.” Sal. 3, 14.... O, 
m Z.! erfreuet euch im Herrn, und danket Ihm von Herzen, 


daß ihr rechtglaͤubige Fatholifche Chriften feyd! aber achtet wohl - 


auf die Warnung unferd Heilanded und auf die Lehre Seines 
Fuͤngers! ſeyd wohl auf eurer Hut, daß ihr durch ein vermefs 
ſenes Vertrauen auf eure Rechtgläubigkeit euch nicht einwiegen 


laſſet in eine falfche, gefährliche Ruhe und Sicherheit in Anz 
; hung eueres ewigen Heils! huͤtet euch wohl vor dem gefaͤhr⸗ 


lichen, verderblichen Wahne, als wenn der rechte Glaube allein 
(don einen ſicheren Anſpruch auf den Himmel gebe? Seyd 
wohl auf eurer Hut, damit nicht an euch in Erfüllung. gehe 


die Drohung des Herrn 3. C.: „Die Leute von Ninive wer⸗ 
“a. Se ul 4 


1 — ————— — — — — — 


— a — — 


og 


Glauben haben wir nun nicht mehr zu änderen; dem bieler 


den mit, euch auferftehen zu dem Gerichte und euch verdam⸗ 


menz benn fie thaten Buße — . fie änderten ihr. Leben nach 
dem Glauben, — auf die Predigt ded Jonas.“ Es werben 


kommen vom Aufgange und Niebergange, und im Reiche Got- 


tes zu Tiſche figen; die Kinder des Reiche aber werben ausge⸗ 


ſtoßen werden.“ 
Aus dem Betragen der Juden in unſerem heutigen Evan⸗ 


gelium geht auch eine wichtige Warnung fuͤr uns hervor. Wenn 
der Rechtglaͤubige nicht eifrig. ſtrebt, fein Leben nach dem Glau⸗ 
ben einzurichten, und bie Werke und Gefinnungen zu, üben, 
welche der Glaube vorichreibt; dann führt das vermeflene Ver⸗ 
trauen auf Rechtgläubigkeit ihn fehr leicht fogar zum Unglau⸗ 
ben; und fo wird beflätiget dad Wort: „Wer nicht braucht, 
was er hat, dem wird auch dad, was er hat, genommen.” 
Seht! die Juden waren Rechtgläubige; aber nur bis zu de 
Ankunft des Meſſias. „Das Gefeg und die Propheten,” ſpricht 
bee Herr, „sehen bis auf Iohannes den Täufer.“ Won kr 


Zeit an waren und blieben fie die Hartnädigften und Werfod: 


teften im Unglauben, wie es nicht nur die Geſchichte der Apo⸗ 
fiel,. wie es auch die Geſchichte des heutigen Tags fo beutlic 
und lehrt. Als dagegen Philippus, der nicht einmal ein Apo⸗ 
fiel war, in Samaria, auftrat, und die Lehre des Heils vers 
kuͤndigte, fand. er überall die größte Aufnahme. Ap unferem 


| 
| 











bat durch die Lehre 3. C. und Seiner Apoftel feine Wollen 
dung erreicht, und wird in aller feiner. Reinheit und Wahrhei 
von der Kirche mit der größten Sorgfalt. immer aufbewahrt 
Aber an unferem Wandel und an unferen Werken haben wi 
nach der’ Lehre des Glaubens immer zu Anderen und zu befle 
ven. Wer dad unterläßt und ein falfches Vertrauen auf fei 
Rechtgläubigkeit fegt, für dem verliert der Glaube felbft imm 
mehr feinen Werth; und biefer wird, wenn es auch ‚mit i 
nicht immer zum offenbaren Abfall und Unglauben kommt, 
wenigftend im höchflen Grade. gleichgültig gegen feinen Gla 
ben, den er bei jeber Gelegenheit durch feinen Wandel, fe 
Werke und Sefinnungen entehrt, und durch die hat ſell 


— 6 — 
verleugnet. Können die h. Sakramente wohl einen Werth has 
ben für den, der durch eigene Schuld ihre Früchte nicht ers 
führt? Kann das. Saframent der Beichte wohl einen. Werth 
haben für den, der dadurch nicht befler wird und immer in 
feinen alten Sünden bleibt? Kann felbft die Kommunion 
wohl einen Werth haben für den, dem bie innige Vereinigung 
mit feinem Heilande fo wenig nutzt? O Gott, Dir iſt es bes 
fannt, daß die Zahl folher Gleichgültigen unter und fo groß 
it, und immer zunimmt. 

Dann wollte 3. C. allen. Rechtgläubigen noch die Wars 
nung geben, Keinen, ben fie für einen Srrgläubigen halten, 
um der Verſchiedenheit des Glaubens willen zu haflen, zu rich⸗ 
ten und zu verurtbeilen. Die Juden hegten gegen die Gas 
mariter, die fie für Abtrünnige anfahen, einen noch größeren 
Haß, als felbft gegen die Heiden. Deßwegen nahm der Heis 
land die Perfon der Sergläubigen — die Perfon, nicht aber 
ihre Irrlehre, — gegen den Haß und die Verfolgung ber Zus 
den in Schuß, und zeigte durch Sein Beifpiel, daß Seine 
Religion eine Religion allgemeiner Menfchenliebe fey. Liebe, 
berzliche, thätige Liebe gegen Jeden ohne Unterfchied ift ber 
Geiſt unferer h. Religion, wodurch diefelbe über jede andere 
fo ſehr fich erhebt. Liebe follen wir Jedermann beweifen, ohne 
erft zu fragen: „weſſ' Glaubens bift du” Wären wir mehr 
Eins in der Liebe, fo würden wir auch gewiß mehr Ein wers 
den im Glauben. Eben fo wenig follen wir einen Irrglaͤubi⸗ 
gen richten. und verurtheilen. Das Gericht gebührt allein dem 
Heren, Der allein darüber erfennen Tann, im wie fern ber 
Irrthum eined Irrgläubigen verfchuldet fey, oder nicht; Der 
allein entfdeiden kann über bie. Hinderniffe und von frichefter 
Jugend an eingefogenen Vorurtheile, die fo manchen Irrglaͤu⸗ 
bigen — vielleicht ohne feine Schuld ”— von der reinen Er⸗ 
kenntniß der Wahrheit abhalten. Gott ift gerecht, und. wird 
nicht Arnten wollen, wo nicht gefäct ifl, und wird einen eben 
‚richten nach dem Mage feiner Erkenntniß. Nehmen wir uns 
ja in Acht, daß wir nicht Durch voreiliges, Lieblofed Urtheil ei- 
nen freventlichen Eingriff thun in. Sein göttliches Richteramt! 

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— 62 RR 
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II. 

Was follen wir dann zuletzt noch fagen? — Sollen wir 
fagen: „Es kommt ganz allein an auf Rechtſchaffenheit und 
Tugend; ed iſt daher Eined und das Naͤmliche, in welchem 
Glauben du Iebft. Bleibe bei deinem Glauben, und thue recht, 
fo wirft du Gott gefallen und felig werden?” Das fey fern! 
Erinnern wir und, wie ber Herr Selbft dem wahren Glauben 
das Zeugniß gibt, als Er zu der Samariterin am Brunnen 


ſprach: „Das Heil kommt aus den Juden!“ Bemerken wir’s 


wohl, daß die Samariter in der Grundlehre ihres Glaubens 
mit den Juden übereinftimmten; nämlich in ber Erwartung des 
Meſſias, weldhe auch die Grundlehre ded Judenthums war; 
und iſt nicht die Lehre von der wirklichen Sendung des Mef 
ſias auch die Grundlehre ded ganzen Chriſtenthums? Zu diefer 
Lehre bekannte ſich der ausſaͤtzige Samarit, ald er hinging, um 
ben großen Wunderthäter um Rettung anzuflehen, und als er, 
fobald er fich geheilt fühlte, zuruͤckkehrte, um feinem göttlichen 
Wohlthaͤter feinen Dank abzuftatten. Wer folhe Werke ver- 
richten Fan, muß aus Gott, muß von Gott gefendet, muß der 
Berheißene Selbſt feyn:. das war fein Glaube; darum ſprach 
‚auch der Heiland: „Sehe hin, dein Glaube hat dir geholfen!“ 
Alſo feines - Glaubens wegen war ihm geholfen; alfo dem 
wahren Glauben, der Rechtgläubigkeit gibt der Heiland 3. C. 
vielmehr das Zeugniß, ald daß Er der Gleichgültigfeit im Glau⸗ 
‚ben, welcher es gleich viel ift, zu welchem Glauben man fi 
befennt, dad Wort hätte reden follen. Und wie wäre das auch 
möglich, da Er ja in fo vielen, unzähligen Stellen des. Evan- 
geliums mit dem.größten Nachdrud auf Glauben dringt, alfo 
doch wohl auf den wahren Glauben, als auf ein unumgänglich 
nothwendiged Bedingniß zum Heile und zur Seligkeit, da Er 
Sein göttliched Lehramt befchloffen hat mit den Worten: „Wer 
glaubt und getauft wird, ber wird felig werden; wer aber nicht 
glaubt, der wird verdammt werben!” Mark. 16, 16. 
Wenn ed je nothwendig war, gegen bdiefe Gleichgültigkeit 
im Glauben zu warnen, fo ift e8 wahrlich zu unferer Zeit, da 


| | 
biefe Gleichguͤltigkeit fo fürchterlich um fich greift, fo viele 
WVerderben ftiftet, und mit dem Glauben auch die Sittlichkeit 
zu Grunde richte. Wir willen, welche Anftalten der gütige 
Gott getroffen hat, um den wahren Glauben auf Erden zu 
runden, zu verbreiten und zu erhalten; wie Er burch den 
hriftlichen Lehrſtand, durch die h. Schriften, und durch bie 
mündliche Weberlieferung unter der beftändigen Aufficht ber vom 
b. Geiſt erleuchteten Kirche dafür geforgt hat, daß bie wahre 
Echre des ewigen Heild immer rein und vollfländig erhalten 
if. Aus dieſer Quelle Finnen wir eben fo ficher fchöpfen, als 
wenn wir dad Gluͤck gehabt hätten, 3. C. und die Apoftel 
felbft unmittelbar zu hören. Würden wir nicht im hoͤchſten 
Grade fahrläffig, undankbar und ſtrafwuͤrdig ſeyn, wenn wir 
gegen dieſe göttliche Lehre gleichgültig blieben ? 

Das ganze Chriſtenthum beruht, eben fo wie bad Juden⸗ 
thum, auf dem Glauben an den Meffiad; das ganze Chriſten⸗ 
thbum berubet auf dem Glauben, daß 3. ©. von Gott gefandt 
fey zum Hell der Welt. „Wer nicht glaubt,” fagt Johannes, 
„vaß Jeſus der Chriftus fey, der ift verworfen.” " Gtauben wir” 
aber an Ihn, fo bleibt uns Feine Wahl übrig, fo müflen wir 
auch Alles glauben, was Er gelehrt hat. Durch Ihn iſt Gott 
unferer verberbten- Natur zu ihrer Wieberherftellung zu Hülfe 
gekommen, bat und Lehren gegeben, um unferen durch die 
Sünge geſchwaͤchten Verftand zu erfeuchten, um und von Un- 
wilfenheit und Irrthum zu befreien, um uns mit Gott und 
Seinen Eigenſchaften, und mit: dem unerforfchlichen Rathfchluß 
Seiner Barmherzigkeit und Liebe gegen und Menfchen bekannt 
zu machen. Das find die Glaubenslehren, die wir auf das 
untrügliche Zeugniß des Allwiffenden gläubig annehmen follen, 
damit wir dadurch Ihm, dem Allweifen. immer ähnlicher werden 
mögen. Durch Ihn bat und Gott zugleich Vorſchriften für 
unfer Verhalten gegeben, um unfer, durch die Sünde verdors 
bened Herz gegen die Anfälle finnlicher Begierden ficher zu 
ſtellen, um unfere Gefinnung zu reinigen und. zu heiligen. Das’ 
find. die Sittenlehren, welche uns genau und beutlich vorſchrei⸗ 
ben, was wir. zu meiden und zu thun haben, um durch Que: 


— 54 — 
gend und Heiligkeit unſerem himmliſchen Vater aͤhnlich und 
wahrhaft gluͤckſelig zu werden. In dieſen hat der Heifand J. 
C. uns die reinſte Lehre gegeben, die je auf Erden iſt verkuͤn⸗ 
diget worden; ſo daß Er ſelbſt davon ſagt: „wer ſie befolge, 
wuͤrde es erfahren, daß ſie aus Gott ſey!“ und in den Glau⸗ 
benslehren hat Er uns die kraͤftigſten Antriebe gegeben, um fie 
- befolgen zu wollen, und burch Seinen Tod hat Er und bie 
nothwenbigen, uͤbernatuͤrlichen Gnadenmittel erworben, um fie 
befolgen zu koͤnnen. Nicht die Irrlehre hat 3. C. in Schuß 
genommen, vielmehr hat Er ja Sein gauzed Leben dazu anges 
wendet, jebe Irrlehre, -mochte fie unter Juden oder Samariten 
fich befinden, mit dem größten Eifer und Nachdruck zu bekuͤm⸗ 
pfen, wie Er dann von Sich Selber fagte: „Er fey gefommen, 
der Wahrheit Zeugniß zu geben,” und im Kampfe für die 
Wahrheit Sein Lehen zum Opfer bingegeben hat. Darf uns 
die Wahrheit nicht gleichgültig feyn, fo darf uns am allerwe⸗ 
nigſten der Glaube gleichgültig ſeyn, welcher ber Inhalt der 
Wahrheit iſt. Darf und Nechtfchaffenheit und Tugend nicht 
‚ gleichgültig feyn, fo darf es auch ber wahre Glaube nüht, wel- 
her und den Weg zur Tugend mit ſicherer Hand führt, und 
alle Mittel, um dazu zu gelangen, in veichlichfter Fuͤlle barbietet. 
Mas nun der Herr von dem Gefehe bed alten Bundes feier: 
lich erflärt hat, baß nicht das kleinſte Strichlein von bemfelben 
ſolle verloren gehen; das müffen wir boch um deſto mehr auf 
dad Geſetz bed neuen Bundes, auf bie Lehre I. C. und Geiner 
- Apoftel anwenden. Nicht der kleinſte Strich davon fol für 
uns verloren gehen, wir muͤſſen Alles ohne Ausnahme, was in 
diefen Lehren enthalten ift, gläubig annehmen. Alles hängt fo 
innigft zufammen, daß dad Ganze zufanmen fällt, wenn nur 
Eined hinweggenommen wird, 
unnd dahin iſt es in unferer Zeit gekommen, daß man mit 
frevelnder Hand eingegriffen hat in die goͤttliche Offenbarung, 
und unter den Glaubeslehren eine willturuche Auswahl zu 
treffen ſich erkuͤhnt hat. 
Dahin iſt es gekommen, daß Viele von den Glaubens⸗ 
lehren nur jene annehmen wollen, die ſie mit ihrer ſchwachen 














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* 55 
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Bernunft begreifen können, und bie Sittenlehren fo zu deuten 
wiffen, daß fie ihren unordentlichen Begierden am wenigflen 
befchwerlich fallen; die alfo in ihrem anmaßenden Stolze dem 
himmlifchen Water vorfchreiben wollen, was Er und ald wahr 
und nothwendig hätte befannt machen, und was Er ald unnüß 
und überflüffig hätte weglafien ſollen. Wahrhaftig, eine flolze 
und ſtraͤfliche Anmaßung fhwacher, Eurzfichtiger Gefchöpfe, welche 
fogar den Alwifjenden meifteren wollen; eben fo thöricht und 
noch thörichter, ald wenn ein Blindgeborner in einer, ihm un- 
bekannten Gegend mit einem Sehenden über den rechten Weg 
fireiten wollte. Und doch find Wiele unferer Zeit, die fich noch 
Chriften neunen, folche Thoren. Die Sitfenlehre des Evange⸗ 
liums will man allenfalld noch gelten laſſen, weil man deutlich 
einfieht, daß mit dem Verfalle derfelben, auch die Ruhe und 
Sicherheit, dad Gluͤck und die Wohlfahrt unferes Gefchlechts 
zu Gründe geben müßte. Ganz anderd denken aber Biele un- 
ſerer Beitgenoffen über die Glaubenslehre des Evangeliums. 


. Mit diefer, meinen fie, dürfe man's fo genau nicht nehmen; 


für ‚Gott und Menſchen fey ed gleichgültig, ob man ſo ober 
anders denke; eine ober andere mehr oder weniger ‚annehme, 
wenn man. nur die Sittenlehre annehme und befolge Darauf‘ 
berubet bie große Gleichguͤltigkeit unferer Zeit gegen die Glau⸗ 
benölehre, und. gegen bie. von einander abweichenden Religions- 
belenntniſſe. Man hält es für einerlei, ob man zu biefer ober 
jener ſich halte; in allen babe man ja die nämlichen Gebote, 
und dieſe allein ſeyen bie Hauptfache, diefe allein bezeichnen - 
ben Weg zum ewigen Leben. Zu welchen traurigen und ſchreck⸗ 
lihen Berirrungen und Ausfchweifungen diefe Gleichgültigkeit am 
Ende führt, hat dig Gefchichte unferer Zeit Deutlich genug ge⸗ 
lehrt, und. lehrt fie. noch alle Vage. Hat man einmal ‚eine will: 
kuͤrliche Auswahl unter den Glaubensichren fich erlaubt, ſo 
veißet die. anmaßende Vernunft eine nach ber anderen nieder, 
bis zuletzt nichts non der göttlichen Offenbarung mehr übrig 
bleibt, als hoͤchſtens der Glaube an Bott und an die Unfterb- 
lichkeit, und auch dieſer Glaube wird erfchüttert, wenn man 
XR 





— 66 — 


bie goͤttliche Offenbaruig einmal weggeworfen bat. Troſtlos 
und ohne Hoffnung ſteht dann der Menſch da in der Welt. 
Und in ſolche Verirrung und Ausſchweifung mußte der 
Menſch gerathen, ſobald man den Schiedsrichter, den der Hei⸗ 
land J. C. angeordnet, und durch den h. Geiſt mit der Gabe 
der Unfehlbarkeit ausgeruͤſtet hat, um uͤber die Glaubenslehren 
zu entſcheiden, und jeder willkuͤrlichen Auswahl Schranken zu 
ſetzen, ſobald man das von Ihm angeordnete Lehramt Seiner 
Kirche nicht mehr annehmen wollte, und eben dadurch von 
Seiner Kirche durch die That ſich losſagte, wenn man auch 
von ihrem Namen ſich nicht losſagen wollte. Dieſe Anordnung 
allein konnte in Seiner Kirche die Einheit in der Lehre erhal⸗ 
ten, wie fie dieſelbe auch ſtets in derſelben gegen bie gefährliche 
fien äußeren und inneren Angriffe und Spaltungen erhalten 
hatz diefe Anorbnung allein konnte den Gläubigen eine fefle, 
unerfchlitterliche Beruhigung geben uͤber die wichtigfin Wahr⸗ 
heiten unſers Heils. BE u 
Diefe Beruhigung hat ihren Grund in ber Lehre von ber 
Unfehlbarkeit der Kirche, als höchften Glaubensrichter, Der 
nach der Verheißung, die 3. E. Selbſt gegeben bat, in der 
Erklärung und Auslegung aller Seiner und Seiner Apoſtel 
Ausfprüche und Lehren fich nicht irren Tann. Gntweber: muß 
und nun wenig gelegen feyn an den weientlihen Wahrheiten: 
unferer h. Religion, und wir müffen den Troſt ihrer Verheißun⸗ 
gen noch gar nicht geloftet, und die Kraft der in unſerer Kirche 
angeorbneten Heilsanftalten noch gar nicht erfahren haben, oder 
es muß den hoͤchſten Werth, der fich nur denken läßt, für und 
baben, über den wichtigen Sinn jener Wahrheiten und Lehren, 
und über die kraftvolle Wirkſamkeit dieſer Anſtalten eine völlige 
Beruhigung und Gewißheit haben zu koͤnnen. Entweder muß 
und z. B. gar wenig gelegen feyn an ber Lehre unferer Kirche 
über dad h. Sakrament des Altars, an ber Lehre, dag 3. ©. 
als Gott und ald Menſch wahrhaft in demfelben gegenwärtig 
ſey, daß Er — nicht blos im Augenblid der Empfahung, fon= 
bern immerdar in bemfelben gegenwärtig fey und bleibe, daß 
wir Ihn in dem hochwuͤrdigſten Gute als Gott unb als Menſch 








-. 8. — 


wirklich vor Augen haben, Ihn dort anbeten, zu Ihm unfere 
Zuflucht nehmen, wor Ihm umfer Herz ausfchütten und erleich- 
tern dürfen; oder es muß und über Alles werth feyn, Uber die- 
Wahrheit und den richtigen Sinn bdiefer Lehre eine völlige Be⸗ 
tuhlgung und Gewißbeit zu haben. Ie erfreulicher und troſt⸗ 
wider dieſelbe fir und iſt, jemehr fie den innerſten Beduͤrf⸗ 
nen unferes Herzens entipricht, um beflo mehr muß und an 
diefer Beruhigung gelegen feyn. So beftimmt und deutlich die 
Borte 3. C. über diefe Lehre immerhin auch feyn mögen, fo. 
hat doch die anmaßende Vernunft, welche dem untrüglichen - 
Lehramt der Kirche fich einmal entzogen hatte, den Sinn dieſer 
Lehre auf die verfchiebenfle Art zu deuten gewußt, und Dadurch 
die Gläubigen in Verwirrung gebracht. Wie follten nun dieſe 
fih helfen,. und zurecht finden Finnen, da ed den Meiften an 
Zeit, Gelegenheit und Bildung fehlt, in der heil. Schrift felbft 
zu forfchen, wenn bie angeſehenſten Männer ihre Glauben, 
über diefe Lehre an nerfchiebenen Dertern, zu verfchiebenen Zeis. 
ten, und auch zu jetziger Zeit gar nicht Eind waren; wenn die: 
Einen behaupteten: „dieſe Lehre muß fo,” die Anderen dages. 
gen: „Nein, fie muß fo verflanden werben?” mußte ihnen nicht 
om Ende die ganze Lehre felbft verhächtig werden? Und müßte 
ed nicht nothwendig am Ende dahin kommen, wenn man fi 
in Auslegung ber h. Schrift, und ihrer Lehren bloß auf Mens 
Ihn als auf Menfchen zu verlaflen hätte? Wir verlaffen, 
und aber. dabei nicht auf Menfchen, fondern auf den h. Geift, 
der bie verfammelten Vorſteher unferer Kirche in biefer aller: 
wihtigften Angelegenheit in alle Wahrheit leitet, und Der nach 
der Verheißung 3. €. bei ihr bleiben wirb bis zum Ende der 
Belt, Darum war und iſt dann in unferer Kirche zu allen 
Beiten, und an allen Orten Einheit und Uebereinſtimmung: 
was in den erfien Zeiten bed Chriftenthums gelehrt wurde, Das 
wird auch jeßt .bei und gelehrt; und Feine einzige von den wen, 
ſentlichen Lehren, die jetzt gelehrt werden, ſteht mit einer, die 
in der erſten Zeit ober zu irgend einer Zeit in unſerer Kirche 
gelehrt wurbe, in dem mindeflen Widerfpruche, ift vielmehr in 
irgenb einer biefer Lehren gegründet, und Daraus hervorgegangen. 





_8 _ 

Können wir daher unferem: Henn 3. 6. wohl genug 
danken, daß Er nach Seiner Weisheit und Liebe eine fo vor 
treffliche Anftalt zu unferer Beruhigung und Weberzeugung ge⸗ 
troffen hat? Können: wir eine größere Gewißheit verlangen, 
als jene, die der h. Geiſt, die Gott Selbft: und gibt? Heißt 
das — feinen Verftand In unwuͤrdige Feſſeln ſchlagen laffen, 
wenn man ihn — nicht Menſchen, fondern einer Perfon in der 
Gottheit — unterwirft? Laffet und vielmehr wit dem innigften 
Danke dieſen großen Vorzug anerkennen, den und ber göttliche - 
Stifter unferer h. Religion in der vollkommenſten Beruhigung 
und Gewißheit über alle wefentliche Lehrſaͤtze unſeres Glaubens 
gegeben hat, und Laffet und biefen Dank vorzüglich Durch treue, 
unerfchlitterlich fefte Anhänglichkeit an unferem Glauben beweifen ! 
Wenn wir diefe großen Vorzüge unferer Kirche. wohl er⸗ 
wägen; dam muß: wohl natürlich der Wunſch inniger Liebe 
in und auffteigen, daß alle von und getrennten Brüber wieber 
mit und möchten vereiniget feyn, daß wir Alle feyn möchten, 
wie ed bereinft noch feyn wird, En Hirt, Eine Heerde, Ein 
Schafftall, daß. fie mit. und Theil nehmen möchten an dem gro⸗ 
Ben Zrofte, und an ben großen Sütern, derer wir und zu er⸗ 
freuen haben; dann ifi es wahre Liebe, wenn wird von Her⸗ 
zen bedauern, fie. dieſes Troſtes und diefer Gäter beraubt zu 
fehben. Doch — nehmen wir und in Acht; daß wir ihnen kein 
Recht geben, auf und anzuwenden dad Wort: „Bedauert nicht 
und, weinet vielmehr über euch ſelbſt und euere Kinder” 
Henn Biele unter ihnen, ohne ihre Schub dieſer größeren 
Güter beraubt, die wenigeren, die fie haben, weit beſſer benugen, 
um zur Tugend und Vollkommenheit zu gelangen; bärfen 
wir fie dann richten? Nein, richten und urtheilen follen wir 
über Feine Perfon, das hat und der Heiland 3. €. mit Wort 
und Beifptel gelehrt; aber unerfchütterlich feſt follen wir halten 
an die Lehre unfered Glaubens, deren Wahrheit der h. Saft 

Selbſt und verbärgt. 
Das heutige Evangelium lehrt und, welch einen kopen 
ſtWerth wahre Dankbarkeit in den Augen Gottes habe. Laffet 
und daher ja nicht vergeflen, Gott für die größte aller Gaben 











— WB — 


zu banken, die wir aud Seiner Hand empfangen Tonnten, für 
die Gabe, in dem wahren Glauben zu leben, aufgenommen zu 
feyn in den mütterlichen Schooß einer Kirche, weiche vor allen 
anderen die Mittel darbietet, um zug ewigen Seligkeit zu ges 
langen!. Milde und aufrichtig, ſchonend und liebreich wollen 
wir, wie unfer Glaube es uns lehrt, feyn gegen Jedermann 
ohne Unterfchied des Glaubens; aber für unferen Glauben felbft 
wollen wir fliehen mit Gut und Blut, mit 2eib_und Leben. 
Danken wollen wir aus ganzem Herzen für bie große Gabe 
des wahren Glaubens. Uns. fol der Vorwurf nicht treffen, 
daß unter Zehn von uns nur Ein Dankbarer fich finde! Keiner 
von und fol den neun Undankbaren fish beigefellen! Danken 
. wollen wir dem Herrn von Herzen für bie großen Troͤſtungen 
und Heildmittel, die Er und in unferer b. Fatholifchen Religion 
zum Erbtheil Hinterlaffen hat. Danken wollen wir Ihm vor⸗ 
zuͤglich fire den großen Troſt, und für die wahre, heilige, himm⸗ 
tifche Gnade, die Er. und durch Seine perſoͤnliche Gegenwart 
in dem heil. Sakrament bed Altars gewaͤhrt. Danken wollen 
wir Ihm, daß Er uns in diefem heil. Sakramente fo innigfe 
nahe ift, auf eine fo wunderbar innige Weile mit und Sich 
vereiniget, in und bleibet und lebet, damit wir in Ihm bleiben: 
und leben, und in Ihm und durch Ihn viel Frucht bringen, 
damit die Liche, womit Er und geliebt hat, in uns fey, und 
wir in Ihm. Amen. 


— ® — 
Fünfte Rede 
Dritte Rede am vierzehnten Sonntage nad) dem 
Seite der h. Dreifaltigkeit 


Tert: 
„Stehe auf, geh hin! dein Glaube hat dir geholfen. “ 
sul. 17,319. - 
Sheme: 
Auguflinus in feinem Falle und in feiner 
Belehrung. 


„Suse auf, gebe hin! bein Glaube hat bir. geholfen. “ Luk, 
17, 19. Dieſes Wort, welches unfer Her J. €. zu dem ge⸗ 
heilten Ausfägigen fprach, Tann auch mit Recht auf bie Hei⸗ 
lung und Begnadigung eines jeden Sünberd angewendet wers 

. den. Was der Ausſatz am Leibe if, wie der Ausſatz den Leib 
aufs ſcheußlichſte entſtellt, und alle feine Theile bis auf Mark 
und, Knochen zerfrißt, das ift die Suͤnde an, der Seele, indem 
fie da8 ihr eingedruͤckte Ebenbild Gottes: Unfhuld und Heilig⸗ 
keit, ebenfalld aufs haͤßlichſte entftellt, ihr Die Gnade Gottes 

raubt, und in ihrem innerfien Weſen Alles, was gut, was 
göttlich iſt, gänzlich vertilgt: Wie der Ausſatz, wenn er einen 
gewiffen Grad, erreicht hatte, unheilbar war, fo iſt e8 auch mit 
der Sünde. Nur der Herr Tann durch Seine Gnade unfere 
Seele von diefem haͤßlichen Ausfag der Sünde wieber heilen 
und reinigen. Dieſes that der Herr an jedem Sünder, der ſich 
aufrichtig zu Ihm bekehrt; das hat ber Herr auf eine ganz 
audgezeichnete Art bewiefen an dem h. Auguftin, deſſen Zefts 
tag wir morgen feiern. 

Die Jubilaͤumszeit, die wir jebt angefangen baben, ſoll 
uns eine chriftliche Uebungszeit fey, um unfere Bekehrung, Reis 
nigung und Heiligung zu befeftigen und zu vollenden. Um in 
diefen guten Vorhaben treu zu beharren, bebürfen wir bei 





— 61 — 


unferer großen Schwachheit, Unentſchloſſenheit und Unbeſtaͤndig⸗ 
keit nichts ſo ſehr, als der großen, ermunternden Kraft des 
Beiſpiels, welches weit mehr, als Wort und Lehren ed ver⸗ 
mögen, auf uns wirft. Und in Wahrheit, ein lehrreicheres 
Befpiel für Sünder aller Art, für geringe und für große Suͤn⸗ 
der, für Sünder auf jeber Stufe des Verderbens hat uns die 
ganze Kirchengefchichte nicht aufgeftelt, als das Beiſpiel des 
h. Auguftinud. Am lehrreichſten ift es für Sünder, deren Zahl 
fo groß ift, für diejenigen Sünder, die oft fo lange Zeit mit 
halben Vorſaͤtzen, die Feine find, und keine Beruhigung geben, 
fih Hinhalten; in keinem Beiſpiele eines Heiligen zeigt fich fo 
auffallend der Unterfchieb zwifchen jenen halben Scheinvorfägen, 
und zwifchen dem aufrichtigen, feften Worfahe, der, feines er- 
zungenen Sieged fi bewußt, auf einmal volle Beruhigung 
gewaͤhrt, und bad Herz bed bekehrten Sünders mit der Seligs 
keit des Dankes und der Liebe erfuͤllt. 


I. 


Wegen Kürze der Zeit werben wir bloß auf die Gefchichte 
feined Falls und feiner Bekehrung, die er felbft in feinen für 
Jedermann fo ungemein Iehrreichen Belenntniffen mit der tiefe 
fin Demuth und mit der größten, ruͤhrendſten Aufrichtigkeit 
und aufbewahrt hat, und befchränten muͤſſen. Obfchon der h. 
Anguſtinus die größten Ausfchweifungen in der Unkeufchheit und. 
Wolluſt begangen hat, fo war doch nad). feinem eigenen Bes 
kenntniß der Hochmuth die Hauptneigung, bie ihn von frühes 
fir Zugend auf am meiften beherrfchte; fo ging dann auch an 
ihm in Erfüllung der Ausſpruch: „Hochmuth kommt vor dem 
Tl,” Andere Knaben, fowohl in ihren Spielen, ald im Ler⸗ 
nen zu übertreffen; das war fein Ehrgeiz, ber ihn fchon in 
der Kindheit und im Knabenalter ganz beherrfchte Schon in 
feinem 16. Jahre, welches er befonderer Umflände wegen ohne 
Beſchaͤftigung im Müßiggange, welcher für die Jugend fo ges 
faͤhrlich iſt, zubrachte, gerieth er in böfen Umgang, und das 
dur) auf den Weg des Verderbens. Um deſto firafbarer wa⸗ 
ven fchon jegt und wurben nachher alle feine Wergehungen, 


‘ nu 6R 


weil er eine ganz vortreffliche, eine wahrhaft heilige Mutter 
hatte, die h. Monika, die ſtets mit der groͤßten Sorgfalt uͤber 
ihn wachte, die durch ihr Beiſpiel, durch ihre Liebe, durch ihre 
Ermahnungen, und vorzuͤglich durch ihr Gebet am meiſten zu 
ſeiner Bekehrung beigetragen hat. Eine ſolche, ſo liebende 
Mutter mußte er lieben; die Liebe gegen ſie verließ ihn nie⸗ 
mals ganz, auch nicht in Mitte feiner Ausſchweifungen, und 
biefe Liebe hat ihn gehalten und gerettet. In Monika erblik⸗ 
ten wir das fchönfte Beilpiel von der großen Macht und bem 
fiegreichen Triumphe der mütterlichen Erziehung. Das Weis 
fpiel einer frommen. Mutter hat ſchon manchen audgearteten 
Sohn vom mdlihen Verderben gerettet. Dad fcharffichtige 
Mutterauge entdedte fchon frühe imSohne den erwachten Hang 
zur Unkeuſchheit; aber umſonſt waren alle ihre Bitten und Ers 
mahnungen; fo tief war Auguflinus ſchon gefunfen, daß er 
diefe Ermahnungen nur für aͤngſtliche Weibergrillen anfah; fo 
ſchnell hatte der böfe Umgang. ihn. fhon ins Werverben herab- 
gerifien, daß er, nach feinem eigenen Geftändniß, nicht fo fehr 
ud Luft und Neigung, ald vielmehr aus falfcher Scham, um 
feinen Gefellen im Boͤſen nur nicht nachzuftehen,, unkeuſche 
Sünden auf Suͤnden beging, und nachher diefer Sünden ſich 
rühmte. Seht, wie der Hochmuth vor dem Zalle kommt; feht, 
wie fo leicht Hochmuth und Unkeufchheit in dem Herzen des 
Menfchen ‚fi vereinigen, und fein Berberben deſto mehr be⸗ 
ſchleunigen und vergroͤßeren! 

Der Hochmuth begleitete ihn in ſeinem 1. Jahre auf 
die hohe Schule nach Carthago, wo er nun zwar in den Wiſ—⸗ 
fenfchaften, beſonders in ber gerichtlichen Beredſamkeit, worin 
man in damaliger Zeit am meiften glänzen konnte, große Fort⸗ 
fehritte machte, aber deſto tiefer in Sittenlofigkeit verſank, ins 
dem ‚er mit verborbenen, dort fiubirenden Sünglingen in Ums 
gang gerieth, und an ihren tolleften Zugendftreichen und fünb- 
lichften Ausfchweifungen den thätigftien Antheil nahm; und zwar 
wieder, wie er ſelbſt bekennt, nicht fo ſehr aus Luft, fonbern 
vielmehr aus falfcher Scham, um jenen verborbenen Wüftlingen 
im Böfen nur nicht nachzuſtehen. Seht, eine ſolche fürchters 


liche Mahcht hat der Hotdmuteteuſet uͤber den Menſchen, und 
reißt denſelben wider ſeinen Willen immer tiefer und tiefer in's 
Berderben. 

And bier merket wohl auf, ihr chriſtlichen Eltern, Juͤng⸗ 
finge und Jungfrauen! nach feinem eigenen Bekenntniß wurde 
damals das ſchon entzündete unreine Feuer der Wolluſt vor- 
zuͤglich durch die Schaufpiele, die er leidenfchaftlich liebte und 
gar oft befuchte, noch mehr entflammt. Merket auf, und laſſet 
euch warnen! Was die Schaufpiele in Auguftinus wirkten, 
das follte für umfere Jugend nicht gefährlich feyn? 

Noch tiefer ſollte Auguftinus fallen, damit die Gnade des 
Herrn zur Ermunterung für alle große Sünder an ihm befto 
berriicher fich offenbarte. Die Sittenlofigkeit führt gewoͤhnlich 
zum Unglauben. Da Auguftinus feines Stolzed wegen an ber 
h. Schrift, an dem Worte Gottes, weil ed ihm zu fchlicht und 
einfältig vorkam, feinen Seihmad finden konnte; da das Wort 
Gottes feinen fündigen Ausfchweifungen immer entgegen war; 
fo fiel er in die Irriehre und den Unglauben ber Manichäer, 
Die aͤrgſte und thörichtfte und fchändlichfte, und alle Ausfchwei- 
fungen am meiften begünftigende Irrlehre aller und jeder Zeit. 
Deffentlich fagte er ſich nun los von der Kirche; öffentlich 
fagte er ſich zugleich los von-aller Sittlichkeit, indem er lange 
Zeit hindurch öffentlich mit einer Tiederlichen Weiböperfon Um⸗ 
gang trieb und einen Sohn mit ihr erzeugte. Tiefer konnte er 
Faum mehr fallen. . | 

Bereichert zwar mit mancherlei Kenntniſſen, aber hoͤchſt 
arm, denn mit dem Verluſt des Glaubens und der Sittlichkeit 
kehrte Auguſtinus im 21. Jahre ſeines Alters von der hoben 
Schule in feine Vaterflabt wieder zuruͤck; kehrte zuruͤck gerade 
fo, wie leider fo viele Sünglinge jetziger Beit von der hohen 
Schule, aus der. Fremde wieder zuruͤckkehren. In feiner Vaters 
ſtadt erwarb er fich bald großen Ruhm, indem er ald Lehrer in 
den ſchoͤnen Wiffenfchaften auftrat und den größten Beifall 
erndtete. Seine Mutter aber. tramerte über ihn, und wollte, 
um fein Aergerniß :zu geben, mit ihrem Sohne, wegen feines 
Öffentlichen fchlechten Beifpield, weber zuſunmen wohnen, noch 


— GM — 


mit ihm ſpeiſen; aber deſto eifrfger und inftändiger betcte fie 
für ibn Tag und Nacht; und hielt auch, durch eine innerliche 
Zuverficht ‚und durch ein bedeutungsvolles Traumgefiht ges 
ſtaͤrkt, ihren Sohn noch nicht für ganz verloren. Indeſſen 
wurde dem Auguftin feine Baterftadt bald zu enge: fein Ehrs 
geiz trieb ihn wieder zuruͤck nach Carthago, nad dem Drte 
feine Verderbens, wo er nun felbft eine Schule für die ge⸗ 
richtliche Beredfamkeit eröffnete, wo er, wie er fagt, zwar ſelbſt 
ohne Trug, Andere in den trügerifchen Künften der damaligen 
Kechtöpflege unterrichtete, — und fein Suͤndenleben noch aͤrger, 
wie ehemals fortſetzte. 

Aber auch Carthago, die damalige Hauptſtadt im roͤmi⸗ 
ſchen Afrika, wurde dem Auguſtin bald zu enge; ſein Ehrgeiz 
trieb ihm nach der Hauptſtadt der Welt, nach Rom. Das war 
der liebenden Mutter, welche die Gefahr wohl einſah, höchft 
ſchmerzlich; aber umfonft al? ihr Bitten und Ziehen; fie. bee 
gleitete ihren Sohn bis an's Meer," noch immer in ber Hoffe 
nung, ihn von der Reife abzuhalten,“ Jetzt erblidet den Stolz 
in feiner ganzen Schändlichkeit, in feiner Unbändigkeit! fehet, 
wie er bad Herz des Menſchen fo fehr verhaͤrtet! Auguftin 
ſtellte fi, alö gäbe er nach, und beredete die Mutter, in einer 
dort ſtehenden Kapelle etwas zu verweilen, und während fie de- 
felbft in heißem Gebet für ihn uͤbernachtete, feßte er fich zu 
"Schiffe und ging davon. Am frühen Morgen ſtreckte die Mut- 
ter jammernd und troſtlos ihre Arme über bad unermeßliche 
Meer aud, hin nah dem Schiffe, welches fie noch wie einen 
dunkeln Fleck mit ihrem Sohn dahin fchwinden ſah, und kehrte 
mit zereiffenem Herzen nach Haufe zuruͤck. Diefe Sünde war 
vielleicht vor Gott die größte unter allen, bie er "begangen hat. 
Noch in fpäteren Jahren empfand er auch tief bie Größe diefer . 
Simde, indem er fich anklagte: „ich betrog meine Mutter; und, 
o mein ‚Gott! eine folche, diefe meine gute Mutter !” 

Eben jest, da er Gott gänzlich entfliehen wollte, fuchte 
Gott ihn aufz fein tieffter Fall wurde für ihn ber Anfang feie 
ner Belehrung. Da die Mutter ihren Sohn nicht in Perfon 
begleiten Eonnte: fo begleitete fie ihm im Geifte mit ihrem 











— & — 
unaufhoͤrlichen Gebet, und er ſelbſt glaubte, er habe eB vor⸗ 
züglich ihrem Gebete zu verdanken, daß er: zu Rom in eine. 


tödtliche Krankheit fiel, und in derſelben nicht abgefordert wurde 
in Mitte ſeiner Suͤnden. 


II, 


Diefe Krankheit war ſchon die erfte Vorbereitung zu feiner 

Belehrung. Durch göttliche Fuͤgung wurde er bald barauf nach 
Mailand verfeht, wo er auch bald mit. dem großen Bifchof, 
dem h. Ambroſius, Belanntichaft machte, und ein fleißiger Zus 
hörer feiner Predigten wurde. Anfangs fand er freilich nur 
mehr Geſchmack an dem fhönen Bortrage, ald an der Lehre 
felbft, die der große Biſchof vortrug; aber allmälig blieb doc) 
auch die Lehre felbft nicht ohne Eindrud auf fein Gemüth, und 
wirkte in ihm Unruhe des Gewiſſens über feinen Wandel, und 
Zweifel fowohl über feinen Irrglauben, als auch über ben wah⸗ 
zen Glauben, wirfte endlich fo viel in ihm, daß er, da er bie 
Hh. Zaufe noch nicht empfangen hatte, welches man damals aus 
irrigen Grundfägen oft fehr lange zu verfcheiben pflegte, unter 
die Bahl der Lehrlinge fich auffchreiben ließ. Die Morgendäms 
merung war: fon angebrochen, es wurde ihm von Zeit zu 
Zeit heller und heller, bis endlich der Tag anbrach und der 
Morgenſtern aufging in ſeinem Herzen. 
Nun ſehet, was die muͤtterliche Liebe vermag! Monika 
fand in der Entfernung von ihrem Sohne Feine Ruhe; fie ach⸗ 
tete nicht weder auf die Zartheit und Furchtſamkeit ihres Ges 
ſchlechts, noch auf die Gefahren einer Seereife, und Fam ges 
rade zu diefer Zeit, gerade zu rechter Zeit nah Mailand, und 
bemerkte bald die große Veränderung, bie in ihrem Sohne .vors 
gegangen war, zu. ihrer. unausſprechlichen Sreube, und fuͤhlte 
ſich ſchon ſelig in der Hoffnung. 

Nun ſollte man glauben, ſey Auguſtinus dem Ziele ſchon 
ganz nahe geweſen. Der zur Taufe vorbereitende Unterricht 
dauerte bei Gebildeten ſelten uͤber ein halbes Jahr; und doch 
waͤhrte es mit ihm noch drei Jahre, ehe er ſich taufen ließ. 


Die unlauteren Leidenſchaften, der Hochmuth und die Uns 
ar Thl. ate Aufl. 5 


| — 6 — 
— keuſchheit hätten gar zu tief in feinem Herzen gewurzelt, als 
daß diefelben fo leicht aus ihrem Beſitzſtande fich hätten ver⸗ 
treiben laffen. Während diefer Zeit, da er in der Erfenntniß 
der Wahrheit immer größere Kortfchritte machte, unterbielt- er 
doch .noch immer eine unlautere, ftrafbare Verbindung, ließ 
- er fi noch immer beherrfchen von der Sucht nach Weltehre 
amd eitelm Menfchenlobe. Das war nun bie Beit, da er be- 
ftändig mit halben Worfäßen, die keine waren, ſich herum trug, 
da er nie zu einem feften, beruhigenden Vorfage, und eben 
deßwegen auch nicht zu einer Überzeugenden, beruhigenden Er- 
Tenntniß der Wahrheit gelangen konnte, und immer von den 
peinigendften Zweifeln gequält wurde. Immer fdhwanfte und 
ſchwankte er zwifchen folhen Vorſaͤtzen, die er alſobald wieder 
vereitelt fa. Dann -fprach er mit wehmtthigem Herzen zu 
feinem Sreunde: „Es ift doch etwas Elendes um dieſes Leben, 
und die Stunde des Todes iſt fo ungewiß; überrafcht fie uns, 
in dem Zuſtande, worin wir gegenwärtig find, wie werben 
wir beftehen vor Gott? Laſſet und doch nur Gott fuchen, und 
dem "feligen Leben nachſtreben!“ Dann mußte er wieder über 
ſich felbft feufzen: „Sch liebte wohl dad felige Leben, aber ich 
floh es, indem ich ed fuchte. Ich wähnte, ohne Genuß fleiſch⸗ 
licher Lüfte unglüdlih zu feyn; und hielt. mich für die Ents 
haltſamkeit zu ſchwach, weil ich die Kraft dazu in mir nicht 
fühlte; denn ich wußte noch nicht, daß Bott mir die Gabe ber 
Enthaltfamkeit verleihen würde, fobald ich aus dem Innerften 
meined Herzens auffeufzend, vor Seiner Thuͤre anflopfen, und 
alle meine Sorgen auf Ihn werfen würde.” 

Sp ging es noch eine Zeitlang fort; Vorfäge wurden ge⸗ 
faſſet und wieder gefaflet, wurden eben fo oft gebrochen, von 
Herzen bereuet, und wieber erneuert, und wieder gebrochen. 
Woher diefer Wankelmuth bei einer fchon fo hellen Erfenntniß, 
bei einem fchon fo heftigen Verlangen? Wenn wir uns felbft 
in diefem Beifpiele wieder finden, wenn auch unfer Leben zwi⸗ 
fihen erneuerten, gebrochenen, dieſen Bruch bereueten, und 
wieder umfonft erneuerten Borfägen dahin gebet, o fo laflet 
und beflo eiftiger darauf merken, was den Yuguflin von ber 








— 8 — 


endlihen Erfüllung und Beharrlichkeit noch zurkd hielt! Es 
fehlte ihm noch an dem rechten. Vorſatze, an dem Vorſatze, 
feiner Lieblingsneigung gänzlich zu entfagen.- „Alles ſchwankte 
noch in mir;“ ſpricht er, „mein Herz war von dem alten 
Sauerteig noch nicht ganz gereinigt; der Heiland gefiel mir 
wohl; aber noch war ich mißmuͤthig, Seinen engen Weg zu 
gehen.“ Die Aufopferung der Lieblingdneigung, die ohne Auf⸗ 
(hub entfchloffene und auögeführte Losreißung von dem Liebs 
lingßggegenſtand der Sünde, das iſt der enge Weg; fo lange wir 
den Vorſatz, dieſes Opfer zu bringen, noch nicht gefaflet haben, 
haben wir noch feinen wahren Vorſatz gefaffet, noch Fein Opfer 
gebracht. Es bedurfte alfo für Auguſtinus noch eines ftarken 
Antriebes, und diefen Antrieb bereitete ihm bie Gnade bed 
Herrn durch einige Beiſpiele, die mit unwiderftehlicher Macht 
fein Herz ergriffen. Da er in fih Feine Ruhe fand, fo entz 
dedte ee nun einem alten, ehrwürbigen Priefler, Namens Sims 
plicianus, feinen ganzen Lebenslauf; fo fühlte er ſich zum Suͤn⸗ 
denbefenntniß gedrungen, obſchon er, weil noch nicht getauft, 
das h. Sakrament der Buße noch nicht empfangen konnte, 
Der Priefter ermunterte ihn, weil er ihn gebeugt fah, und ers 
zaͤhlte ihm, er kenne einen gelehrten und berühmten Mann, ber 
vorher ein heidnifcher Weltweifer und eifriger Gößendiener ges 
wien, und jetzt ein eifriger und von Herzen bemüthiger Dies 
ne J. C. geworden ſey. Das wirkte, wirkte fo viel, baß fein 
Wille und Vorſatz jest gerade gegen feine fünblihe Neigung 
gerichtet wurde; aber deſto heftiger wurde jetzt auch feine Uns 
tube, defto heißer der Kampf. „Zwei Willen,” ſpricht er, 
„waren in mir: ein alter und ein neuer Wille; jener war 

fleiſchlich, Diefer geiftig; beide flritten mit einander, und burch 
| ihren Miderftreit wurde meine Seele zerriffen. Immer vers 
ı nahm ich in mir die Stimme des Heren, gab aber noch im⸗ 
mer wie ein Träger, Schlaftrunkener, die Antwort: „Sogleich, 
fiehe, ſogleich, warte nur noch ein wenig.” O wie oft haben 
auch wir diefed „ſogleich“ ſchon gefprochen, und ‚haben auch 
fahren, was Auguflinus erfuhr, weil ed nicht heißen barf: 
‚ Mogleich ‚“- fondern weil es heißen muß: „jet, jest, da ihr 

5* 





| — 8 — 
die Stimme bed. Herm hoͤret.“ „Aber das fogleih und fo- 
gleich,” fährt Auguſtinus fort, „hatte Fein Ende, und das: 
„Warte noch ein wenig,” 309 fich. in die Länge. Vergebens 
hatte ich, ‚o Bott! Freude an Deinem Gefege nach dem ins 
wendigen Menfchen, da ein anderes Gefeß in meinen Gliedern 
war, und mich gefangen bielt unter dem Gefeß der Sünde.” 
Diefes Gefeg der Sünde ift die Macht der Gewohnheit, bie 
den Geiſt wider feinen Willen beherrfcht zur Strafe, daß er 
freiwillig ſich ihr überließ. 

Endlich ſchlug nun für Auguflinus die Stunde ber Er- 
barmung, und wie wunderbar wurbe fie ihm bereitet? Ein 
Kind wurde von dem Herrn dazu auderfehen, dieſen ſtolzen 
Geiſt zu bändigen. Eined Tages wurbe ihm und feinem Freunde 
Alipus die Gefchichte ded großen h. Abtd Antonius erzählt, der 
vor. 30 Sahren geftorben war; wie dieſer, in feiner Jugend er⸗ 
griffen durch das Wort in einer Predigt: „Willſt bu vollfom- 
men feyn, fo verkaufe, was bu haft und gib ed den Armen, 
und du wirft einen Schag im Himmel haben, und fomm und 
folge mir nah!” Matth. 20, 21., auf einmal alles Irdifchen 
ſich entäußert Habe, und zu einer fo großen Heiligkeit gelangt 
fey. . Diefe Geſchichte habe noch vor Kurzem auf einen unge- 
gelehrten Weltmann und beffen Freund einen ſolchen Eindrud 
gemacht, daß Beide ebenfans alles Irdiſchen ſich entäußert, 
und dem Dienfte bed Herrn fich ganz geweibet hätten. Auf's 
tieffte in feinem Innerſten erfchüttert, ging Auguftinus mit feis 


nem Freunde in den Garten, ging dann allein, warf fich nies | 


der unter einen Feigenbaum; fein ganzes ſuͤndhaftes Leben 
fland lebhaft. vor ihm, fein ganzes: Herz Idfete ſich auf in bie 
ſchmerzlichſte Reue; laut fchluchzend rief er: „Herr, wie lange?” 
fey nicht eingeben? meiner vorigen Miffethaten! wie lange? 
morgen? und wieber morgen? warum nicht jet? warum nicht 
das Ende meiner Schmach zu biefer Stunde?” Und fein Ges 
bet wurde erhört. Indem er noch betete, geſchah ed, gewiß 
nicht ohne befondere Leitung der göttlichen Fuͤrſehung, daß er 
aus.einem benachbarten Haufe die Stimme eined Kindes vers 
nahm, das, wie fingend, fprach und immer wiederholte: 


——— — — — — I EEE — 


— 8 — 


„Nimm und lies, nimm und lieg!” Auguſtinus glaubte in 
dieſer Stimme den Befehl ded Herm zu vernehmen; er öffnete 
die Schrift, die er bei fih hatte, es waren die Briefe des h. 
Paulus, fchlug die Schrift auf, und da fiel fein Auge gleich 
auf diefe Worte: „Nicht in Gelagen und Trunkenheit, nicht in 
Unzucht und Weppigfeit, nicht in Hader und Neid, fondern 
ziehet an den Herrn 3. C., und pfleget nicht bed Leibes zur 
Befriedigung der Lüftel” Hier hielt er inne Mehr bedurfte 
ed nicht, um ihm den Willen des Herrn zu verfündigen. Jetzt 
war ber Vorſatz einmal feft gefaffetz jebt auf einmal fühlte er 
ſich erhoben Über alle Hinderniffe, Befreiet von allen Banden, - 
die ihn bis dahin noch gefangen hielten, und hinweg war auf 
Ainmal alle Unruhe; denn. er war fowohl der erhaltenen Ver⸗ 
gebung, ald des errungenen Siege nun ganz gewiß. Die. 
naͤmliche Gnade - wurde auch feinem Freunde zu Theil. Beibe 
eilten jebt zur h. Monika, und ihre vereinten Herzen ergoflen 
ſich in Jubel und Dank vor dem Herrn, Deffen Gnade und 
SBarmherzigfeit ohne Maß und Schranken ift. 

D möchte biefed ungemein lehrreiche Beiſpiel des h. Aus 
guflinus auf uns wirkten, was andere Beiſpiele auf ihn ges 
wirft haben, daß. auch wir von ganzem Herzen einflinmen 
möchten in fein Dankgebet: „O Herr! ich bin bein Knecht und 
der Sohn Deiner Magd. Du haft meine Bande zerriffen, Diy 
will ich dad Opfer. des Dankes darbringen. Es Iobe Dich Pi 
Herz und meine Zunge!.. Herr! wer ift Dir gleih?.. 
bin ich, und was bin ih? Wie. böfe war ich und nenn 
Werke: oder, wenn nicht meine Were, meine Worte?. ober, 
wenn nicht meine Worte, mein Wille? Du aber, o Herr! 
bift guäbig. und barmherzig.. Du haft dich erbarmt der Tiefe - 
meines Todes, und den Pfuhl des. Verderbend aus dem Grunde 

meines Herzens Diana. Dir Im & Lob und Die in 
Enigti! u Amen... J 





— DU — 


Segest— Rede. 


Erſte Rede am fünfzehnten Sonntage nach dem 
Sehe der h. Dreifaltigkeit, | 


— 


Bert: 
Das Evangelium Watth. 6, 4—M. 


bem aa: 
Vam Vertrauen auf Gott. 


Das heutige Evangelium iſt aus der Rede unſeres Herrn J. 
€. genommen, welche wir die Bergrede zu nennen pflegen. Wie 
ein jedes Wort unſeres Herrn für und ungemein wichtig und 
Ichrreich. if, fo auch biefes Evangelium. Ja, dieſes heutige 
Evangelium iſt an und fuͤr ſich allein ſo wichtig fuͤr uns, daß 
unfſer ewiges Heil ſchon ganz geſichert wäre, wenn wir nur die 
Lehre, die darin enthalten ift, mit gewiffenhafter Treue befols 
gen wollten. Denn der Herr fpricht in diefem Evangelium ges 
gen einen unferer Hauptfehler, welcher das größte Hinderniß 
unſers Heils ift, gegen eine fünbhafte Gefinnung, die und Allen 
mehr. oder weniger gemeinfchaftlich iſt, die für uns Alle deſto 
gefährlicher ift, weil Miele diefelbe nicht für fündhaft anerken⸗ 
nen, ja fogar fie für gut und löblich halten. Der Herr fpricht 
naͤmlich gegen unfere unordentliche Anhänglichkeit am Beitlichen, 
gegen unfere unordentliche, Übertriebene Sorge für das Zeit⸗ 
liche, und lehrt, wie wir diefe Sorge mäßigen und überwinden 
follen durch Vertrauen auf Goltz und ermuntert und dann zu 
einer anderen Sorge, bie unferer: weit würbiger und unferer 
großen Beflimmung weit‘ mehr angemefien ift, nämlich zu ber 
Sorge für das Ewige, für. das Heil unferer Seele. Das ifl 
ber kurze Inhalt des heutigen Evangeluumns. 


Da wir Menfchen nur Ein Verlangen haben, nämlich das 
Berlangen, wahrhaft glüdfelig zu werben, da aber die Meiſten 











— 1 — 


auf eine verkehrte Art, nämlich nur im Beitlichen, ihre Glüds 
ſeligkeit fuchen, und daher die wahre Gtüdfeligkeit nicht finden; 
fo fing der Herr I. C. Seine Rede damit an, daß Er den 
einzig richtigen Weg zur wahren Gtüdfeligkfeit zeigte, Died 
lehrte Er in den euch wohlbefannten acht Seligpreifungen, worin 
die Lehre enthalten ift, daß wir nur durch wahre Tugend zur 
wahren Glüdfeligkeit gelangen können. Nun kam es darauf 
on, zu wiflen, worin die wahre Tugend beftehe. Zwar lehrten 
auch die Pharifaer, die Tugend beftehe in der Ausuͤbung ber 
Gebote, lehrten aber zugleih, ed komme bloß darauf an, baß 
man das Gebot aͤußerlich und’ buchfläblich befolge. Dagegen 
erflärte Sich nun der Heiland, indem Er lehrte, es komme 
bloß an auf die. innerliche Gefinnung, auf die Abfichten und 
Beweggründe bei der Erfüllung der Gebote, man koͤnne diefelbe 
äußerlich und buchftäblich befolgen, und dabei ein ganz verkehr: 
ter, Schlechter Menſch ſeyn; die Tugend habe in bem Inneren- 
unfered® Gemüths ihren Sitz. Dann lehrte er zugleih, daß 
ed nur Eine Zugend gebe, "worin. alle Übrigen fich vereinigen 
müßten, ohne voelche Feine Tugend befichen koͤnne; das fey bie 
Liebe gegen Gott und gegen unfere Nächften. Eben fo gab 
Er dann einen allgemein faßlichen Unterricht über bie Mittel, 
um zur wahren Tugend zu gelangen; dieſe Mittel waren Das 
mals die nämlichen, wie fie es jebt find, wie fie ed auch wohl 
bis in Ewigkeit bleiben werben; find vie nämlichen, bie wir 
in unferm Katechismus . Iefen: Beten, faften und Almoſen geben, 
Das lehrten auch. die Phariſaͤer; es war aber wieder bloß Aus 
ßerliches Merk, was fie Sarlber Ichrten und auch felbft übten; 
daher war ihre Lehre eben fo verehrt und irrig, als verderbs 
ih. Daher. lehrte denn der Helland, wie man recht beten 
ſolle, lehrte das Water unfers wie man recht faften und recht 
Almofen. geben ſollez lehrte wieder, daß es dabei einzig und 
allein auf die innerliche Sefinnung ankomme; gab alfo die 
dehre, daß das vechte, vertrauendnolle Gebet um bie wahren 
Güter, das vechte Faften, die anhaltende Selbfiverleugnung, 
entfernt. von allem eiteln Streben nach Ehre vor den Menfchen, ' 
en fa, wie das vechte Almoſengeben, die uneigennhgige Aus⸗ 


übung wahrer Liebe, die Mittel feyen, um zur wahren Tugend, 
und durch diefelbe zur wahren Gtüdfeligfeit zu gelangen. So 
hatte der Herr fiber die wahre Tugend befehrt, und zum Stre- 
ben nach berfelben, zur Anwendung der Tugendmittel ermuns 
tert; fo hatte Er den Willen Seiner Zuhörer zum Streben 
nah der Tugend angeregt. 

So weit kommen wir wohl oft bei Ambörung einer Pre⸗ 
bigt, daß wir wollen, daß wir thun oder meiden wollen, was 
und in der Predigt als nothwendig zu thun oder zu meiden 
an’s Herz gelegt if. Aber zwifchen dem Wollen und Xhun, 
zwilchen dem Wollen und der Beharrlichkelt In der Ausführung, 
ift noch oft, wie ed im Evangelium beißt, eine große Kluft bes 
feftiget. Wollen wir zur Ausführung fchreiten, fo floßen wir 
oft auf Dinderniffe, an die wie zuvor nicht gedacht haften, 
ober die und ſchwerer find, als wird gedacht hatten, und es 
bleibt beim Alten. Unſer Heiland J. C. ſah nach Seiner götte | 
lichen Allwoiffenheit dieſe Hinderniffe in dem Innerflen unſeres | 
Herzens, fah die Quelle, aud welcher alle diefe Hinderniffe ente 
fpringen, und ſah diefe Quelle in unferer unorbentlichen Anz 
bänglichkeit am Beitlichen, und fing daher an, und fuhr in uns 
ferem heutigen Evangelium fort, gegen biefe unordentlihe Ans - 
haͤnglichkeit am Beitlichen mit dem größten Nachbrud zu wars 
nen. Wir hören Ihn alfo zu und fprechen: „Ihr habet num 
den Willen, nach der Tugend zu fireben, um zur ewigen Glüd- 
feligfeit zu ‚gelangen. Eines ſteht euch aber im Wege: das 
Zeitliche fleht euch im Wege gegen das: Ewige; eure Anhängs 
lichkeit am Zeitlichen hindert euch befländig, daß ihr nicht mit 
ganzem Herzen dem Ewigen anbanget und nachfirebet. So 
Yange ihr diefe unordentliche Anhänglichkeit nicht befämpfet und 
- ableget, werdet ihr auf dem Wege der Zugend und Glüdfeligs 
Peit nie und nimmer weiter kommen. Ich will euch nun leh⸗ 
ven, wie, ihr dieſe unorbentliche Anhängkichkeit zu überwinden 
habet. WBergleichet einmal biefe zeitlichen Güter, nach welchen 
ihr ein fo großed Verlangen habet, mit den ewigen, auf welche 
ihe das ganze Verlangen euered Herzens richten folltet! So lafs 
fet euch denn belehren!” „Sammelt euch nicht Schaͤtze auf Er⸗ 





- ns U ia ME . u — 


— 73 — 


Den, wo die Motte und der Roſt an ihnen zehren, wo Diebe 
audgraben und ftehlen :" „Seht, wie unſicher und wie vergäng- 
Lich die Dinge find, auf welche ihre einen fo hohen Werth ſetzet! 
Was ihr zur Kleidung bedärft, die Wolle; ein Meiner Wurm, 
den ihr kaum mit den Augen -fehen koͤnnet, zernagt fi. Man 
pflegt zu fagen: was ift fefter als Eifen? — Der Roft zer 

frißt es. Gold und Silber ift freilich vor Roſt gefichert: aber 
ift es auch ficher vor Dieben? Je mehr du davon befiteft, deſto 
größer iſt deine Sorge, deſto unruhiger dein Schlaf. Sammelt 
euch aber Schäße im Himmel, wo weder Motte noch Roſt an 
ihnen zehren, wo Diebe nicht auögraben und flehlen!” Welche 
find diefe Schäße? es find die Schäge der Tugend. Jeder 
entfchloffene Kampf gegen die Verfuhungen, 3. B. zum Born, 
zur Unkeufchheit, zur Unmaͤßigkeit, zur Ungerechtigkeit, jete 
ſtandhafte Ueberwindung euerer felbft, jede Unterdruͤckung eueres 
Stolzed und Hochmuths in Worten und Werken, jedes Berges 
ben der Unbilden und Beleidigungen, jede Uebung der Demuth, 
Sanftmuth und Friebfertigkeit, jedes Liebeswerk gegen euere 


. Räcften, jede Erhebung des Gemuͤths zu Gott in einem vers 


trauensvollen Gebet, jeder Beſuch des öffentlichen Gottesdien⸗ 
fies, jede Anhörung des göttlichen Worts, um euch in tugends 
haften Gefinnungen zu ſtaͤrken, ift ein folher Schatz, welcher 
mehr werth if, ald der größte Gewinn in. Geld und Gurt. 
Diefen Schatz kann Niemand und rauben; dieſer Schatz ifl 
ficher, und folgt und, nachdem wir alles zeitliche Gut haben 
verlaſſen mäffen, in den Himmel, und wird im Himmel ewig 
belohnt.” - | 

Willſt du nun wiſſen, welches am meiften für dich Werth 
habe, welches eigentlich dein Schatz fey, das Zeitliche oder das 
Ewige, fo prüfe dich ſelbſt, fchau in dein Herz! „Denn,“ fpricht 
der Heiland, „wo dein Schab iſt, da ift auch dein Herz.” Es 
muß und ungemein Vieles daran gelegen ſeyn, baß wir umfers 
Lieblingdneigung, welche in und die Herrſchaft führt, recht ken⸗ 
nen lernen. In jenem Sprüdwort hat uns der Herr einen 
ganz fihheren Prüfftein angegeben, an welchem wir es immer 
ganz zuverläffig wiſſen koͤnnen, welche unfere Lieblingsneigung 


fey. Wobei wir mit unferen Gedanken, Wünfchen und Begier⸗ 
den am liebften verweilen, wohin wir befländig wieder zuruͤck⸗ 
fehren, was wir am fchwerfien verlaffen, am meiften fell hals 
ten, was und am-meiften befcyäftiget, dabei ift unfer Herz, 
das iſt unſer Schatz, unſer Gott. Darum ſagt man vom Gei⸗ 
zigen: „das Geld iſt ſein Abgott.“ Darum ſagt der Apoſtel 
Paulus von den Luͤſtlingen: „deren Bauch ihr Gott iſt,“ und 
ſetzt hinzu: „deren Ende Verderben iſt.“ 

So wie die unordentliche Anhänglichkeit am Beitlichen das 
Herz, den Willen des Menſchen ganz in Beſitz nimmt und ihn 
verdirbt, ſo verblendet und verfinſtert ſie auch den Verſtand des 
Menſchen. Das lehrt uns der Heiland in einem anſchaulichen 
Gleichniſſe, indem Er ſpricht: „Dein Auge iſt deines Leibes 
Leuchte. Wenn dein Auge lauter iſt, fo wird dein ganzer Leib 
lichtooll feyn. Wenn aber dein Auge fchlecht ifl, fo wird dein 
ganzer Leib finfter feyn. Wenn nun das Licht, das in bir, 
Sinfterniß ift, wie groß ift diefe Finſterniß!“ Das Auge em⸗ 
pfängt das Licht fir den ganzen Leib, und leuchtet allen. Glie⸗ 
dern und ihren Verrichtungen vor wie eine Leuchte. Sf nun 
dad Auge gefund, fo iſt der ganze Leib im Lichte, bat Licht 
für alle feine Verrichtungen. Iſt aber dad Auge Frank, fo ift 
der ganze Leib im Finſtern, ift ohne Leuchte und ohne Kührer. 
Was nun das Auge für den Leib if, das iſt die Vernunft für 


die Seele. Wie das leibliche Auge, fo. lange «3. geſund ifl, 


dem ganzen Leibe zur Leuchte dienet, fo ift auch die gefunbe, 


durch böfe Einwirkung unordentlicher Begierde nicht verblendete 


Vernunft, das Licht der Seele. Wenn aber dad Licht, welches 
in euch, in euerem Inneren ift, wenn dad Auge euerer Seele, 


die Vernunft, verbiendet und verfinftert ift, wie groß iſt dann 


die Finfterniß! welch’ eine Finflerniß wird dann Über euere Urs 
theile und Entfchließungen, über euer Thun und Laſſen, über 
auere Gefinnungen, über euer ganzes Lehen fich verbreiten! 
Dann ſeyd ihr wie ber Wanderer in der Finfterniß der Nacht, 
der allenthalben anflößt, den rechten Weg verfehlt, und, einmal 
auf dem Irrwege, immer auf dem Irrwege bleibt. - Die Blind« 
heit am Leibe ift ein großes Uebel; „ein blinder Mann, ein’ 











— - - | m——{ — — 
ru | ru =» 


— 5 — 
armer Mann; aber ein noch größeres Uebel iM die Blindheit 
an der Seele, an der Vernunft: die Blindheit am Leibe zeigt 
und gar feinen Weg und macht und vorfihtig, daß wir ohne 
Führer keinen Schritt weiter gehen; die Blindheit aber, ober 
viehmehr die Verblendung an der Seele, führt uns beftänbig 
auf einen Irrweg, und bie böfe Begierlichleit, aus welcher fie 
entfpringt, treibt uns befländig an mit Gewalt, biefen Irrweg 
zu gehen. 


« 
⁊ 


| II. 

Bis dahin hatte ber Herr bloß aus Wernunftgründen ges 
gen die unordentliche Anhänglichkeit am Zeitlichen, gegen die 
Habſucht gewarnet, indem Er gelehrt hatte, wie die zeitlichen 
Guͤter fo vergänglich und unficher, und daher. unferer Sorge 
und unferes Strebens fo unwuͤrdig ſeyen; indem Er zugleich . 
gelehrt hatte, wie verberblich diefe Anhänglichkeit für unfere 
Seele fey, Indem fie unferen Willen gleichfam gefangen nahme, 
unfer Berg wie einen Sclaven an foldhe, fo unwuͤrdige Güter 
feffelte, und unfere Vernunft verbiende und verfinftere, zu bem 
verberbliääften Irrthuͤmern führe. Nun iſt der Herr 3. ©. in 
Seiner Hede dahin gelommen, wo dad heutige Evangelium 
anfängt, welches voir ohne das Vorhergehende, welches damit 
wnzertrennlich im Zufammenhange fleht, nicht einmal hätten 
recht verſtehen koͤnnen. Nun braucht Er noch Bräftigere Bes 
weggruͤnde, welche aus unferem Verhaͤltniß zu Gott, aus ber 
Religion genommen find. Er fährt fort und fpricht: „Niemand 
kann zween Herren dienen; denn er wirb ben einen baflen 
und den anderen lieben, oder er wirb bem einen anhangen und 
ben anderen vernachläffigen. Ihr koͤnnet nicht Gott dienen und 
dem Mammon.“ Nicht dadurch allein fchabet euch diefe Anz 
bänglichkeit, daß fie euch beftändig in Sorge und Unruhe ers 


‚Halt, daß fle euer ‘Herz gefangen nimmt und euere Vernunft 
verfinſtert, fondern am meiften dadurch, daß fie euch aus. bem 


Dieunſte Gottes verftößt, welcher die wahre Freiheit iſt, und zu 
Gefangenen des ſinnloſen Geldes euch macht, zu erbaͤrmlichen 
Selaven deſſen, dem ihr befehlen ſolltet, und zu Richtdienern 


-8- 
Gottes euch macht, Dem allein zu dienen ihr fchulbig feyb. 
Der Herr fpricht hier von dem Sclavendienfte, wie er bei den 
Juden eingeführt war. Der Sclave war der leibeigene Knecht 
feines Herrn, war deſſen Eigenthbum, konnte von ihm mit Wills 
kuͤhr behandelt, fogar verkauft werden. Es war alfo gar nicht 
möglih, daß ein- folder Sclave zu den nämlideen Zeit bei 
zween Herren ben Dienſt verfahe, indem ein- jeder Herr feinen 
Dienfl ganz, zu jeder Zeit, bei Tag und Nacht forberfe: Wenn 
alfo der Sclave die Gefchäfte ded Einen beforgte, mußte er 
nothwendig den Dienft des Anderen vernachläffigen. Das war 
nun ganz und ‚gar unmöglich, wenn beide Herren von ganz 
entgegengefeßter Denkungdart waren, und daher dem Sclaven 
Werke aufttugen, die einander ganz entgegengefeht waren, mit 
einander gar nicht beftehen Tonnten. Das war ed eigentlich, 
‚worauf ber Herr bei dieſem Gleichniß hinzielte Die Befehle, 
welche die unorbentlidhe Begierlichleit, welche bie Leidenichaft 
macht, find den Befehlen, den Geboten Gottes immer ganz 
entgegengefeßt. So fpriht z. B. Gott: „Sey mäßig, und Ich 
will dir die Güter bes Himmelreichs geben!" die Leidenſchaft 
bagegen fpricht: „Verlage deinem Herzen Feine Luft; genieße 
des Lebens, fo lange du kannſt; gut Eſſen und Trinken ift die 
befte Freude auf Erden.” Gott ſpricht: „Sey rein von Hers 
zen, verlege. nicht deine und eines Anderen Unſchuld, gib kein 
Aergerniß!“ Die Leidenfchaft dagegen fpiegelt bir die unkeu⸗ 
ſchen Lüfte vor ald unbedeutende menſchliche Schwachheiten und 
als die füßeften Freuden. Eben fo verhält es ſich auch mit . 
ber unordentlichen Habſucht, wovon. J. ©. im: heutigen- Evans 
gelium fpricht. . Die Habfucht ſtellt uns die zeitlichen Güter 
als die wichtigften der, ohne deren Beſitz wir nicht - glüdlich 
ſehyn koͤnnten, und treibt und an, al unſer Dichten und Trach⸗ 
* ten auf ihren Erwerb. und Beſitz zu verwenden, und nimmt 
Kopf ımd Herz fo ganz ein, daß man gegen alles Andere gleiche 
gültig wird. Darum fpricht der Herr: „Ihr koͤnnet nicht Gott 
dienen und dem Mammon.” So wurbe bei. ben ‚Heiden ber 
Sott des Reichthums genannt. Die damaligen Juden - hatten 
ben größten Abſcheu gegen die Abgötterei, welche ihre Worfahe 


% 


- - 





— 17 — 


ren in fo großes Elend, weiche fie in die babylonifche Gefan⸗ 
genſchaft geführt hatte. Staͤrker konnte alfo der Herr gegen 


die. Habfucht nicht warnen,‘ als da Er die habfüchtigen Goͤtzen⸗ 


diener, Diener ded Mammons nannte. Wir Shriften müffen 
einen noch größeren Abfcheu gegen Abgötterei und Goͤtzendienſt 
haben. Und nach dem klaren Audfpruche. unferd Herrn kann 
8 unter und Chriften auch Heiden: und Gößenbiener geben; 
das find die Habfüchtigen.. Auch euch nennt der Heiland mit 
dem verächtlichften Nanten, nennt euch Diener des Mammons. 
Wir find Gott unferen ganzen Dienft, unfer ganzed ungetheil- 
tes Herz ſchuldig; nimmt nun die Habfucht oder irgend eine 
andere Begierde unfer Herz ein, fo find wir im Dienfte dieſer 
Begierde, biefer Peidenfchaft, und dann ift ed unmöglich, Gott 
zugleich zu dienen, Ihm fo zu dienen, als wir follen, weil 
beide Herren in ihren Befehlen und Forderungen einander ims 
mer ganz entgegengefeßt find, weil der Eine erlaubt, was ber 
Andere unterfagt, der Cine gebietet, was ber Andere verbietet. 
So hatte denn der Herr mit dem größten Nachdruck ge- 
gen die Habſucht gewarnet. Seine Zuhörer waren meiftens 
gemeine Zandleute, unter denen ed gewiß mehrere Arme und 
wenig Bemittelte gab. Konnte nun nicht leicht in den Herzen 
von Diefen der Gedanke auffleigen: „Reich zu feyn verlange 


‚ih eben nicht, wenn ich nur mein tägliches Auslommen habe; 


aber dafür muß ich doch forgen.” Unter diefem Dedimantel 
der pflichtmäßigen Sorge für das tägliche Auskommen, verbirgt 


fi) gar oft eine geheime Habſucht, fogar der hartnädigfte Geiz. 


Die pflichtmäßige Sorge für dad tägliche Auskommen will der 
Herr keineswegs verbieten, fondern nur -die aͤngſtliche Sorge, 


weil das, was wir pflichtmaͤßige Sorge nennen, gar oft eine 


ängfliche ‚Sorge ift, die dann unfer Herz ganz einnimmt, und 
und an der Sorge für dad Ewige, für dad Heil unferer Seele 
oft fo ſehr hindert. Diefe Sorge will Er uns nehmen, indem 
Er unfer Gemüth erhebt zu Gott, unferem Water im "Himmel, 
Dem wir's zutrauen follen, daß Er als unfer befter Water für 
dad Ausfommen Seiner Kinder forgt; zum Vertrauen auf Gett 
will Er und alfo erheben, damit wir durch diefes Vertrauen 


— 3 — 


unfere ängflliche Sorge für das tägliche Ausfommen, unfere une 
ordentliche Anhänglichfeit. am Zeitlichen- unterdrücken mögen. 
Wenn unler Herr. vom Vertrauen fpricht, dann fpricht Er ims 
mer.auf die innigfte, rührendfte Weiſe; fpricht To, daß wir durch 
Seine Worte und zu Gott, unferem Vater erhoben fühlen, Er, 
Der aus dem Schooße ded Waters kam, weiß, wie unendlich 
liebreich der Vater gegen und gefinnt ift, wie wir Ihn daher 
nicht mehr ehren können, als wenn wir im vollkommenen Ver⸗ 
trauen und Ihm bingeben. Daber fucht Er und immerdar zum 
Vertrauen zu ermunteren, weil Glauben und Vertrauen das 
einzige Bedingniß iſt, unter welchem jede Art goͤttlicher Huͤlfe 
uns zu Theil werden ſoll. 

Nicht ſo ſehr die eigentliche Habſucht, als vielmehr eine 
aͤngſtliche Sorge für das taͤgliche Auskommen war ed, was J. C. 
bei Seinen meiſtens unbemittelten Zuhoͤrern als ihre herrſchende 
Geſinnung bemerkte. Wenn man Haus und Obdach hat, dann 
iſt dieſe aͤngſtliche Sorge auf Nahrung und Kleidung gerichtet. 

„Darum ſage Ich euch,“ ſpricht der Herr, „ſeyd nicht be⸗ 


ſorgt fuͤr euer Leben, was ihr eſſen ſollet! Iſt nicht das Leben 


mehr als die Speiſe? und der Leib mehr als die Kleidung?“ 
Wovon habet ihr das Leben, die belebende Seele und den Leib, 
die mehr find, ald Nahrung und Kleidung? Leben und Leib 
babet ihr ohne euer Zuthun von Gott erhalten; wer euch das 
Größere gab, wird Der nicht forgen für dad Geringere, ohne 
welches. dad Größere, welches Er gab, nicht fortbeftehen Tann? 
Mer für dad Größte forgen Tann, kann ed auch für dad 
Geringer. Wer. für das Geringere forgen will, will es 
auch für das Größere. Das ift der Grund des Vertrauens. 
Darum wied Er darauf hin; ‘wie Gott auch: für die geringern 
Geſchoͤpfe forge, und führte und gleichfam zu den Vögeln in 
die Schule, und ſprach: „Sehet die Vögel des Himmels, fie _ 
fäen nicht, fie Arnten nicht, fie fammeln nicht in die Scheunen, 
und euer himmliſcher Water näprt fie. Seyd ihr nicht viel 

mehr ald fie?” „Was kann,” fpricht ein frommer Prediger, *) 
„was Tann. forglofer feyn, will der, ‚ven fagen, als der Bogel 


*) Binkelhofer. 


in ber Luft? Er weiß nichts von feinen kuͤnftigen Bebhrfuiffen, 


er kennt keine Arbeit, die auf feinen Fünftigen Unterhalt abzielt: 


er ſaͤet nicht aus, er ſchneidet nicht ein, er fammelt nicht in die 
Scheune, er lebt nur für den gegenwärtigen Augenblid, und 
doch findet er von einem Tage zum anderen jo,viel, als er 
braucht. Gott, euer Water im Himmel, nährt und fpeifet ihn 
fo liebreich. Der Schöpfer des Wogeld forgt für diefed Sein 
bülflofes Gefchöpf, und reicht ihm mit milder Hand ben tägli 
chen Unterhalt. O wie viel vortrefflichen, wie viel wichtiger in 
den Augen Gottes feyd ihr! She feyd vernünftige und unfterbs 
liche Geſchoͤpfe; Er bat euch aus keiner anderen Abſicht ers 
ſchaffen, ald dag ihre Ihn jest auf Erden erkennen und lieben, 
und einft in dem Himmel ewig befigen follet. Ihr koͤnnet alfo 
nicht zweifeln, daß Er für euch eben fo wohl forgen werde, 
ald Er für den Vogel in der Luft forget. Ja, Geliebte! fo if 
ed. Wir Menihen dürfen und in diefem Stüde ſicher auf Gott 
verlaffen. _ Wir dürfen zu Ihm das unerfhütterliche Vertrauen 
haben, daß Er uns mit ten Nothwendigkeiten des Lebens fo - 
Yarıge verfehen werde, als die von Ihm abgemeffene Zeit unſers 
Aufenthalts auf der Erde dauern ſoll.“ 

Darum faͤhrt der Herr fort und ſpricht: „Wer aber unter 
euch kann, durch fein Bedenken, feinem Leben eine Ele zuſetzen 2” 
Man pflegte fich dad menſchliche Leben unter dem Bilde eines 
Fadens, deſſen Länge Gott allein bekannt fey, vorzuftellen. Kein 
Menſch kann diefen Faden auch nur um eine Elle verlängeren. 
Gott allein weiß und beflimmt ed, wann er foll abgefchnitten 
werden : fo lange forgt Gott für unfern Unterhalt. 

Eben fo benimmt und der Herr auch die ängflliche Sorge 
für unfere Kleidung, indem ‘er fpricht: - „Und warum ſeyd ihr 
beforgt für die Kleidung? Habet Acht auf die Lilien: des Fels 
bed, wie fie wachſen; fie arbeiten nicht und fie ſpinnen nicht. 
Sch Tage euch aber, daß auch Salomo, in aller feiner Herrlich 
Beit, nicht fo bekleidet gewefen ift, ald.deren eine.” Der Her 
hielt diefe Rede unter freiem Himmel; auf die Dinge, wovon 
Er ſprach, konnte Er mit der Hand 'hinweifen. Ueber Seinem 
Haupte flogen Vögel in der Luft umher, zu Seinen Füßen las 


— 0 — 


gen Wieſen und Felder mit den ſchonſien Blumen geſchmuͤckt. 


Unſere ſchoͤne Gartenlilie waͤchſt dort wild auf dem Felde, und 
iſt von außerordentlicher Schoͤnheit. Die Blumen ſind wahr⸗ 
haftig auch eine Offenbarung der Guͤte Gottes gegen uns, und 
ſprechen gleichſam zu uns: „Sehet an unſerer Pracht und man⸗ 
nigfaltigen Schoͤnheit, wie menſchenfreundlich der Herr iſt, Der 
uns zu euerer Freude erſchaffen hat!“ Iſt es dir ſchwer um's 
Herz, betrachte nur eine Blume; muß es dir nicht leichter wer⸗ 
den bei dem Gedanken: Der um meinetwillen dieſe Blumen ſo 
ſchoͤn geſchmuͤckt hat, ſollte Der nicht für mich ſorgen? Der 
für mein unſchuldiges Vergnügen fo liebreich ſorgt, ſollte Der 
nicht für das, was am meiften Noth thut, forgen? follte Der 
ohne die beite Abfiht mich leiden lafien? Und was ift alle 
Herrlichkeit der Erde, was ift Salomo's Kleiderpradht, das 
Herrlichfte, was man kannte, was ift alle Anmuth und Schön: 
beit, von Menfchenhänden gemacht, gegen die Anmuth und 
Schönheit, womit Gottes Hand die Blumen gefhmüädt hat? 
Selbft die geringfte und am wenigfien geachtete unter, allen 
Blumen, die Blume ded Grafes, zwar ohne, alles. Farbenſpiel, 


aber ſo ungemein zart und anmuthig in ihrem Bau, iſt ſchoͤner 


als Alles, was aus Menſchen Haͤnden kommt.“ Wenn aber 
Gott das Grad auf dem Felde, dad heute ſteht, und morgen in 
den Ofen geworfen wird, alfo Eleidet, wie vielmehr euch, ihr 
Kleingläubigen! Im Morgenlande wird das Gras, welches fehr 
hoch wächft, zur Feuerung gebraucht; bei der großen Hige ver- 
welft und verborret es ſchnell; heute ſteht es noch und grünet, 
morgen dient ed fchon zur Feuerung. Wenn Gott auf, ein 
vernunftlofes,: fo ſchnell vergangliches Gefchöpf fo viel verwen⸗ 
det, wad wird Er dann an euch thun? „Euch,“ fagt der heil. 
Chriſoſtomus, „bedeutet nichtd Anderes, als das vielgeehrte und 
vielbeforgte Menfchengefchleht. Gleichſam, ald fagte Er: euch, 
denen Er eine unflerblihe Seele gegeben, einen Leib geftaltet, 
für die Er alles Sichtbare gemacht, denen Er Propheten ge 
ſchickt und Geſetze gegeben, für die Er fo viel Gutes gewirkt, 


denen Er feinen eingebomen Sohn bdasgegeben hat.” Wenn 


alfo Gott dem Grafe das Unbrauchbare, bie Sgönpeit gege⸗ 








— 81 — 
ben, — denn ohne dieſe Schoͤnheit wuͤrde es eben ſo gut bren⸗ 
nen, ſollte Er euch nicht das Brauchbare geben? Wenn Er 
das Schlechteſte bis zum Ueberfluſſe verſchoͤnert, ohne daß dieſe 
Verſchoͤnerung zu irgend einem Gebrauche dienen ſoll; wie viel 
meht wird Er da, dem Vornehmſten unter Allen, das Noth⸗ 
wendige verfchaffen! . 

Nachdem nun ber Herr in mebreren Beifpielen und bie 
Wahrheit an's Herz gelegt bat: „Bott forgt für eu, für 
eneren Unterhalt,“ ermuntert Er und nochmald mit befonderem 
Nachdruck zum Vertrauen, indem Er ſpricht: „Seyd alfo nicht 
beforgt, und faget nicht: was werden wir effen? was werben 
wir. trinten? womit werben wir uns Meiden? Nach allem 
folhem trachten die Heiden. Denn euer Vater weiß, daß ihr 
dad Alles bedürfet.” Merket wohl, m. 3.1 die zu ängfiliche 
Sorge um feinen Unterhalt, nennt der Herr hier geradezu eine 
heidnifche Sorge. Denn die Heiden glaubten nicht, daß ihre 
Götter von der Noth der Menfchen etwas wüßten, ober fich 
darum befümmerten. Wer alfo um feinen täglichen Unterhalt 
unmäßig beforgt ifl, wahrlich, der ift ein Heide und Fein Chrift. 
Wie Mancher, der von harter Noth gedruͤckt iſt, kennt doch 
wohl einen gut geſinnten Menſchenfreund, und ſeufzt in feinem 
Herzen: „Ah! wenn der es jetzt nur wüßte, wie es mir geht; 
wir würde fogleich geholfen werden!" Nun wohl! . Einer ift, 
Der 5 weiß; euer Water im Himmel weiß ed, wie ed bit, 
Seinem Kinde, jetzt gebt; "genug für dich, daß Er es weiß, 
um von Seiner Hülfe gewiß zu ſeyn. Sollte ein menfchlicher 
Bater, der die Noth feines Kindes kennt und helfen ann, fo 
bart ſeyn und fein Kind verfommen Iaffen? und was du einem 
menfhlichen Water, fo hart und böfe er auch ſeyn möchte, 
ı nicht einmal zumutheft, das wollteſt du dem himmliſchen Vater 
zumuthen? Schaͤme dich eines ſolchen Mißtrauens: Nein, 
ſchaͤme dich nicht allein, erzittere vielmehr. vor einem ſolchen in 
der That ruchlofen, heibnifchen Mißtrauen! 

Wenn ihre dann Sorge haben, wollet, fü gebet Acht, welche 
Sorge der Herr euch anweiſet: „Suchet alſo,“ ſpricht Er, „das 


Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit, und jenes Alles wird 
WE auc. 6 | 


| — 2 — 

euch zugegeben werden!” Daß folk euere Hauptſorge feyn, wie 
ihr fromm und gerecht, rein und unbefledt vor Gott leben, und 
durch Ausuͤbung aller Gebote in den Himmel kommen moͤget. 
Nichts in der Welt ſoll euch ſo ſehr am Herzen liegen, als 


das Heil euerer Seele, als euer ewiges Heil. Damit ihr durch 
eure Sorge für den fäglichen Unterhalt an dieſer Hauptforge 


euch nicht hindern lafiet, fa hat der himmliſche Water Selbſt 


diefe Sorge für euer tägliches Auskommen uͤbernommen; feht, 


wenn ihr ed nur an ber Einen Hauptforge nicht fehlen laſſet, 


fo wird Er euch nicht nur den Himmel geben, ſondern auch 
alles Uebrige; Alles, was zw euerem täglichen Unterhalte gehd- 
vet, was gegen jenes ewige Gut nur eine Kleinigkeit, nur eine 
Nebenſache ift, noch hinzugeben; wenn ihr durch die Eine 
Hauptiorge Ihm das ewige Gut, den Himmel, gleichfam ab- 


verbienet und abfaufet, fo wird Er euch dad zeitliche Gut als 


Zugabe gleihfam in den Kauf geben. 

Dorum follet ihr um euer tägliches Ausfommen fo wenig 
befümmert feyn, daß eure. Sorge dafür nicht einmal auf den 
morgenden Bag fich erftreden fol. Scht, darum habe Ih 
euch beten gelehrt: Unfer tägliches Brod gib und heute! 
Heute, nicht weiter! Betet ihr heute mit Vertrauen um bad 
tägliche Brod, fo wird der himmiifche Water auch morgen umd 

. Übermorgen dafür forgen. „Darum feyd nicht beforgt für den’ 
maorgenden Tag, denn ber morgenbe Bag wird beforgt feyn für 
das Seine. Genug, daß jeder Tag feine eigene Plage habe.“ 
Dreimal Eurz nach einander wiederholt der Herr Seine Auffor⸗ 
berung: „Seyb nicht beſorgt!“ ſeht, fo ſehr ift Ihm daran 


gelegen, daß wir die ängftliche Sorge für unferen täglichen Un 


terhalt follen fahren, daß wir durch diefe Sorge von der Einen 
-Hauptforge für unfer ewiges Heil uns nicht follen abhalten 
laſſen. „Der morgende Tag wird beforgt feyn für dad Seine.’ 
Gott, der Herr aller Zeiten, wird morgen, fo wie heut, für dich 
forgen. „Genug, daß jeder Tag feine eigene Plage habe.” Je⸗ 


der Tag hat für. jeden Menſchen fein beflimmtes Maaß von 


Mühfeligkeiten, Uebeln und Leiden, welches der Herr aller Zei⸗ 


ten und Tage ihm zugemeffen hat. Bermehre alfo die wirkte 





— BB — 


lichen Leiden des gegenwaͤrtigen Tages nicht mit der Sorge 
und Furcht vor den Plagen des morgenden Tages! Nichts 
plagt die Seele ſo ſehr, als eng: Wozu ladeſt du dem _ 
Tage mehr Mühfeligkeiten auf, als ihm zugebadht find? und 
warum dringeſt du, . nebit der Laft feiner eigenen Page, auch 
noh die Plage des Zukünftigen ihm auf? Und zwar, ohne 
durh einen folchen Zuſatz die erfte Laſt zu mindern, fondern 
mr, uns Plage auf Plage zu häufen! 

Das ift nun die troftsolle, erhebende Rebe, worin uns 
der. Herr J. C. zum Vertrauen auf den himmlifchen Water fo 
dringend. ermuntert, worin Er's uns fo nachdruͤcklich an's Herz 
gelegt hat, Daß wir Kinder des himmliſchen Waters find, daß 
keine menſchliche Waterforge und Waterliede gu vergleichen iſt 
mit der Liebe, mit welcher der himmliſche Water allezeit für 
uns ſorgt. 

Damit wir deſto ungefidrter mit ganzem Herzen ber wid: 
tigften Angelegenheit, der Sorge fuͤr unfer ewiges Hell, oblie 
gen koͤnnen, deßwegen hat und. I. C. von aller ängfllichen und 
beunrupigendben Sorge für unfere zeitlichen Angelegenheiten 
gänzlich. befreict. Wenn wie im Beitlichen thun, was unfer ift, 
wenn wie vernünftig ſparſam und zugleich arbeitfam find, fo 
birfen und follen wir ganz ruhig feyn, benn der Here forgt 
für und. Diefe Verheißung iſt unfer Troſt und unfere Ruhe, 
unſer Schag und unfer Reichthum; wir find reich in Goft, 
unſerem Water; Der reich. genug IR fie Alle, die Ihn anrufen. 
Diefe Lehre gibt umd. zu erkennen, daß wir Gott nicht mehr 
ehren, dag wir nicht mehr Sein Wohlgefallen erwerben Finnen, 
ad wenn wir im unbedingten Wertrauen uns ımb Alles Ihin 
bingeben. Er will nur unfer Vertrauen, um und Alles, was 
uns zum Beſten it, in reichlichſter Fälle ‚mitzutbeilen. Mögen 
wir num. auch in Kummer und Clend, in Noth und Bebraͤng⸗ 
niß kommen, je größer bie Noth iſt, um beſto beſſer Fännen 
wir Ihm alsdann unſer vollkommenes Vertrauen beweiſen, mit 
deſto groͤßerer Zuverſicht blrfen wir alsdann wuf Seine Huͤlfe 
hoffen, wenn er ‚auch nach Seiner Weisheit mit Seiner Hüfte 
noch verziehen follte. Er hilft gewiß zu rechter Beitz das bürs 

\ \ 6* 


— 1 — 

fen, das follen wir feſt glauben. Wehe uns, wenn wir, von 
Noth auch noch ſo ſehr gedraͤngt, zu unerlaubter Selbſthuͤlfe 
unſere Zuflucht nehmen wollten! Selbft- und Menſchenbuͤlfe, 
wie ſchwach und unficher iſt fie! unerlaubte Selbſthuͤlfe bringt 
nie und nimmer Segen, bringt am Ende immer Wehe. Durch 
unerlaubte Selbfihlilfe, die fo ſchwach und unficher iſt, Leifteft 
Yu alfobald Verzicht auf die Hülfe des allmächtigen Gottes, 
Tür Den keine Noth zu groß iſt, um nicht retten und helfen 
zu Binden. Hilfft du dir felber auf unerlaubte Art, fo darfſt 
du auf Gottes Hülfe nicht weiter rechnen; aus einer geringeren 
Noth Haft du dich befreiet, um bald einer noch größeren Roth 
anheim zu fallen. WBeharren wir aber, auch in der größten 
Noth im Vertrauen, fo haben wir ben großen. Troſt, daß Gott 
an und Sein Wohlgefallen hat; fo haben wir bie Beruhigung, 
daß Gott, wenn Er auch mit Seiner Außerlichen Hülfe noch 

verzieht, und doch gewiß innerlich flärft mit Seiner Gnade, 
. ums biefe Noth- nach Seinem Willen ertragen zu koͤnnen, um 
unſer Verdienft zu erhöhen. Und follte dee Herr in biefer Roth 
auch das Opfer unferes Lebens fordern, follte diefe Noth auch 
bis zum Ende unfered Lebens dauern, num fo nimmt fie doch 
mit dem Ende unferes Lebens ihr Ende, und die Seligkeit, die 
der Herr denen verheißen hat, die ausharren bis zum Ende, 


wird unfer Lohn feyn in Ewigkeit. Wenn du alfo auch, Vater | 
oder Mutter, auf dem Sterbebette. liegft, und mehrere unmüns | 


dige Kinder um dich her ‚fiehen oder liegen, und du Keinen 
weißt auf ber weiten Welt, der ihrer ſich anmähme, fey getroſi! 
der Water im Himmel iſt auch der Water deiner Kinder! Cr 


wirb für fie forgen; im Vertrauen zu Ihm darſſt du ruhig 


dein Auge ſchließen. 
Nun wohlan, m. 3.! der Water im Himmel ruft und zu 
durch Seinen eingebornen Sohn, unferen Herrn J. C.: „Ber 


trauet auf Mich! Ich forge für euch.“ Wir wollen Ihm | 


antworten: „Vater! wir vertrauen auf Dich; auf das Wort 


‚Deines Sohnes wollen wir Die Alles übergeben, und alle 


| ängklihe Sorge fahren laſſen.“ 








. | — 8 — 


Hoͤret denn noch zum Schluſſe das Wort jenes frommen 
Dredigers: „Wenn euch Noth und Kummer zu ſehr druͤcket, 
wenn ihr in Umſtaͤnde kommt, wo ihr euch nicht mehr zu hel⸗ 
fen wiſſet, ſo leſet nur in euerer Handpoſtille das heutige Evan⸗ 
getum. Leſet es ruhig und bedachtſam vom Anfange bis zum 
Ende; und wenn ihr mit dem Leſen fertig ſeyd, ſo ſprechet zu 
euch ſelbſt: „O mein Gott! Du haſt mich und meine Kinder 
erſchaffen, Du wirſt uns alſo auch erhalten; denn das Leben 
iſt ja mehr, als die Speiſe! Du haſt mir und meinen Kindern 
einen kuͤnſtlich gebaueten Leib gegeben, Du wirſt uns alſo auch 
kleiden; denn der Leib iſt ja mehr als die Kleidung.“ Quaͤlen 
euch aber die Brodt⸗ und Kleidungsſorgen ein andersmal ˖wie⸗ 
der,. fo fchauet nur draußen In der Schöpfung Gottes ein wer 
nig herum! Da werdet ihr bald einen Vogel fehen, der weder 
ausſaͤet, noch einfchneidet, und doch fo fröhlich fingt und immer 
zu effen findet. Laſſet diefen Vogel euer Lehrmeifter feyn, und 
forechet zu euch felbft: „Warum fol ich um das tägliche Brod 


fo unruhig beforgt feyn? Der Vater im Himmel, Der die 


Bögel fpeifet, denkt gewiß auch an mid. Ich bin ja doch 
mehr werth, ald ein Vogel! Eben ‚fo betrachtet die Blumen 
auf dem Felde! Da ruft eine jebe euch zu: „Gott ift es, Der 
mich fo ſchoͤn kleidet! Nimm eine ſolche Blume in die Hand, 


um betrachte fie in-Ihrer Schönheit, und halte fie fo lange in -, 


der Hand, bis alle finfteren Gedanken aus deiner Seele vers - 
Minden. O Geliebte! wie ruhig koͤnnten wie auf Erben - 
Ieben, wenn wir nur den Water im Himmel für und forgen 
liehen! Ja, Baker! wir glauben, daB Du für und forgefl. - 
Wir wollen Deiner und ber Lehre Deines Apofteld folgen; wir 

wollen alle unfere Sorgen auf Dich werfen, denn Du forgeft 
für und. Amen. | Be 





. 
D 
| 8 
8 


Siebente Rede 
Zweite Rede am fünfzehnten Sonntage nach dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. | 


Zert: 
Suchet am erſten das Reich Gottes und Seine Ge⸗ 


rechtigkeit, und jenes Alles ſoll euch zugegeben werden! 
Matth. 6, 48. | 


Thema: 
Von der goͤttlichen gätfehung 


ie troftreiche und ungemein. wichtige Lehre, welche das heu⸗ 
tige Evangelium enthält, iſt aus ber Bergrede genommen, 
welche unfer Herr 3. €. an eine ſehr große Menge Zuhoͤrer, 
die meiſtens gemeine und arme Leute waren, gehalten bat. 
Leute dieſer Art find gewöhnlich von Nahrungsſorgen gequält, 
weil fie von einem Tage zum anderen oft nicht wiſſen, wovon 
fie zu leben haben. Diefe Sorge wird aber gar oft unerdent⸗ 
lich, well «8 dabei am Vertrauen fehlt, und weil bie ungleich 
wichtigere Sorge für dad Heil der Seele dabei oft fehr leidet. 
Was nun, bei gemeinen Leuten Nahrungsforge iſt, bie wohl 
noch am erſten Entfchulbigung finden möchte, das iſt bei am 
deren mehr oder weniger Wohlhabenden, fogas bei Beghterten 
und Reichen, eine unorbentlihe, bad ganze Herz erfüllenbe 
Sorge für das Zeitliche, ‚für die Erhaltung und Vermehrung 
ihrer zeitlichen Güter. Denn wer einmal hat, will immer mehr 
haben. Mit diefer Sorge, bei den‘ Wohlhabenden Habſucht 
‚genannt, geht ed, wie mit jeder anderen Leidenfchaft, die mit 
jeder Befriedigung immer waͤchſt und zunimmt, immer frecher 
wird in ihren Forderungen, zuletzt unerfättlich wird. Denn das 
Auge wird nicht befriebiget durch) Sehen, das Ohr nicht durch 








— 1 — 
Hören, das menfchliche. Herz nicht durch Beſitz ober Genuß. 
Benn nun der Heiland 3. €. ſchon die unordentliche, am mei: 
fien zu entfehuldigende Nahrungsforge tadelt und verdammt, 


biefelbe. fogar eine heidniſche Sorge nennt; wie vielmehr wird 
Er dann jene andere unorbentliche Sorge der Mohlhabenden 


und Reichen für die Vermehrung des Zeitlichen tadeln und ver⸗ 


daumen ?.D, m. 3.! wir wiffen freilich vecht gut, daß ber 
Heiland Durch diefe Lehre nicht alle und jebe, fondern nur bie 
unordentliche, das ganze Herz zu fehr einnehmende Sorge 
für das Beitliche ausfchliegt und verdammt, daß es vielmehr 
sach Seiner Lehre unfere firenge Pflicht ift, auf ordentliche 
Beife für unſer Auskommen zu forgen. Wenn: wir aber unfere 
Sorge, die wir für das Zeitliche wirklich haben, mit der Haupt: - 


ſorge, die. wir. haben follten und nicht haben, namlid mit der 


Sorge für das Heil. unferer Seele, für dad Reich Gotted, wie 


der Heiland es nennt, vergleichen, muͤſſen wir dann nicht über 
uns felbft das Bekenntniß ablegen, daB wir, in dem Einen zu 
viel, in dern Anderen zu wenig thun? Und follte es Einige 


geben, bie das: nicht meinen, bie vielmehr der Meinung wären, 
daß ihre. Sorge für das Zeitliche eine ganz wohlgeorbnete Sorge 
ſey, ſo moͤchten eben Diefe wohl am meiften auf ihrer Hut. 
ſeyn; denn die Meinung ift ein ſehr verbächtiged Zeugniß 


gegen ſie ſelbſt, ein Zeugniß ihrer Selbſtverblendung, ein Zeug⸗ 


niß, daß ſie ſich ſelbſt nicht. kennen. Mit gerechtem· Mißtrauen 
auf und. ſelbſt, nit, demuͤthigem Bekenntniß unferer Schuld, 
mit gelehriger Aufmerkſamkeit wollen wir. Daher: hören imd. . 
achten auf Die Lehre, unerä:: Heilandes J. C., in der feſten 
Ueberzeugeng, daß dieſe ‚Lehre. ur5::Mlle angehe, und Allen ges 
geben ſey, ſowohl Flur: unſor ſecuces Berhaiten, als für die 
"ie amfere Ceniths. 


| Die. Lehre unfers Heilandes beſteht darin: Wir ſollen uns 
ſet ganges Dichten: und Trachten, den Bieblingswunfch -unfers 
Hetzens nicht anf, das Zeitleche richten, unſet Herz mit vieſer 
Serge mi afullen; Taten wir follen ‚unfere Daupiforg 


8 — 


richten auf das ewige Heil unferer Seele; wir follen und durch 
die Sorge fuͤr das Zeitliche auf keine Weiſe an bei Sorge für 
dad Heil unferer Seele hindern laſſen; wir follen dafür forgen, 
unfer Gewiffen rein und unbefledt zu bewahren, ‚und Gott, un⸗ 
ferem Vater, mit dem’ganzen Vertrauen unb der ganzen Liebe 
unferd Herzens anzubangen.. Dann follen wir ganz beruhiget 
und vollfommen ‚verfichert feyn, daß Gott, Der da wiffe, was 
wir bedürfen, für. unfer zeitliche Auskommen, als ein guter 
Water Gelbft. forgen merde, follen alfo alle unfere zeitlichen 
Sorgen Gott, unferem Bater, allein übergeben. | 

Es ift alfo die Lehre von der göttlichen Fürfehung, wors 
auf 3. E. uns hier hinweiſet, ober die Er vielmehr Selbſt in 
den Worten unferes heutigen Evangeliums auöfpricht und offens 
baret. Da nun biefe Lehre ſowohl für unfer ſittliches Verhal⸗ 
ten, als auch für unfere Beruhigung fo aͤußerſt wirkfam iſt; 
da wir in unferem ganzen. Leben, ‚wenn daſſelbe verdienſtlich 
und Gott wohlgefällig feyn ſoll, alle Tage nach dieſer Lehre 
uns richten muͤſſen; und..da es zugleich Wiele gibs, : die von 
diefer Lehre nicht die gehärige Einficht, und: keinen ganz richti⸗ 
gen, Begriff haben; . fo wollen wit heut darauf: achten, worin 
dieſe Lehre beſteht, wie dieſelbe in der h. Schrift gegränbet iſt. 

Daß Gott alle Ereigniffe ber Natur unb alle Begeben⸗ 
heiten in der Welt fo leitet und Ienfet, um die ewige Süd: 
feligkeit Seiner Srommen und. Gerechten, und um zugleich 
ihre zeitliche Gtüdfeligkeit, in ſofern es der ewigen nicht 
zum Hinderniß iſt, zu fichern und zu befösbern, lehrt uns bie 
h. Schrift des alten und neuen Bunbed in gar vielen Stellen, 
unter denen wir und nur ben .befannten Ausſpruch bed Apoftels 
Paulus merken wollen: „Denen, bie.Gott lieben, bien alle 
Dinge zum Beften.” Nom. 8, 28. Unb wie kann es auch 
anders feyn? Wer nichtd andered fucht und will, ald Gott zu 
Vieben, und bewegen nichts Anderes fucht und will, weil er 
in Gott die Liebe ſelbſt erkennt; ber ſieht in Allem, mas ihn 
begegnet, fey ed Freude ober Leib, Gluͤck ober Ungläd, Gefand« 
heit oder Krankheit, Leben ober. Tod, nur eine Anorduung ots 
tes zu feinem Beſten, unb unerwirft ſich Allem mit: ergebungs« 


e 
—— — — 


voller Dankbarkeit, Und wer bei Allem, was er thut und 
treibt, wuͤnſcht und begehrt ober verabfchenet, Feine ans 
dere Abſicht bat, als Gott feine gehorfame und dankbare Liebe 
zu beweifen; dem muß auch Alles, jede Arbeit, jedes Werk 
zum Beten dienen; denn er fleht immer im Dienfte der Liebe, 
und je mehr es Liebe übt, um deſto mehr muß er auch in der 
iebe wachſen. 

Wenn und aber bie Lehre von der goͤttlichen Jinſchung 
bloß dieſe Verſicherung gäbe, daß Gott für die zeitliche und 
ewige Gtüdfeligkeit nur Seiner Frommen und Gerechten forge; 
fo würde und biefe Lehre noch gar wenig zum Troſte und zur 
Beruhigung feyn. Denn wer möchte und duͤrfte wohl bem 
Häuflein der Frommen und Gerechten fich felbft beigefellen ? 
wer dürfte wohl von ſich ſelbſt fagen: „Ich liebe Gott?‘ dürfte 
nur fagen: „Ich firede aus allen meinen Kräften, Gott von 
ganzem Herzen und Über alles zu lieben?“ Wie dann, ſtehen 
nicht auch wir Uebrigen, die wie und zu ben Frommen und 
Gerechten nicht rechnen bürfen und mögen, die wir ums: viel» 
mehr "als Lichlofe, als Ungerechte, als Slmber bekennen muͤſ⸗ 
fen, — ſtehen wir denn gar nicht unter ber Fürfehung Gottest 
Sorgt Gott gar nicht für umfere zeitliche und ewige Gluͤckſelig⸗ 
keit? Dürfen wir biefe größte aller Snaden und Wohlthaten 

wicht eher von Gott erwarten, als bis wir erft volllommen ges 
at geworden find? — Faſſe Muth! Gott ift die Liebe ſelbſt, 
und auch gegen die Ungerechten iſt Gott die Liebe felbſt. Die 
Ungereöten bedürfen am meiſten der göttlichen Hülfe, und 
Sort verſagt Ihnen Seinen Beiſtand nicht; Er forgt für ihre 
ewige Gluͤckſeligkeit, forgt auch für ihre zeitliche Gluͤcſſeligkeit, 
in fo fern dieſelbe der ewigen nicht zum Hinderniß ift. Seht! 
dieſe troftreiche Lehre gibt: und J. €. vorzüglich in umferem 
heutigen Evangellum. Cr macht: bier gar einen Unterfchieb 
zwiſchen den Srommen und Gerechten, und zwifchen ben Uns 
gerechten und Suͤndern. Und Alle ohne Unterfchied weifet Er 
bir auf die Wögel des Himmels und auf die Blumen des Fel- 
bei, die für ihr eigenes Wohl nicht einmal forgen koͤnnen; 
fährt uns L denſelben gleichfam in bie San, daß wir von 


— 0 — 
ihnen lernen ſollen, uns, in Ruͤckſicht unſerer zeitlichen Be⸗ 


düuͤrfniſſe, ganz Gott zu uͤberlaſſen, damit wir unſere Haupt⸗ 


forge beflo mehr auf die Angelegenheit unferd ewigen Seelens 
heils richten, von dieſer Sorge durch eine anbere zeitliche Sorge 
und abhalten Iaffen möchten. In bdemfelben Gef und Sinn 
fpricht der Apoftel Petrus: „Werfet alle eure Sorgen auf Ihn, 
denn Er forgt für euch!“ 1. Petr. 5, 7. Wie könnte und 


duͤrfte der Menſch alle feine Sorge auf, ben Herrn werfen, wenn 
Er die Natur nicht. fo eingerichtet hätte, daß fie zur Befriedigung 


unſerer Beduͤrfniſſe dienen müßte? Denket euch einmal: zuräcd 
in die. Jahre, da wir fo viele Tauſende und, Tauſende fremder 
Voͤlker aus den entfernteflen Ländern, ja fogar. aus. anderen 
Welttheilen zu ernähren hatten, daß es kaum zu begreifen, wie 
es möglich war, fire fie Alle hinreichende Nahrung zu finden ! 
Sat Gott nicht das unmöglich Scheinende wirklich gemacht durch 


die außerordentliche Hülle von ‚Korn, und vorzüglich von Gars 
tenfruͤchten, womit Er bamald uns ſegnete? Und da Gott ig 


den Jahren ber. Noth und Theuerung ber fruchtbringenden Erde 


ihren Reichtchum auf eine -Zeitfang entzogen hatte, hat Er doch 


nicht ausgeholfen in jener Noth und in den Herzen vieler wahr⸗ 


haft chriſtlichen Wohithaͤter einen Quell liehreicher Huͤlfe eroͤff⸗ 
net, welche mit. vielfachem Segen auf bie Geber wieder zuruͤck⸗ 


kehrte? Hat Er vnicht damals, da Er zeitliche Guͤter nahm, 
die ewigen in deſto xeichlicherer Fülle verbreitet, und viele gute 


Gefinnungen befoͤrdert, viele gute Werke: veranlaßt, bie . ohne 


jene Noth nicht würden zu Stande gekommen ſeyn? Und jene 
Hebreiche, fürforgende Huͤlfe hat der Herr Allen ohne Untese 
ſchied erwieſen, ben Boͤſen ſowohl ald.den Guten, der Unge⸗ 


rechten und Suͤndern ſowohl, als den Frommen und Gerpche 


ten. Deßwegen fordert und J. C. auf, alle Menſchen ohne 
Unterſchied zu lieben, und gibt als Grund an: „Damit 
ihr Kinder feyd eueres Waterd im Himmel, Denn Er Täßt 
Seine Sonne aufgehen über. die Boͤſen und Guten, und ſendet 
Negen Über bie Selber ber Ungerechten und Gerechten.“ Matth. 
5, 45. — Und zu den Npofteln fpricht Er: „Kauft: man nice 


zwei Sperlinge um Einen Pfenning? Und dad ‚fällt Keiner 








— 1 — 


auf die Erde ohne eueren Vater. Es find aber auch we deene 
auf unſerem Haupte alle gezählt. So fuͤrchtet euch denn nicht! 
Ihr ſeyd beſſer, als viele Sperlinge Matth, 10, 20... Das 
ſprach Er, um ſie uͤber die ihnen bevorſtehenden ſchweren Lei⸗ 
vn, Verfolgungen und Schickſale zu beruhigen. Aber dieſen 
Troft, dieſe Beruhigung gab Er nicht den Apoſteln allein, gab 
Er Allen ohne Unterfehieb. Denn der rund, warum fie beſſer 
feyen, als diele Sperlinge, gilt nicht nur von Ihnen, ſondern 
von einem eben, ber Menſch tft, ohne Unterſchied. Das Bes 
wußtſeyn, ber Vorwurf unferes Gewiſſens, daß wir Unges 
rechte, daß wir Suͤnder ſind, darf und ſoll alfo unfer Vers 
frauen anf die göttliche Fuͤrfehung auf keine Art und Weite 
ſchwaͤchen. Wir alte ohne Unterfchieb fleherr unter dem Schutze, 
der Leitung und Fuͤrſehung eines für unfer Wohl forgenden, 
ale unfere Beduͤrfniſſe Tennenden, Mebreichen Waters. Unſer 
Vater Im Himmel übernimmt Selbſt die Sorge für unfere 
zeliliche Wohlfahrt, damit wir deſto ruhiger und ungeflörter 
umfere Haupiſorge, unfere ‚einzige Sorge auf das Seit unſerer 
Seele richten koͤnnen. 

Und darauf, auf das Heil unſerer Seele, auf unſers | 
ewige Wohlfahrk, iR auch eigentlich die Sorge unfers himm⸗ 
liſchen Baters gerichtet. Wenn Er nach Seiner Allwiffenheit 
erkennt,‘ daß durch die Befoͤrderung unferer zeitlichen Wohlfahrt 
auch unfere ewige am fiherften ünd beften befärbert: werde; fo 
gibt Er und Gegen im Zeillihen, damit wir durch guten Ges 
brauch unſer ewiges Heil defto beffer ‚beförbern möchten. Wenn 
Er aber nad Seiner Allwiſſenheit erkennt, daß Nachtheit und 
ungluͤck zur Befoͤrderung unſers ewigen Heils nothwendig iſt; 
ſo laͤßt er Schaden und Ungluͤck, Leiden und Drarigfale über 
und kommen, damit wir zu und felbft Tommen, und mit grös 
ßerem Eifer unfer ewiges Seelenheil beforgen möchten. : Ss 
lehrt und der Apoſtel Petrus: „Der Herr verzieht die Werhels 
Bung nicht (wie Einige meinen), fondern Er iſt langwuͤthig 
euertwegen, und will nicht, daß Etliche verloren gehen, fon: 
dern daß Alle zur Buße ſich wenden.” 2. Petr. 3, 9. Auf 
gleiche Weiſe fehrt der Apoſtet vaulus: „Verkenneſt du Seine 


— 1— 


Aberſchwengliche Shte und Langmuth und Geduld, und weißt 
nicht, daß die Güte Gottes zur Buße dic ruft?” Roͤm. 2, 4. 
Sort iſt größer, als unfer Herz. Was Menſchen aus Schwache 
muͤthigkeit und Weichherzigfeit, die Peine Lebe ift, an-den Ihe 
rigen, an ihren Kindern nicht thun Eönnten, wenn fie baffelbe . 
für ihr wahres Wohl auch. nothwendig fanden, das thut und 
wirket Gott nach Seiner Liebe, die unendlich, bie ohne Maß 
und Schranken ifl. Gott verhängt oft die ſchwerſten Leiden 
und Drangfale, Krieg und Krankheit, Notb und Theurung 
über ganze Voͤlker, indem er einficht, daß es zum wahren 
Wohle derſelben nothwenbig iſt. Und indem Ex für Alle 
forgt, forgt Er zugleich für jeden Einzelnen; forgt für Ei⸗ 
zen, wie für Me Bei menfchlichen Anordnungen muß das 
Wohl des Einzelnen dem Wohle ded Ganzen oftmals nachfles 
ben, muß der Einzelne oft ſchwere Opfer bringen, damit das 
- Wohl des Ganzen beförbert werde. Gott, ber Allwiſſende und 
Allweiſe, trifft Seine Anordnungen und lenkt Seine Zügungen 
immer auf folhe Art, daß, indem das Wohl. des Ganzen durch 
biefeibe befürbert wird, auch das wahre Wohl des Einzelnen 
niemald Darunter leidet, bap mit dem Wohl ded Ganzen aud) 
zugleich dad wahre Wohl eines jeden Einzelnen dadurch befürz 
dert wird; Was Gott thut, ift alfo immer wohl gethan. Auch 
bei den fchwerften Leiden. und Schickſalen müffen wir, wenn 
auch unter Thränen, befennen, und mit lauteni Dank ausru⸗ 
fen: „Der Herr bat Alles wohl gemacht!” Auch bei ſolchen 
Beiden und Schidfalen, bie uns von anderen Menfchen mit 
oder ohne ihre Abficht zugefügt werben, follen wir und beru⸗ 
higen; denn es gefchieht nichts, ohne daß Gott es weiß, und 
zu unferem Beſten will, obne daß Er es fo lenkt, daß unfere 
ewige Wohlfahrt dadurch befördert werde. Auch bei folchen 
Leiden, und Schiäfalen, bie wir und felbft durch Unbeſonnen⸗ 
heit, Leichtfinn und Uebereilung, durch fünbliche Ausſchweifun⸗ 
gen, ober überhaupt mit unſerer Schuld zugezogen haben, fols 
Yen wir und beruhigen; denn es gefchieht wieder nicht, ohne 
Daß Gott es weiß, und zu unferem Beſten will, ohne ‚daß - 
Gott es ſo lenkt, daß Er unſer ewiges Heil dadurch befoͤrdern 





wi. Was zu unferem ewigen Heile nothwendig iſt, hätte 
ohne jenes, wenn auch felbft verfchulbetes, Leiden nie und nins 
mer erreicht werden Finnen, Darum bat Gott ed über uns 
kommen laffen. Darum bat Gott unfere Natur fo eingerichtet, 
daß folche Uebel und Leiden als natürliche Folgen unferer 
Sände über und kommen mußte. Wären fie nit Über uns 
gekommen, fo würden wir noch länger in ber Sünde geblieben, 
am Ende in der Sünde verbärtet und verflodt worden feyn. 
Durch folche Uebel und Leiden werben wir mit Gewalt von 
der Sünde hinweggezogen; wir müffen alfo biefelbe als bie 
groͤßte Wohlthat und als den -ficherfien Beweis anerfennen, daß 
wir unter ber liebevollen Leitung der göttlichen Zürfehung ſte⸗ 
ben. Bott leitet und lenkt alle dieſe Ereigniffe und Folgen fo, 
daß fie zu unferer Befferung, zu unferem Heile dienen ſollen; 
zwingt und aber nicht, thut unſerem freien Willen keine 
Gewalt an; wenn fie alfo nicht zu unferem Beten dienen, 
fo ift es einzig und allein unfere Schuld. Davon find wir 
alfo durch den Glauben überzeugt, daß Gott immer aus weis 
fer Liebe felbe über und verhängt. Das iſt der unerfchütterlich 
fefte Grund unferer Beruhigung in allen nur möglichen Leiden 
und Schidfalen. Das gibt und einen Trieben, den bie ganze 
Belt mit aller ihrer Macht und Lift und nicht nehmen kann. 


So liegt es und dem beutlich und beſtimmt vor Augen, 
worin nach der Lehre der h. Schrift die göttliche Fürfehung bes 
ſteht. Nach Seiner Allwiſſenheit erkennt Gott alle Dinge, alle 
Ereigniffe der Natur, erkennt ebenfalls alle Begebenheiten, die 
von dem freien Willen des Menfchen abhangen.- Und nad 
Seiner Allmacht und Liebe lenkt Gott alle biefe Dinge, Nas 
turereigniffe und Begebenheiten zum Beſten, zur wahren Wohls 
fahrt und Gtädfeligkeit der Menſchen. Gott iſt unfer Water. 
Kinder dürfen beruhiget feyn, wenn ihr guter Water um ihre 
Bebürfniffe nur weiß. Daher fpriht J. C.: „Euer Bater im 
Himmel weiß, weſſen ihe bebürfet.” Genug für euch, genug 
- für euere Beruhigung, daß ed euer Water weiß. Seyd .alfo 
verſichert, daß Ex tröften, helfen und ſtaͤrken wird zu rechter 


Seit, und auf die rechte Art, fo wie es fuͤr such zum Beſten 
iſt. So ſeyd denn gefinnt, wie Gott gegen euch gefinnt iftl. 


IL. . 

Die beiden größten Apoftel, Petrus und Paulus, : haben 

‚und durch Lehre und Beiſpiel gezeigt, wie wir dieſe troftreiche 
‚Lehre von der göttlichen Fürfehung. in allen nur immer mög: 
lichen Zällen unferd Lebend anwenden follen. Laſſet uns z. B. 
nur achten auf bad vorhin fehon angeführte Wort bes Apoſtels 
Petrus: „Alle euere Sorgen werfet auf Ihn, denn Er forgt 
für euch!” 1. Pet. 5, 7. Ein jedes Wort in dieſem Aus⸗ 
fpruch bat viel Sinn'und Bedeutung; wir wollen alfo benfel- 
ben Wort für Wort betrachten. Das Wort, welches wir haupt: 
ſaͤchlich zu erwägen haben, ift dad Wort: Beſorgniß. Was. 
pflegen wir darunter zu verftcehen? Alles das, was unfer Herz 
beunruhiget, Alles, was wir ald ein Uebel flr und anſehen; 
ſey es die Erinnerung an ein vergangene, oder der Drud ei⸗ 
ned gegenwärtigen, wirklichen, ober die Furcht vor einem zu⸗ 
kuͤnftigen; betreffe ed’ und felbft, ober unfere Angehörigen, be- 
‚treffe es zeitliche ober ewige Dinge, unfer wahres, ewiges Heil. 
"Eigentlich aber geht die Beſorgniß immer auf dad Zukünftige, 
“und ift eine Beunruhigung des Gemuͤths wegen künftiger Uebel, 
die wir noch fürdten. Und nun feht, m. T.! alle diefe Be 
‚unrubigungen, ale dieſe Beforgnifle, fie mögen. fuͤr Namen 
haben, was fie wollen, wil nun der durch dem h. Geiſt er 
‚leuchtete Apoſtel ganz von und wegnehmen. Um uns jeben noch 

:angftigenden Zweifel zu nehmen, um: uns gar Fein Hecht. zu 
degend einer Ausnahme zu verflatten, jagt ex gleich im Anfange, 
:gleich mit bem erfien Worte feined Spruches: Alle, alle .enere 
Beforgniffe, alſo alle ohne Ausnahme; und wenn es auch ſchei⸗ 
‚nen möchte, dieſe deine Beſorgniß feye doch von einer ſolchen 
At, daß du Daß größte Recht dazu haͤtteſt, ja du koͤnnteſt 
nicht anders, als nm dieſer Sache wegen, recht beſorgt und 
heunzubiget zu ſeyn. Alle, bat und der b. Geiſt durch den 
Apoftel fagen laſſen, alle, alfo gehört auch die ſe darunter, 
ſie mag nun beſchaffen feyn, wie fie will. Ber nun recht 


beforgt und beunruhiget if, dem Legt feine Beſorgniß und Uns 
ruhe wie ein Stein auf dem Herzenz es ift ihm zu: Muthe, 
wie Einem, ber eine ſchwere Laſt zu tragen hat; wird dieſem 
die Laſt endlich zu ſchwer, fo legt er ſie nicht langſam weg, 
a wirft fie auf einmal von fi zur Erde hin. So foll es ber 
Chriſt mit jeder beunruhigenden Beſorgniß auch. machen. Der 
Apoftel fagt nicht: Leget fie weg, leget fie von euch; werfet 
fie. weg, werfet fie von euch, ſpricht er, als eine Sache, wo⸗ 
mit ihr nichts mehr wollet zu ſchaffen haben. Seht ihr wohl, 
m. C.! wie auch dieſes fo unbedeutend ſcheinende Woͤrtchen in 
dem Spruche des Apoſtels, dad Wörthen Werfet, gar nicht 
ohne Sim und Bebeutung iſt? Der Apoftel wil dadurch bie 
ſchnelle Entſchloſſenheit ausbrüden, womit der wahre Chrift Alles, 
was feinem Herzen Unruhe und Beforgniß macht, fogleih von 
fi abſchuͤtteln und wegwerfen fol. — No Eines, was wir 
in feinem Ausſpruche nicht unbeachtet laſſen dürfen. Wohin 
follen wir denn die. und beunruhigende Beſorgniß werfen? wer 
ſoll fie für und übernehmen? wer für und das thun, was wir 
ſelbſt nicht leiſten koͤnnen und folen? „WBerfet fie,” fpricht er, 

- „auf Ihn, nämlich auf Gott, oder auf unferen Heiland 3. C.1" 
Gerade fo, wie es der Schwache mit einer Baft macht, die ihm 
zu ſchwer wird, ‘die er nicht mehr tragen kann; er übergibt fie 
einem Stärkeren, daß Der fie flatt feiner übernehmen möge. 
Und nun gibt uns der. Apoftel zulegt noch einen Grund, weß⸗ 
wegen wir fo handeln, weßwegen wir alle unfere Beforgniffe 
dem Herrn übergeben dürfen, einen Grund, ber. die Quelle 
aller wahren Ruhe und alled Troſtes if. „Denn Er,“ ſpricht 
er, „ber Here forge für euch.“ Sind wir nicht volllommen 
beruhiget über unfere eigenen, wie über bie Angelegenheiten un⸗ 
ferer Angehörigen, wenn wir biefelbe in den Händen eines 
recht vernünftigen, weifen, überaus guten, und babei vielver⸗ 
mögenden Mannes vwiffen. Aber Menfchenmacht vermag doch 
oft nichts über die Macht mancher Zufälle; Menfchenweisheit 
geht. doch oft irte, und auf Menfchengäte ift doch nicht immer 
zu frauen. Aber wenn der Here Selbſt für »" "nm 
unfere: eigenen und bie Angelegenheiten ber Un 


— 96 — 

wenn ſie in Seinen Haͤnden ſind, was haben wir dann noch 
zur ſorgen und uns Unruhe zu machen? iſt dann nicht jede be⸗ 
unruhigende Beforgniß in der That ein wahres Mißtrauen auf 
Seine Macht, oder Weiöheit, oder Güte? D! es iſt ein großes, 
koͤſtliches Wort, ein Wort, zu dem jeder Bebrängte fogleich und 
inmer feine Zuflucht nehmen follte; das Wort: „het Herr ſorgt 
fuͤr mich.“ — 
Und nun gerade ſo, wie der Apoſtel Petrus, und wie aus 
Einem Munde ſpricht mit ihm auch der Apoſtel Paulus. So 
ſchreibt er an bie Chriſten zu Philippi im 4. Kapitel: „Habet 
feine Beforgnig! fe und’ er gibt auch zugleich das Mittel an, 
wodurch fie alle Beforgniß von. fi) ablegen Finnen und follen. 
„Habet Feine Beſorgniß,“ fpricht er, fondern in allen Dingen- 
laſſet im Gebet und Flehen mit Dankfagung euere Bitten vor 
Sott und werden!” Was heißt daB andered; ald: Wenn ihre 
Beforgniß, wenn ihe Drud ober Kummer habet, klagt ed nur 
‚dem Heren, faget es Ihm nur im Gebete, und dann iſt's ges 
nug, dann feyd ruhig und unbeſorgt. Machet es fo, wie gute 
- Kinder es machen, wenn ihnen etwad auf dem Herzen liegt; 
fie fagen e8 nur ben Eltern, und dann find fie weiterhin un= 
befümmert. Diefen Erfolg, diefe fchnelle Beruhigung verfpricht 
auch der Apoſtel, indem er noch beifügt: „Und ber Friede Got⸗ 
tes, welcher über allen Begriff gebt, befchirme euere Herzen 
und Gedanken durch 3.6.” Phil. 4, 6 — 7. Wenn ihr’ nur 
immer ſo machet, will er fagen, wenn ihr nur jede Beſorgniß 


ſogleich dem Herrn Haget, und fie in kindlicher Vertraulichkeit 


nur Ihm übergebet; dann wirb der Friede Gottes, jener Friede, 
ber höher ift, als alle Beraunft, euere Herzen erfüllen. 


II. 

Das ifi num eine gar fehöne, troftreiche Lehre, bie uns 
beide Apoſtel in Uebereinflimmung mit der Lehre J. C. hinter- 
laſſen haben. Aber ſogleich möchten wir und doch mit. diefer 
Lehre nicht vollkommen beruhigen koͤnnen. Wie, möchte Man- 
cher denken, der Heiland und die Apoftel haben und doch wohl 
‚ nicht lehren wollen, daß wir und um unfere zeitlichen Angeles 











genheiten gar nicht befümmern, baß wir Alles nur darauf ans 
kommen laſſen und gemächlich in ben Tag hinein leben follen, 
daß wir gleichgültig und Faltfinnig gegen unfere Kinder und 
Angehörigen feyn, und uns um ihr Wohl gar nicht bekuͤmmern, 
und durch ihr Wehe nicht anfechten laſſen follen? — Nein, dad 
haben und ber Heiland und die Apegel nicht lehren koͤnmen 
und wollen; ſie, die uns in ſo vielen anderen Ausſpruͤchen die 
gewiſſenhafteſte Treue im Berufe, die unermuͤdeteſte, thaͤtigſte 
Liebe gegen unſeren Naͤchſten ſo dringend anempfohlen, und zur 
heiligſten, zur erſten aller Pflichten gemacht haben, die uns 
ſelbſt in ihrem ganzen Lebenswandel das herrlichſte Beiſpiel 
der gewiſſenhafteſten Treue in ihrem großen Berufe, des uner⸗ 
muͤdeteſten Eifers fuͤr das Wohl ihrer Naͤchſten und der thaͤ⸗ 
tigſten Liebe hinterlaſſen haben. Wer hat mehr gearbeitet, als 
Paulus, er, der ſich ſelbſt das Zeugniß geben konnte, er habe 
mehr, als die uͤbrigen Apoſtel gearbeitet? Wer hat mehr Sorge 
gehabt, als er, — er, der von ſich ſelbſt ſagte, die Sorge fuͤr 
alle Kirchen liege auf ihm, und nebſt dem habe er noch ſo viele 
andere Sorgen fuͤr die einzelnen Glieder? So koͤnnen und duͤr⸗ 
fen wir alſo ihre ſchoͤne Lehre nicht mißverſtehen, damit wir die 
Frucht derſelben nicht fuͤr uns vereiteln. — Wir ſollen thun, 
was und wie viel wir koͤnnen, und und Fein unerlaubtes Mits 
tel zur Selbſthuͤlfe geftatten, weil wir. dadurch Verzicht leiſten 
auf die Hülfe des allmächtigen. Gottes, Der helfen Tann und 
helfen will. Wir follen vielmehr, und das ift der wahre Sinn 
ihrer Lehre, thun, was an und ift, wad Pflicht und Beruf von 
uns fordert, und dann unbeforgt feyn über Alles, was nicht 
in unferen Kräften ift, über Alles, was und und den Unfetis 
gen begegnet ift oder noch begegnen. mag; denn die Begeben⸗ 
beiten haben wir doch nicht in unferer Gewalt; vorzüglich fols 
len wir nicht bejorgt feyn der Zufunft wegen; denn bie Bus 


. Eunft haben wir ja am wenigften in unferer Gewalt. 


Wenn aber die Lehre fo muß verftanden. werben, möchte 
vielleicht Mancher hier denken, dann finde ich nur wenig Troſt 
und Beruhigung mehr in derſelben. Denn, wer kann fi ch das 
immer ſagen, daß er genug gethan, daß er gethan habe, was 

ar Thl. 2te Aufl. T 


. 








— 8 — 


in feinen Kräften war? Muß man nicht vielmehr oft manchen 
Unfall, der und oder die Unferigen trifft, ober in der Zukunft 
noch treffen wird, feiner eigenen Schuld, feiner eigenen Unvor- 
ſichtigkeit, oder Nachläffigkeit, oder noch anderen Urfachen zu⸗ 

fhreiben, die noch viel böfer find? Aber auch für diefe bleibt 
jene Lehre nicht ohne „Broft und Beruhigung. Denn wenn 
wir unfere Schuld, fie Tey von welcher Art fie wolle, nur mit 
aufrichtiger Demuth und herzlicher Reue erkennen; fo ift der 
Herr fo unendlich gütig, daß Er alle übelen Folgen, die wir 
und oder Anderen dadurch mögen zugezogen haben, oder für 
die Zukunft noch zuziehen werden, an unferer Statt überneh- 
men wird, daß Er alle diefe Folgen nach Maßgabe der Um: 
flände entweder hindern, fie gänzlich aufheben und tilgen, oder 
fie wenigftens zum Beſten aller Derjenigen, die fig treffen mö= 
gen, lenken werde. Das ift die große Frucht unfers, aus wah- 
ver Demuth und herzlicher Neue hervorgehenden Gebets. Wenn 
alfo, wie der Apoftel Paulus lehrt, nur unfere Bitte mit herz- 
lihem Flehen vor dem Herrn fund wird; fo ift diefe große 
Hoffnung uns in den Schooß gelegt, fo brauchen wir wegen 
der übelen Zolgen, die wir und oder Anderen zugezogen haben, 
nicht beforgt und beunruhiget zu feyn. Alſo auch in Ruͤckſicht 
auf alle diefe übelen Folgen bleibt die nämliche Lehre in ihrer 
Kraft und Würde, und ed bleibt dabei: Alle euere Beforgniß, 
alfo auch diefe, werfet auf den Herrn; bittet Ihn, daß Er fie 
übernehmen wolle, und Er wird für euch forgen, Er wird wie: .' 
der gut machen, was ihr verdorben habet. — Und nun ef 
bat diefe Lehre wahre Beruhigung und vollen Zroft fir uns 
Alle; fonft aber in der That gar keinen; denn wer Tann fich 
wohl von aller Schuld frei fprehen? Muͤßten wir von aller 
Schuld frei ſeyn, um alle unfere Beforgniß dem Herrn über- 
geben, um auf Ihn fo vollfommen vertrauen zu dürfen; fo ' 
hätte wohl einer von und dazu das Recht. 

Darum laffet und denn, m. T.! in der Zukunft nicht mehr 
fo aͤngſtlich thun, ald wenn Alles für und verloren fey. Darum 
müffen wir uns von der heidnifchen, ungläubigen Welt trennen. 
Wir müffen als wahre Jünger 3. C. durch, unfer Vertrauen 


v 





dem himmliſchen Water Ehre machen. Und dieſes unfer, Ders 
trauen mag fo groß feyn, ald ed will, ed wirb doch immer 
Heiner ſeyn, ald Gottes Liebe und Allmacht if. Noch einmal 
alfoz — weg mit allen drüdenden Beforgniffen für bie Zus 
kunft! Der Bater im Himmel, Der uns bisher fo väterlich ers 
halten, und durch fo manche Noth durchgeholfen hat, wird uns 
such jeßt und nimmer verlaffen, wenn wir nur Ihn nicht ver 
offen... Das fey daher unfere größte, unfere Hauptforge: — 
Ihn nicht zu verlaffen, und immer fefler an Ihn zu halten, 
je mehr das Zeitliche uns zu verlaflen drohet. Er forgt für 
und, und eben daburch beweifet Er Seine vaͤterliche, liebevolle 
Fuͤrſorge fuͤr uns, daß Er oft ſo mancherlei zeitliche Beſorg⸗ 
niſſe um uns her aufregen laͤßt, damit wir dem Reiche Gottes 
und Seiner Gerechtigkeit deſto mehr nachtrachten ſollten. Rich⸗ 
tet alſo euere Hauptſorge auf euere wahre Gluͤckſeligkeit, auf 
die Angelegenheit eueres Seelenheils, auf die Bekaͤmpfung und 
Unterdruͤckung euerer unordentlichen Neigungen und Leidenſchaf⸗ 
ten! Richtet euere Hauptſorge darauf, euer Gewiſſen rein zu be⸗ 
wahren, und Gott von ganzem Herzen zu lieben, und euere 
Liebe durch vollkommnen Gehorſam gegen alle Seine Gebote, 
und doch bereitwillige Unterwerfung unter alle Seine Anord⸗ 
nungen, Fügungen und Verhängniffe zu beweifen! Und dann 


ſeyd verfichert, daß Gott, ald euer Vater, für euere zeitliche 


Wohlfahrt: forgen wird. Denn Gott will auch euere zeitliche 
Wohlfahrt, aber nur in fo fern, als diefelbe mit euerer ewigen 
beftehen kann. Deßwegen follet auch ihr. für euere zeitliche 
Vohlfahrt forgenz aber fo, daß ihr bie ewige nicht aus den 
Augen verliert; follet zufrieden feyn, wenn euere zeitliche Wohl⸗ 
fahrt mit oder ohne euere Schuld gefchmälert wird; follet Manz 
gel und Entbehrung, Noth und Unglüd durch Grgebenbeit in 
Gottes Willen zu euerem Beften anwenden, und follet jede Be: 
förderung euerer zeitlichen Wohlfahrt durch vernünftigen Ge⸗ 
brauch und durch milden, liebreihen Sinn gegen eueren Nächs 
fen zu euerem wahren Beften heiligen. Bu den Armen und 
Dürftigen fpricht der Hat: „Bewahret euere Hände und Her⸗ 
zen rein, geſtattet euch nie und. nimmer ben Ge’ 
7* 





— 10 — 


unerfaubten Mittels; ſeyd arbeitfam und mäßig, thut Recht 
“und ‚halter Gott vor Augen, und dann habet das feſte Ver- 
trauen, daß Gott für euer zeitliched Ausfommen forgen werde! 
Zu den Wohlhabenden fpriht 3. C.: „Gebet Almiofen, fammelt 
euch Güter, die nicht veralten, einen Schatz, ber nimmer ab⸗ 
nimmt im Himmel!“ Luk. 12, 33. 

Heil und, daß wir unter dem Schutze und ber Leitung 
eined fo unendlich gütigen und liebreichen Vaters ftehen! Laffer 
uns mit froher Zuverficht einflimmen in Davids Lobgefang: 
„Ber unter dem Schirme bed Höchften fißt, und unter dem 
Schatten des Almächtigen wohnt, der fpricht zu dem Herrn: 
‚Meine Zuverficht und meine Burg, mein Gott, auf Den ich 
hoffe! 3a, Er ewrettet dich vom Fallſtrick und von der moͤrde— 
riſchen Peſt; in der größten Lebenögefahr wird Gott dich be- 
ſchuͤtzen. Wie eine Henne ihre Küchlein- unter ihren Flügeln 
befhügt, fo bebedet Er dich wie unter Seinen Fittigen; fo fins 
deft du unter Seinen Slügeln Schuß; ein Schild und Schirm 
ift Seine Treue.” Unter Seinem Schutze biſt du ſicher bei 
Nacht und bei Tage vor öffentlichen und vor verborgenen Fein⸗ 
den. „Erzittere nicht vorm Screden in der Nacht, nicht vor 
dem ‚Pfeile, der am Tage fliegt!”. Erzittere vor Feiner Todes- 
gefahr, „nicht, wenn die Seuch' im Finftern ſchleicht; nicht, 
wenn die Pet am Mittag wuͤthet!“ Wenn ber Herr deine 
Erhaltung befchloffen hat, fo wird bad Verderben dich nicht 
erreichen. „Laß Zaufende dir zur Seite fallen, und Zehntau- 
fende dir zur Rechten; an dich gelangt ed nicht.” Du wirft 
. Zeuge feyn der Strafgerichte, womit Gott die Boͤſen züchtiget. 
„Mit deinen Augen wirft-du fehen, die Rache wirft du ſchauen, 
die Böfewichter trifft. Sa, Du, o Gott! bift meine Zuflucht; 
den Höchften haft du dir zum Schuß erwählt. Kein Unfalt 
wird Dich erreichen, und Feine Noth wird fich deiner Hüfte na- 
ben,” wird. deinem wahren Heile nicht Ichadlich feyn. Denn 
Seinen Engeln gibt Er für dich Befehl, daß fie auf allen bei- 
nen Wegen dich bewahren; fie werden in allen Gefahren bir 
nahe feyn; „werben dich auf ihren Händen tragen, damit dein 
Fuß an feinem Stein fih verlege,” Wenn du gehft auf dem * 





— 101 — 


Wege des Herrn, auf dem Wege deiner Pflicht, fo gehſt du 
ſicher. „Du ſchreiteſt über Löwen und Schlangen, zertrittf® den 
Drachen mit der Löwenbrut.” Siehe, Gott Tpricht zu bir: 
„Beil er Mich liebt, will Ich ihn erretten, erhöhen will Ich 
ihn; denn er kennt Meinen Namen; ruft er Mich an, erhöre 
Ich ihn, bin bei ihm in der Noth, befreie und bringe ihn zu 
Ehren; langes Leben gebe Ich ihm, und. zeige ihm Mein Heil," - 
gebe ihm das ewige Leben. Amen. 





Achte Rede. 


Am ſechszehnten Sonntage nach dem Feſte der 
h. Dreifaltigkeit. 


Tert: 
Die Auferweckung' des Sünglings zu Naim. uf, 7, 
1 — 10. 
Thema: 


Troſt im ſchwerſten Leiden 


Eine ſchauerliche, zugleich aber ungemein ruͤhrende, unſeren 

Geiſt zur hoͤchſten Hoffnung erhebende Begebenheit iſt es, die 
uns in dem heutigen Evangelium exzaͤhlt wird. J. C., der 
allmaͤchtige Todtenerwecker, das iſt der Inhalt des heutigen 
Evangeliums. Laſſet uns den Heiland im Geiſte begleiten, und 
mit dem Auge unſers Glaubens das große Werk betrachten, 
welches Er auch um unſertwillen, auch um unſern Glauben 
zu befeſtigen und unſere Hoffnung zu beleben, in dem Laufe 
der Zeit verrichtet hat! Nicht lange vorher, ehe der Herr dieſes 
große Wunder wirkte, hatte Er in Jeruſalem zu den Juden 
geſprochen: „Gleichwie der Vater die Todten erweckt und le⸗ 
bendig macht, ſo macht auch der Sohn lebendig, welche Er 





— 102 — 
wille... Wahrlich, wahrlich! Ich ſage euch, ed kommt bie 
Stume, und iſt jetzt da; die Todten werden bie Stimme Got⸗ 


tes hören, und welche fie hören, die werden leben. Joh. 5, 
21 — 25. Diefe Stunde war jegt wirklich gekommen. 


I. J 

Bon einer großen Volksmenge begleitet, kam unfer Heiland 
mit Seinen Jüngern auf Seiner Wanderung durch Galilda zu 
der Stadt Naim. „Und ed gefhah darnach,“ fo erzählt der 
Evangelift Lufad, „Er ging in eine Stadt, mit Namen Naim, 
‚und Seine Jünger gingen mit Ihm, und viel Volk.” Biel 
‚Bolt, nicht umfonft ift diefed beigefügt, nicht umfonft hat der 
h. Seift Fürforge getroffen, daß diefer Umftand ausdruͤcklich von 
dem Evangeliften follte bemerkt werden. Es follte dadurch an⸗ 
‚gedeutet werden, daß dieſes Wunder ganz im Deffentlichen, . vor 
einer großen Menge Zufchauer ald Augenzeugen geſchehen fey. 
Bis dahin hatte Er, fo viel wir miflen, noch feinen Zodten 
öffentlich in’8 Leben wieder zurüdgerufen. Die Tochter des 
Jairus hatte Er nur im Beifeyn der Eltern und drei Seiner 
Sünger, in der Stille und im Verborgenen, wieder auferwedt. 
Diefes Wunder zu Naim aber geſchah mit aller nur: möglichen 
Deffentlichkeit. Denn wie der Heiland mit dem großen Haus 
fen, der Shn umgab, an dad Stadtthor kam, fiehe, da kommt 
‚ ihnen ein Leichenzug entgegen. Das Stadtthor, im Morgen: 
lande der Pla zu den Öffentlichen Zufammenfünften, war ger 
wöhnlich mit vielen Menſchen angefuͤllt, war alfo ein durchaus 
öffentlicher Plag. Groß war der Volkshaufe, ber 3. C. be- 
gleitetez groß war auch jener Volkshaufe, der Ihm nun, bie 
Leiche begleitend, entgegen Fam. Ein großer heil ber ganzen 
Stadt follte ebenfalls Augenzeuge dieſes Wunders feyn. Hier 
ift alfo die größte Deffentlichfeit, die nur immer fich denken 
läßt, damit jedem Zweifel und jeder nur möglichen Einwen⸗ 
dung vorgebeugt würde. Denn wenn es im Evangelium heißt: 
„Biel Volks begleitete Ihn,“ fo müffen wir, wie es aus meh⸗ 
reren Beilpielen erhellet, eine fehr große Menge, oft einige Raus 
fende und denfen. Und diefes Wunder gefchah nicht, wie bei 











— 103 — 

der Auferwecdung ber Tochter des Jairus, nur eine ganz kurze 
Zeit nach dem Tode des Berflorbenen; man brachte den Ver: 
ſtorbenen ſchon zum Grabe; ja man war, da man mit. der 
Leiche bis an’ Stabtthor fhon angefommen war, dem Begraͤb⸗ 
nißplatz ſchon ganz nahe. So follte denn über den wirklichen 
Tod dieſes Geſtorbenen gar Fein Zweifel vernünftiger MWeife- 
mehr entftehen koͤnnen. Doch wir find als Chriften überzeugt, 
daß unfer Herr I. E. das Anfehen eines Todtenerweckers ge⸗ 
wiß Sich nicht würbe gegeben haben, wenn. nicht Derjenige, 
den Er auf. ſolche Art in's Leben wieder zuruͤckrief, wirklich 
todt geweſen wäre. Wir ſehen es als Laͤſterung an, anders 
von Ihm zu denken. | 

Verfeben wir und nun im Seife an dad Stadtthor zu 
Naim! denken wir, wir feyen in einem der leuten Häufer am 
Zhor Augenzeuge ber großen.Begebenyeit, die num fich ereignen 
fol! Da kommt der Heiland 3. €. mit Seinen Süngern und 
einem großen Haufen Volks von außen ber, und will eben in I 
das Thor treten! Da kommt von der anderen Seite aus der 
Stadt her der anſehnliche Leichenzug; es mag faſt die ganze 
Buͤrgerſchaft ſeyn, welche die Leiche begleitet. Man fragt, man 
erkundiget ſich, woher die fo allgemeine Theilnahme; man er⸗ 
fuͤhrt, es iſt einer der traurigſten Vorfälle, die im menſchlichen 
Leben ſich nur ereignen koͤnnen. Es iſt ein Juͤngling in der 
Bluͤthe ſeines Alters, den man zu Grabe tragt! ſchon genug, 
um die herzlichfte Theilnahme zu erregen: wie viele Hoffnun— 
gen feiner Eltern und Angehörigen werden mit ihm zu Grabe 
getragen! Aber noch mehr: diefer-Züngling hat weder Bruder 
noch Schwefter; .er ift ein einziger Sohn! o welch ein harter, 
ſchrecklicher Schlag für die armen Eitern! ihre lebte, ihre eins 
jige Hoffnung iſt alfo dahin! dahin ihre Hoffnung, in liebens- 
würdigen Enkeln ihr Gefchlecht erhalten und fich gleichfam wie: 
ber aufblühen zu fehen!-umfonft nun alle Sorgen und Anfiren- 
gungen ihred ganzen Lebens: für Fremde, die es ihnen kaum 
Dank wiſſen werden, haben fie fo viele Sorge und Mühe fib 
gegeben; welch ein leeres, freudenlofes Alter ſteht ihnen jetzt 
bevor! noch größer, noch inniger wird die Theilnahme. Aber 


— 14 — 
jet erreicht fie den hoͤchſten Grab, als man erfährt, auch der 
Bater iſt nicht mehr, aber die tiefgebeugte‘ Mutter ift noch am 
Leben. Wahrlich, ein Vorfall, in dem Alles fich vereiniget, um 
den Schmerz der Wittwe. auf den hoͤchſten Grab zu: treiben. 
Alles hatte fie vorher fchon verloren, was ihr das Leben werth 

- machen Tonnte, bis auf ihren Sohn, den einzigen. An biefen 
hing ſich nun die ganze Liebe ihres mütterlichen Herzens, auf 
ihn fette fie ihre ganze Hoffnung; er war ihr einziger Troſt, 

»  sbreleinzige Freude. Mit ihm ift nun Alles, Alles dahin. 

So nimmt. Gott dem Menfchen gar oft den einzigen Troſt; 
aber gewiß nie ohne weile Abficht, gewiß immer zum Heile des 
bedrängten Menfchen. Der Herr nimmt dem Menſchen oft den 
einzigen Troft, damit Er des Menfchen einziger Troſt feyn 
möge. Fleiſch und Blut wil immer einen fichtbaren, leiblichen 
Troſt haben; aber Gott will, daß wir in Ihm Troſt und Ruhe 
haben follen. Der h. Bernard fagt fhön und. wahrs „Gottes 
STroſt iſt fo zart, daß er dort durchaus nicht bleibt, wo ber 
Melt Troft iſt.“ 

Ale jene Umftände, bie in dem Kreife ber Jünger und 
beg Volkshaufens bald ausgekundfchaftet waren, und mit Theil⸗ 
nahme beiprochen wurden, waren unferem Heilande fchon bes 
kannt; Er brauchte diefelbe nicht durch Menfchen zu erfahren; 
Er Fannte fo, wie Seiner, den berggerreißenben Schmerz ber 
Mutter. 

Unterdeffen hatte Sich J. C. mit Seinen Juͤngern zur 
Seite geſtellt, um den Leichenzug vorbeigehen zu laſſen: lang⸗ 
ſam und feierlich naͤhert ſich der Zug; die große Stille, unge⸗ 

achtet der großen Volksmenge, beweiſet die allgemeine Theil⸗ 
nahme; immer ruͤhrender wird bei jedem Schritt der Anblick; 
da kommen nun die Traͤger mit der Bahre (nicht in einem 
verfchloffenen Sorge, ſondern auf offener Bahre wurde bei den 

Juden der Leichnam getragen, ganz mit’ Tüchern von Leinwand 
umwidelt, und aud bad Haupt und Geficht mit einem Tuche 
verhuͤllt). Und neben diefer Bahre geht in ihrem flummen 
Schmerz daher fhwantend die Mutter. Der Heiland fah fie, 
und wurde, wie ber Evangelift fagt, „von Mitleiden bewegt. 


A — I — — I NT MW EEE Ve A ⏑ 1—— —— —7—57—7 7— ee 2” 
* 


— u0 — 


Er ſah zwar Alle; aber bie traurende Mutter ſah Er an; denn 
fie. war die Betrübtefte von Allen. So fpriht Gott durch Je⸗ 


remiad: „Ich fehe an den Elenden, und ber betrübten Herzens 


ift, und vor Meinem Worte fich fürchtet, damit Ich den Geiſt 
des Leidenden erquide.” 

Diefed Anfehen bed Herrn. ift ein fehr großer Troſt. Es 
it ſehr tröftlich, daß Gottes Augen nach den Eienben im Lande 
fehben, nach den traurigen Wittwen und nach den verlaffenen 

Waiſen, nad) Allen, die betrübten Herzens find, und glauben. 
Darum verzage nicht, o Chrift! glaube nur und vertraue! Er 
fieht nicht bloß an, Er hat auch herzliches Mitleiven. Darum 
ift 3. C. Menfch geworden, damit Er unferen Jammer Selbft 
erführe, und Mitleiden haben könnte mit unferen Schwächen. 
Darum fprach Er zur Wittwe: „Weine nicht” Mit welchen 
Tone, mit welchem Blid Er dieſes Wort wird gelprochen ha⸗ 
ben! wie mächtig dieſes auf folche Art gefprockene Wort er⸗ 
quickenden Troſt in das zerriffene Herz ber fo tief gebeugten 
Mutter wirb gegoffen haben! Ach! wir Menfchen vermögen nur 
mit Worten zu tröften; und doch, wie viel iſt diefer Troſt dem 
Leidenden oft werth, wenn er aus einem liebenden Herzen kommt, 
und wenn er den Leidenden zu ber einzigen Quelle alled Tro⸗ 
ſtes, zum Vater der Barmberzigkeit, zu dem Gott alles Tro⸗ 
ſtes zu erheben vermag! Nur der Glaube, nur die Religion 
allein vermag wahrhaft auch in den fehwerften Leiden zu troͤ⸗ 
ſten; und ihre Wahrheiten bringen am tieffien in das Herz bes 
Leidenden, wenn fie ibm mit berzlicher Liebe gegeben werben. 
Als unfer Heiland zu der Mutter ſprach: „Weine nicht!“ 
wollte Er ihr Weinen keineswegs mißbilligen; Der dad menfch- - 
liche "Herz gebildet, hat, wußte, daß bie Gabe der Thraͤnen, 
welche den heftigften Schmerz auflöfen, für den Leidenden eine 
wahre Wohlthat iſt. Als Er zu der Frau fprach: „Weine 
nicht!” wollte Er vielmehr ihre Herz zur Hoffnung wieder er- 
heben, wollte ihr fagen: „Höre auf zu weinen, beine Brauer | 
fol jest in die größte Freude verwandelt werden.” Und alſo⸗ 
bald, ald 3. ©. dad Wort: „Weine nicht,” gefprochen hatte, 
tritt Er hin zu der Bahre, und berührt diefelbe mit Seiner 


t 
106 


Hand; ein Beihen, daß man flille fiehen fol. Und aus Ehr⸗ 
furcht gegen Seine Perfon fichen die Träger ſtill. Laut und 
vernemlich bört man jebt aus Seinem Munde das Wort er⸗ 
fchallen: „Züngling! Ich fage dir: ſtehe aufl” Und kaum iſt 
diefed Wort der Allmacht gefprochen, da flieht man es auf. ber 
Bahre fich regen, ba fieht man den, der tobt war, aus ben 
Tuͤchern ſich herauswideln, fieht ibn das uch, welches fein‘ 
Angeficht verhüllete, von der Seite werfen; und. der tobt war, 
geht aufrecht figen, blidt — nun wieder, ein Lebendiger, — 
froh umher, und fängt an zu reden. Sehet da, wie mit Augen 
die geheimnißvolle Wahrheit: „Unſer Leben. iſt in Chriftus.“ 
Natuͤrlich, daß die erfchrodenen Träger bie Wahre jegt nieber- 
fegen, und der todt war, geht aufrecht fiehen, kommt herunter 
von der Bahre, und fein Erweder faflet ihn bei der Hand, und 
gibt ihm der Mutter wieder. Wahrhaftig, der Unglaube macht 
ſich feibft zu Schanden, wenn er bier in feinem vermeffenen 
Dinkel zu ſprechen fich erdreiftet! „Man weiß, wie fchnell bie 
Juden ihre Leichen begruben; man ift alfo gar nicht‘ gewiß, ob 
- der Süngling wirklih, oder nur bem Scheine nach todt war.” 
Wiſſen wir denn nicht, wie langfam ein Scheintobter, ber we- 
nigftend über einen Tag ald tobt lag, in’& Beben wieder er- 
wacht, wie lange es dauert, ehe er zum völligen Bewußtſeyn 
wieder kommt, und noch viel länger, ehe er wieder reden und 
gehen kann? Hier ift der Süngling bloß auf dad Wort bes 
Herrn in Einem .Augenblid vollfommen wieder hergeſtellt. Und 
wie? hätte denn der Herr, wenn der SJüngling bloß auf bem 
Wege der Natur wieder hergeſtellt war, mit Seinem Worte 
nicht ein loſes Spielwerk getrieben, um das leichtgläubige Volt 
zu täufchen? Hinweg mit folhen vermefienen Angriffen, die der 
Widerlegung nicht werth find! 


II. 


Ber vermag fi von bem Freudenſchrecken der Mutter, 
als fie ihren Sohn wieder hatte, auch nur eine dunfele Vor⸗ 
fielung zu machen? Worte vermögen es nicht, ihn zu befchrei- 
ben! Eltern, Väter, Mütter, die Kinder, bie ſchon erwachfene 


® 











Kinder verloren haben, werben «8 am meiſten vermögen, ihn 
einigermaßen mitzuempfinben. Und welche unerfchöpiliche Quelle 
des Troſtes und ber froheften Hoffnung ift auch für fie, und 
für und Alle eröffnet in den Worten: „Und Er gab ihn ber 
Mutter, wieder!” Freilich dürfet ihr nicht erwarten, Denjenigen, 
den ihr durch ben Tod verloren habet, in diefem Leben wieber 
zu erhalten; aber bedenkt auch wohl, daß Mutter und Sohn, 
die der Here wieder vereinigte, doch. noch einmal. mußten ge⸗ 
trennt werden, baß dieſe gegenwärtige Vereinigung nicht für 
immer war, und achtet daher. auf Sein Wort: „Es Tommt die 
Stunde, in welcher Alle, die in den Gräbern find, die Stimme 
ded Sohnes Gotted hören werden!’ Diele Wort lindere eue⸗ 
ven Schmerz, gebeugter Water, leidende Mutter! die ihr noch 
trauert um einen geliebten Todten, der euch zu einem befleren 
Leben ſchon vorangegangen ift! Diefes Leben, nur eine Spanne 
lang, geht bald zu Ende; und, früher als ihr es meint, wird 
auch euere Stunde fehlagen, und dann wird auch Er, der näme 
liche 3. C., Der diefen Süngling von Naim mit Einem Worte 
in's Leben wieder zuruͤckrief, auch euch zu einem befferen, un⸗ 
ferblichen Leben rufen, und dann werdet ihr an Seiner Seite 
erbliden — Eltern! euere Kinderz Kinder! euere Eltern; Män- 
ner! euere Frauen; Brüder, Schweſtern! euere Brüder, Schwe- 
fern; Freunde! euere Sreunde, die ihr bier.nur auf eine Beit- 
lang verloren hattet, deren Werluft ihr nicht glaubtet ertragen 
zu können; gebeugter Vater! leidende Mutter! dann wird Er, 
dann- wird Jeſus Chriſtus euere Kinder euch wiedergeben, und 
nie, nie werdet ihr. dann mehr von ihnen getrennt werben, An 
jenem Tage werben fie erkennen, daß fie ihre Kinder nicht ver- 
loren hatten, fondern daß der Herr fie ald ein Löftliches Kleinod 
aufbewahrt hatte in dem himmlifchen Neiche. Denket an Ja⸗ 
kob und Joſeph! Jakob verlor feinen Sohn Joſeph ald Hirten- 
Fnaben, und Gott gab ihm denfelben ald Herrn von Egypten 
wieder zuruͤck, ſchoͤn geſchmuͤckt und reich an Gütern aller‘ Art. 
Seht da. ein Bild von dem frohen Wiederfehen im ewigen Les. 
ben. Für ein todtes Kind erhalten Eltern einen lebendigen 
Sollendeten, für einen todten Freund im fisrblichen Leibe erhals 


— 18 — 


ten wir einen lebendigen Freund im verfiärten Leibe. Wahr: 
haftig, dieſe große, unvergängliche Hoffnung und Freude iſt des 
gegenwärtigen, vergänglichen Leidens wohl werth. Se größer 
euere ‚Liebe war, defto größer ift auch euer Schmerz, deſto grö- 
fer aber wird auch dereinft -euere Freude und Wonne fen. 
Die Liebe gibt die größten Leiden, aber fie gibt auch die groͤß⸗ 
ten Freuden; und ohne jeme Leiden vermag fie jene Freuden 
richt zu geben: Alles, was gut, was unvergänglich iſt, findet 
fein Gedeihen nur unter dem Kreuze, in dem allein unfer Heil 
ift; vergänglich find die Leiden der Liebe, unvergänglich aber 
und ewig ihre Freuden. Unfer Helland, Der das menfchliche 
Herz gebildet hat, kannte die Leiden, die Schmerzen ber Liebe, 
und verglich Diefelbe, als Er von Seinen Süngern Abfchieb 
nahm, mit den größten Zörperfichen Schmerzen, bie es gibt, 
mit den Schmerzen einer gebärenden Frau. Er wußte, daß bie 
Liebe allein Kraft gibt, diefen Schmerz zu erfragen, und mit 
bereitwilligee Ergebenheit in Gottes Willen auch das größte 
Opfer zu bringen, auch dad Liebfte zu opfern. Ad! m. W.! 
das Opfer Iſaks ift für gar viele Menfchen ein Vorbild, Und 
wohrhaftig! Jene, die der Here auffordert, ihren Iſak, ihr Lieb- 
ſtes Ihm bereitwillig hinzugeben, Sene ehrt Er auf eine ganz 
beſondere Art, indem Er fie eined folhen Opfers wuͤrdiget, das 
Größte von ihnen erwartet, aber auch nur darauf wartet, daß 
fie in dieſer Forderung Seine Liebe erfennen, und — wenn 
auch mit zerriffenem, doc) ergebenem Herzen, dieſes Opfer brin- 
gen, um ihnen das Größte wieder zu geben, um Liebe, mit Liebe 
zu vergelten, um, menfchliche Liebe mit dem Himmel göttlicher 
Liebe zu vergelten. J. ©. hat es gethan, hat.fie eined ſolchen 
Opfers gewürbiget. Auch zu ihnen fpricht Er, was Er zu Sei- 
nen Züngern fprach: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, als 
Mich, der ift Meiner nicht wert). Und wer Sohn oder Toch⸗ 
ter mehr liebt, als Mich, der ift Meiner nicht werth.“ Mohlan! 
fo laffet und vingen, durch bereitwillige Unterwerfung darnach 
ringen, Seiner werth zu ſeyn! Auch zu ihnen fpricht Er, was 
Er beim Testen Abfchied zu Seinen Züngern ſprach: „Wenn 
ihr Mich liebtet, fo würdet ihr euch freuen, daß Ich von euch 





— 18 — 
gehe; denn Ich gehe zum Vater.“ Und ihr duͤrfet die große 
Hoffnung hegen, daß Jene, die ihr mit vollem Herzen liebtet, 
aufgenommen ſind zum Vater, und zu unſerem Herrn J. C., 
aufgenommen ſind in den Ort ewiger Ruhe, ewiger Freude, 
ewiger unausſprechlicher Seligkeit; daß fie für die ganze Ewig⸗ 
keit in Sicherheit find; und was ihr ihnen mit al’ euerer Liebe 
hättet geben koͤnnen, was iſt es gegen Das, was ber Herr 3. 
C. Selbſt ihnen jest fchon gibt, die ganze Ewigkeit hindurch 
ihnen geben wird? Wohlan! den Vorwurf wollet ihr eueren 
Herzen nicht machen laffen, daß ihr fie nicht genug, nicht wahr= - 
haftig liebtet. Wenn ihr fie aber wahrhaft liebet, fo muͤſſet 
ihr auf euch anwenden das Wort J. C.; ſo muͤſſet ihr euch 
erfreuen, daß fie von euch find, daß fie hinweg find aus diefem 
Lande der Sünde, der Noth und ded Elends, fo muͤſſet ihr 
euch erfreuen, daß fie dort find, wo Feine Noth, Fein Leiden 
mehr ift, und — was die Hauptfache ift, wo feine Sünde mehr 
ift, wo fie nicht mehr fündigen koͤnnen; daß fie heim Vater, 
daß fie bei.-unferem Herm 3. C. find, daß an’ ihnen ſchon er⸗ 
fuͤllet iſt das Wort der Verheißung: „Wo Ich bin, da werdet 
auch ihr ſeyn.“ Bei Ihm find fie, bei Ihm werdet ihr fie 
wieder finden. „Und Er gab ihn der Mutter wieber. u Wort 
vol Troſt und Hoffnung! Wie Er den Süngling, der tobt war, 
lebendig der Mutter wieder gab, fo wird Er auch euere Tod⸗ 
ten, die in dem Herrn geftorben find, lebendig euch wieberges 
ben. Iſt e8 nicht zu und Allen gefprochen dad Wort der Ber: 
heißung: „Ueber ein Kleines werdet ihre Mich ‚nicht fehen, und 
übermal üıber ein Kleines werdet ihe Mich fehen.” Seyd da= 
ber getroft! nur eine Pleine Weile, und dann ein Wieberfehen 
ohne Trennung. Wahrhaftig! um eine Ewigkeit in feliger Ver⸗ 
einigung und Liebe iſt ed eine Trennung von einigen Tagen 
oder Jahren wohl wert, Wir wollen uns daher vor dem 
Heren niederbeugen; und im feften, lebendigen. Glauben auöru- 
fen: Water! Deine Fuͤgungen find unerforſchlich, find oft fhwer, . 
wie wir es durch unfere Sünden verfchulden; Deine Fuͤgun⸗ 
gen find Weisheit und Liebe, Du haſt alles wohl gemacht! 


— 10 — 


ich untertoerfe mich Deinem Urteile ſtaͤrke mich, daß Ich es 
nah Deinem Willen ertragen möge! 

Welcher Troſt für und Menfchen in biefem Erdenleben, 
daß wir dieſe ſo erhebende Wahrheiten ſo feſt und lebendig 
glauben koͤnnen! Denn das Schickſal des Todes, dem wir Men⸗ 
ſchen unterworfen find, iſt ſehr hart; ſterben muͤſſen, iſt ſehr 
hart; durch den Tod die feſteſten und zarteſten Bande der Liebe 
auf einmal zerreißen ſehen, iſt ſehr hart. Was waͤren wir, 
wenn wir jene Wahrheiten nicht glauben koͤnntenz wenn uns 
von dem Zuſtande in jener Welt nichts bekannt wäre, wenn 
wir nicht einmal die Gewißheit hätten, daß mit dieſem Leben 
nicht Alles ein Ende hat? Ach! dann waͤren wir ohne Hoff⸗ 
nung, wie Die Heiden waren, die Feine Hoffnung haften. 

Eine große, eine, unfhätbare Wohlthat iſt ed ſchon für 
und, daß der Herr 3. C. dieſe troftvollen Wahrheiten mit jo 
ganz beflimmten, ausdruͤcklichen Worten und geoffenbaret hat. 
Aber Worte geben und doch. die Sache felbft nicht, und Worte, 
die auf etwas Zukünftige, wovon wir gar Feine Erfahrung 
haben, ſich beziehen, laſſen die Sache‘ noch, immer fehr im Dun⸗ 
Fein. Welch’ eine Beruhigung alfo für und, daß I. C. nicht 
durch Worte allein, fondern auch durch Werke und Thaten von 
unferer Unfterblichkeit und künftigen Auferftehung und bat ver= 
fichern. wollen. Von diefer Seite betrachtet, erhält die wunder- 
bare Begebenheit zu Naim auch für und noch eine ganz befon- 
dere Bedeutung. Wie würde und zu Muthe geweſen feyn, 
wenn wit Augenzeugen gewefen wären? Gewiß wohl eben fo, 
ald der Evangelift von ben wirklichen Augenzeugen erzählt. 
„Ehrfurcht ergriff fie Alle!” fagt der Evangelift. " Wahrhaftig! 
man muß von heiliger Ehrfurcht. ergriffen und in feinem In⸗ 
nerften ganz erfchüttert werden, wenn man auf das bloße Wort 
eined Mannes einen auf der Bahre liegenden Todten zum Le- 
ben wieder erwachen fieht, ihn reden hört, ihn, von den Lei⸗ 
chentüchern noch ummwidelt, noch eine Todesgeſtalt, und doc) 
lebendig und gefund, an ber Hand feiner Mutter daher wan- 
delen fieht. Man kann ed kaum glauben, muß es jedoch glan- 
ben; man kann das Beugniß feiner Sinne nicht verleugnen. 


— 111. _ 


Bürden nicht auch wir eingeflimmt haben in den Ausruf des 
Volks: „Ein großer Prophet ift unter und aufgeflanden, und 
Gott hat Sein Volk (gnädig) heimgeſucht.“ Würden nicht 
auch wir gefprochen haben: „Das ift nicht Menfchen Werf, das 
it Gottes Werk; Der mit Einem Worte einen Todten wieder 
etwecken kann, Der tft von Gott, oder iſt Gott Selbſt.“ Was 
aber das Volt zu Naim von dieſem Manne nocy nicht wußte, 
dad wiffen wir durch Ihn Selbft und durch Seine Apoftel, be⸗ 
lhrt von Ihm. Wir haben Sein Wort: „Wer an Mich 
glaubt, hat das ewige Leben, und Ich werde ihn am jüngften 
Tage wieder auferweden.” Joh. 6, 40. „Einmal. tommt die‘ 
Stunde, da Alle, die in den Gräbern find, die Stimme bed 
Sohnes Gottes hören werben, und hervorgehen werben fie aus 
ihren Gräbern, die Gutes gethan haben, zur Auferftehung des 
Lebens; die aber Boͤſes gethan haben, zur Auferftehung des 
Gerichts.“ Joh. 5, 28. 29. Wie viel lebendiger ift nun unfer 
Glaube, da der Herr Sein Wort zuvor fhon durch die That 
befräftiget hat! Wollen wir aber dereinft von Ihm auferwedt 
werden zum ewigen Leben; fo müflen wir in diefem Leben uns 
von Ihm auferweden laffen vom Tode der Sünde. Er be: 
rührt unfer Herz mit Seinem Worte, mit Seiner Gnade, und 
ſpricht zu uns: „Stehe auf, der du fchläfft, und 3. C. wird 
dich erleuchten.” 

Ihm wollen. wir glauben, und uns bereit halten, damit 
wir Seine Ankunft nicht nur mit Ruhe, fondern mit froher 
Hoffnung erwarten koͤnnen. So wie Er den Jüngling zu Naim 
in’d Leben wieder erwedt hat; fo wird Er auch und in's Le⸗ 
ben wieder erweden; Er wird und einander wieder geben, und 
und auf ewig mit Sich vereinigen, Amen. 





— 12 — 


Reunte eve 


Erite Rede am fiebenzehnten Sonntage nach dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit, 





E Lert: 
Das Evangelium des h. Lukas. 14, 1—11. 


shema: 
Befondere Anwendung auf Kranfenbefug, 


| An einem Sabbat war unſer Herr J. C. von einem Pfari- 
fäer, der einer von ben Bornehmern, nämlich ein Mitglied des 
hohen Rathes war, zur Tafel geladen. Es laßt fich ſchon vors 
aus vermuthen, daß der Pharifaer mit diefer- Einladung e 
nicht gut meinte, daß er damit unferem Herrn keineswegs eis 
nen Beweis beſonderer Achtung geben wollte; und ſo verhielt 
es ſich auch in der That. Er und die uͤbrigen geladenen Gaͤſte 
hatten ſich verabredet, Ihn ſcharf zu beobachten, Ihm aufzu⸗ 
lauern, ob Er nicht gegen das, Geſetz etwas reden oder thun 
wuͤrde, weßwegen ſie Ihn verklagen koͤnnten. Alſo unter dem 
Scheine einer freundlichen Einladung, aus der boͤſen Abſicht 
Ihm nachzuſtellen; im Aeußerlichen Freundlichkeit, im Innern 
Falſchheit und Tuͤcke. Und zu einer ſo ſchaͤndlichen Handlung 
hatte der boͤſe Mann den geheiligten Tag, den Sabbat gewaͤhlt, 
an welchem man gewoͤhnlich ſeinen Freunden ein Mahl zu ge⸗ 
ben pflegte. Unſer Herr kannte die Geſinnung ihres Herzens, 
wußte, daß man nur deßwegen Ihn einlud, um Ihn nachzu⸗ 
ſtellen, und doch kam Er, kam, um denen, die Ihm Boͤſes 
wollten, Gutes zu thun, um durch Wort und Werk gute Ein⸗ 
druͤcke in ihrem Herzen zu hinterlaſſen. Seht, wie Er das Ge⸗ 
bot der Liebe auch gegen Feinde, Selbſt mit ſolcher Treue 
erfüllt! 
‚In Wahrheit, 3. €. iſt gefommen, auch die verhärteteften 
Sünder aufzufuchen, auch Jene zu retten, die Seine ärgfien 


— 1B — 


Seinde und Gegner: waren. Wer ed nicht verfchmähet, zu 
Seinen Argften Feinden, die Ihn einladen, um Ihm Boͤſes zu 
thun, zu fommen, um ihnen. Gutes zu thun, Der wird ges 
wiß Keinen verfloßen, ber in Demuth. und Vertrauen au Ihm 
kommt. 


I. . 

Ehe man zu Tiſche ſich ſetzt, laͤßt ſich ein Waſſerſuͤchtiger 

im Speifeſaal ſehen. Das war wahrſcheinlich nicht ohne ab⸗ 
ſichtliche Veranſtaltung, wenigſtens nicht ohne Zuſtimmung des 
Gaſtgebers geſchehen. Denn einen Kranken von ſo ekelhaftem 
Anblick, wahrſcheinlich von gemeinem Stande, wuͤrde ein ſo 
vornehmer Herr gewiß nicht ohne beſonderen Grund unmittel⸗ 
bar vor der Mahlzeit im Speiſeſaal geduldet haben. Aber es 
war gerade Sabbat. Der Gaſtgeber hegte wohl mit feinen 
pharifäifchen Gaͤſten die böfe Hoffnung, der Herr würde viele 
leicht durch Heilung ded Kranken gegen dad Sabbatgefek vers 
foßen. Die erbärmlihen Menſchen! Alfo wollten fie das Auss 
fprechen eines Worts, die Berührung mit der Hand (denn fie 
wußten, daß ber Herr auf ſolche Art, nicht als Arzt‘ durch 
mühevolle Anwendung von allerhand Mitteln, Tondern ald 
Wunderthäter zu heilen pflegte) als eine im Geſetz verbotene 
fnechtliche Arbeit anfehen. Das heißt doch in der That: Muͤk⸗ 
fen feigen, und Kameele verfhlingen. Die erbärmlichen Men 
hen! Ein Wunder, alfo ein Werd Gottes erwarteten fie, und 
wähnten, ein Werk Gottes könnte ein Verftoß feyn gegen das. 
Gebot Gottes. So bringt die Leidenfchaft den Menſchen in 


Verwirrung und mit ſich ſelbſt in Widerfpruch. Mie man, _ 


wenn man einmal gegen einen- Menſchen eingenommen iſt, an 
ihm auch das Beſte Überficht, oder zum Boͤſen deutet, und 
eine. jede Kleinigkeit ergreift, um ihm nur etwad anzuhaben! _ 
D Menſch! traue deinem Urtheife nicht, am wenigften gegen 
den, gegen den du eingenommen bift!. Sm den meiften Fällen 
wirſt du ihm Unrecht thun. Jenen Pharifaern einigermaßen 
gleich ift der Menfch, der von Leidenſchaft verbiendet iſt. Die 


geringften Kleinigkeiten, welche berfelben entgegen find, werden 
ar Thl. ate Aufl. 8 


— 11 — 


hoch angefchlagen, und andere viel bebeutendere Dinge werben 
für gering geachtet. So iſt Mancher ein großer Eiferer für 
die Kirchengebote; ‚aber gewiflenlos im Richten und Urtheilen 
über Andere, in harter Behandlung der Seinigen, und über- 
haupt in Verlegung der Liebeöpflichten. So. gibt ed Unkeufche, 
die fehr fireng find in der'&erechtigkeit, und es gleich fehr hoch 
anfchlagen, wenn Semanden auch nur in ber geringfien Klei- 


mnigkeit Unrecht gefchieht; die aber aus dem größten Unrecht, 


was der Menſch dem Menfchen zufügen kann, aus böfem Bei⸗ 
fpiele, aus leichtfertigen Reben, aus Anfchlägen zur Verfuͤh⸗ 
rnng fi) gar Fein Gewiſſen maden; die bad Alles mit dem 
Laufe der Welt, mit der unwiderſtehlichen Macht bes Fleiſches 
als unbedeutende Kleinigkeiten zu entfchuldigen wiſſen. O Menfch! 
beobachte dich ſelbſt! Wie oft wirft du finden, daß du bie Süns 
den, welche mit beiner herrſchenden Leidenfchaft und Neigung 
übereinftimmen, wie groß fie auch feyn mögen, für gering und 
unbebeutenb anzufehen, und in anderen Dingen, wozu bu feine 
Gelegenheit oder Neigung haft, -gleichfam zu deiner Rechtferti= 
gung fehr gewifienhaft zu feyn pflegeft! | 
Ehe ber Herr 3. €. den Kranken heilete, wollte Ex zus 
‚vor den Pharifäern und Anderen ihres Gleichen eine Lehre ge: 
ben, bie fie von ihrer noch weit gefährlicheren , innerlichen 
Krankheit heilen follte. Unſer Herr ſah die unruhige Bewe⸗ 
gung, die beim Anblid des MWaflerfüchtigen in ihren Gemi- 
thern rege wurbe, fah das in ihnen auffleigende Verlangen, 
Ihn jet auf der hat fchuldig zu finden. „Und Er hub an,” 
fagt ber Evangeliſt, „redete zu den Gefeglehrern und Pharifäern 
und fprad: If es erlaubt am Sabbat gefund zu machen 3” 
Sie Tonnten darauf nicht antwoten, weil Solche nach dem. 
Geſetze den Aerzten erlaubt war. Ohne fich jetzt durch ihre 
auflauernde Bosheit hindern zu laſſen, „nahm Er ben Kran⸗ 
ten zu Sich, machte ihn gefund, und entließ ihn.” "Da Er 
nun ben Ingrimm ihres Herzens fah, rebete Er fie wieber an, 
und ſprach: „Welcher iſt unter euch, bem fein Efel oder Och 
in einen Brunnen gefallen, ber nicht fogleidy ihn herausziehe 
am Rage des Sabbats?“ Nac dem Geſetze haltet ihr's für 





| 
| 
| 


— 15 — 


erlaubt, einem verunglüdten Hauöthier am Sabbat zu Hülfe 
zu kommen, wenn «8 andy nicht ohne Mühe und Anftrengung, 
nicht ohne Tnechtliche Arbeit gefchehen Tann, und einem uns 
gluͤklichen Menihen am Sabbat zu Hälfe zu kommen, follte 
nicht erlaubt feyn? — Der Menſch ift nicht um des Sabbats, 
fondern der Sabbat iſt um bed Menfchen willen. „Und fie ver- 
mochten nicht, Ihm darauf: zu antwortenz” unterftanden fid) 
nicht, z. B. etwa noch zu antworten: „da der Kranke fchon 
fo lange gelitten hat, fo hättet Du mit der Heilung auch wohl 
bis morgen Warten koͤnnen;“ denn fie konnten nichts einwenden 
gegen Seine Lehre, daß man den Sabbat durch ein Liebeswerk 
nicht entheilige, daß man ein Liebeswerk, wodurch man bie 
Noth eines Ungluͤcklichen erleichtern kann, nicht auf ben folgens 
den Tag verfchieben folle. Das ift die Lehre, welche der Herr 
%,&, bei biefer Gelegenheit verfündigen und einfchärfen wollte, 
wozu Er, um fie mit deſto mehr Nachdruck einzufchärfen, abs - 
ſichtlich den Sabbat gewählt hatte: | 


H. 
Ehe wir von biefer Lehre eine befondere Anwendung ma= 
chen, wollen wir dad heutige Evangelium vorher bis zum Ende 


lefen, und die darin entpaltenen Lehren und tief zu Herzen 
nehmen. 


Als der gebeilete Waſſerſuͤchtige entfernt war, und man 
nun zu Tiſche ſich ſetzen wollte, äußerte fich unter den phari⸗ 
Käifhen Gaͤſten eine no ekelhaftere, der Waſſerſucht ähnliche, 
innerliche Krankheit. Wie die Waſſerſucht den Leib des Men- 
ſchen aufblähet, vwermmflaltet, feiner beften Säfte und Sträfte 
beraubt; fo wird durch Stolz und Eitelkeit die Seele des Men⸗ 
ſcheu aufgeblähet, verunfaltet, und ihrer befter Kräfte beraubt. 
Man koͤnnte den Stolz. eine Waſſerſacht der Seele nennen; 
denn er nimmt derſelben alle bie edelſten Kräfte hinweg, macht 
alles Gute in ihr gleichſam zu einem faulen Waffer, und gibt 
ihr dabei dad: Anfehen von Größe, ader nur von einer ſchein⸗ 


baren, da fie innerlich ganz ſchwach und encröſtet iſt. 


— 16 — 


Als man zu Tiſche fich ſetzen will, ſiehe, da erhebt ſich 
unter ven Gäften ein erbärmlicher Rangſtreit; Jeder flellt und 
wendet und drängt fich fo, um einen der oberften Plaͤtze zu 
erhalten. Der Heiland, biefes erbärmlihe Spiel. der erbärm- 
lichſten Eitelkeit eine Zeitlang beobachtend, gibt ihnen dann 
eine Lehre, welche bloß eine Lehre der Weltklugheit zu feyn 
fheint, aber einen viel tieferen Sinn hat. „Man folle fi 
nicht oben an drängen, ed möchte noch ein Vornehmerer Toms 
men, — dieſe pflegen gewöhnlich am fpäteflen zu fommen, — 
dem man dann zu feiner Befhämung wieder weichen müßte. 
Man folle fich lieber unten an feken, dann würbe vielleicht der 
Gaftgeber Fommen, und einen ber erften Pläbe anweiſen.“ 
Diefe Art von Weltflugheit ift zur jegigen Zeit Sitte gewor⸗ 
den; unter dem Scheine von Befcheidenheit ſetzt man ſich unten 
an, jedoch in der geheimen, eitelen Hoffnung, vom Gaftgeber 
höher hinauf berufen. zu werden. Und fo ift es der naͤmliche 
eitele, erbärmliche Rangftreit, nur unter einer anderen Geftalt, 
den jene Pharifäer aͤußerten. Es war aber dem göttlichen Leh⸗ 
ver der Wahrheit nicht darum zu thun, eine gemeine Lehre der 
Weltklugheit zu ertheilen ; Dem, Der da lehrte, wie wir auf 
dem Wege der Demuth zur Ehre bei Gott und zum Himmel 
gelangen ſollen, war ed nicht darum zu thun, eine Anweiſung 
zu geben, wie wir auf ficherfiem Wege zur Ehre bei Menſchen 
gelangen Tönnten. Darum fagt der Evangelift: „Er fagte aber 
auch zu den Geladenen ein Gleichniß.“ Und biefes Gleich- 
niß brauchte Er nicht in. der Ferne zu fuchen, hatte Er ganz 
in der Nähe, in dem rangfüchtigen Betragen ber Gäfle. Dies 
ſes Betragen dient Ihm zur Gelegenheit, um ihnen zu zeigen, 
wie fie durch einen folchen Rangfireit nicht einmal ihren Zweck 
erreichten, und anſtatt Erhöhung, viel eher Erniebrigung und 
Beſchaͤmung zu erwarten hätten. . Was nach dem gewöhnlichen 
MWeltlauf zu gefchehen pflegt, fol ihnen einen Wink geben, fol 
ihnen ein Beilpiel, ein Gleichniß feyn, um barin zu erkennen, 
was fie um deflo mehr bei Gott zu erwarten hätten. Darum 
ſprach Er: „Denn wer fich felbft erhöhet, der wirb erniebriget; 
und wer fich felbft erniebriget, der wirb erhöhet werben.” Das 





— uin — 


iſt die Lehre, die Er aus jenem Gleichniß herleitete; das iſt 
die Lehre der Demuth, die Er nicht nur jenen Gaͤſten, ſon⸗ 
dern uns Allen geben wollte. 

Dieſer Ausſpruch verdient wahrhaftig von uns Allen gar 
oft mit dem groͤßten Ernſt beherziget zu werden. Vor mehre⸗ 
ren Sonntagen haben wir ſchon unſer Nachdenken auf denſel⸗ 
ben gerichtet; möge und dieſer Ausſpruch jetzt wieder zur War⸗ 
nung dienen! Bei Gott erniedriget werden, das iſt ganz un⸗ 
verkennbar das ſchreckliche Urtheil der Verwerfung, der Ver⸗ 
dammung. Bei Gott erhoͤhet werden, das iſt ganz unverkenn⸗ 
bar das Urtheil der Begnadigung. Und Selbſterniedrigung — 
was iſt fie anders, als wahre Demuth? und Selbfterhöhung — 
was ift fie anders, als Stolz, Hoffart und Eitelkeit? Seht 
alſo, wie Demuth ſowohl, ald Stolz in das andere Leben, auf. 
dad göttliche Gericht felbft einwirken! Seht alfo, wie höchft 
ernfllich wir dasjenige nehmen müflen, was uns oft fo unbe: 
deutend fcheint, was aber dereinft Gott Selbft in Seinem Ges 
xichte fo hoch nehmen, fo fcharf richten wird!. Wenn es fo um 
die Demuth ſteht und um den Stolz, wenn Gott jene fo hoch 
erhöhen, fo herrlich belohnen; und wenn Gott diefen fo tief 
erniedrigen, fo fcharf beflrafen wird; nicht wahr, dann. darf 
es und doch wohl nicht gleichgültig feyn: ob «8 und noch an 
bee Demuth mangele, oder nicht? ob wir noch Stolz, Eitelkeit 
im Herzen begen, ober nicht? nicht wahr, dann müflen wir 
bie. Sache wohl recht ernfllih nehmen, und und alle Mühe 
geben, jeden Mangel an Demuth zu entfernen, und mit allen. 
Kräften nach diefer Tugend zu fireben, ohne welche wir kein 
gnaͤdiges Gericht zu erwarten haben? . 

Wenn aber jeder Mangel an Demuth jenem fehredlichen 
- Berderben. und fchon Preis geben follte, ach Gott! wie wür= 
den wir dann beftehben?- Denn wer darf fagen, daß er fchon 
im vollen Beſitz diefer Tugend ſey? wer ertappt fich nicht felbft 
oft und mancheömal. über allerhand Regungen und Neußerungen, 
Neigungen und Begierden, Worten und Werken, die ed ihn 
deutlich genug zu erkennen geben, daß ed ihm noch gar fehr an 
dieſer Tugend mangele? Wer nur von der Nothwendigkeit 





— 118 — 


berfelben zu unferm ewigen Heile innigf überzeugt, und bann 
de ernften, aufrichtigſten Willens iſt, nach derſelben zu ſtreben, 
dem wird Gott gnaͤdig ſeyn, dem wird Gott ſeine Fehler, die 
er gegen dieſe Tugend dann und wann noch begeht, vergeben, 
und ſeine Maͤngel erſetzen. Wer aber in ſeinen aus Stolz und 
Hochmuth entſpringenden Neigungen ganz ſorglos ſich bingehen 
läßt, wer aus der Demuth fich gar nichts macht, wer es nicht 
einmal in feinen Vorfag aufnimmt, über fi zu waden, - um 
nicht gegen biefelbe zu verfloßen; wem es gar kein Ernſt iſt, 
nach derſelben zu ſtreben; deſſen Heil iſt gewiß in großer Ge⸗ 
fahr, die um ſo groͤßer iſt, je nothwendiger dieſe Tugend iſt, 
um Gott zu gefallen, und auf irgend eine Art im Guten auch 
nur den geringſten Fortſchritt zu machen. Die Demuth fordert 


eine beſtaͤndige Wachſamkeit, einen beſtaͤndigen Kampf, eine 


beſtaͤndige Selbſtverleugnung. Sorgfaͤltig muͤſſen wir bewachen 
alle Regungen unſers Herzens, feſt muͤſſen wir entſchloſſen ſeyn, 
jede Regung, die und felbfi erheben will, alſobald zu unter⸗ 
drücden. Die Demuth ift fchwer, ſehr fehwer zu. erringen; denn 
fie fordert, daß wir nicht bloß das Unfere, daß wir uns ſelbſt 
verleugnen. Dem Menfchen ift es durch ſich felbft nicht mög- 
lich, aber durch Gott iſt es ihm möglich. Nach der Demuth 
verlangen, ift fchon der: Demuth Anfang. Gott, Der’ dem De: 
muͤthigen die Gnade gibt, wird dem gewiß die Gnade geben, ber 
berzlich nach der Demuth verlangt, und in Erkenntniß feines 
Unvermögensd und feiner Unwürdigkeit herzlich darum: fleht. 
Meine werthen Zuhörer! Unfer Herr 3. C. hat und im 
heutigen Evangelium bie Anwelfung gegeben, wie wir ben Sabr 
bat, wie wir alfo unferen Sonntag durch Werke der Eiche hei⸗ 
ligen follen. Laſſet uns dieſes Liebeswerk zunaͤchſt an uns ſelbſt 
uͤben! Wir Alle ſind krank an der Seele; wir ſind Suͤnder. 
Laſſet und beſonders den Sonntag dazu heiligen, um und über 
die Krankheit unferer Seele, über unfere Sünden, und vor 
zügli über die am meiften’ in uns noch berrfchende fimbliche 
Neigung forgfältig zu prüfen! Laflet und diefe Prüfung am 
meiften auf jene fündliche Neigung richten, auf weiche wir ge⸗ 
wöhnlich am wenigften zu achten pflegen, auf Stolz und Eitel- 


Pr 





— 11 — 


feit, und wir werben gewiß finden, daß bie meiflen Sünden, 
die wir in ber verfloffenen Woche begingen, aus dieſer böfen 
Neigung, ald aus unferem Erbuͤbel entiprungen waren. 

Laſſet und denn aufs tiefſte vor Gott uns erniebrigen 
und demüthigen, und durch herzliche Neue und erneuerten Vor⸗ 
fat zur Wachſamkeit und zum Kampfe gegen dieſe Sünde uns 
ſtaͤrken, und auf foldhe Aıt unter dem Beiftande Gotted von 
diefer gefährlichen Krankheit unferer Seele und zu heilen fuchen! 


III. | 

So wie der Heiland im heutigen Evangelium zu biefem 
Liebeöwerf gegen uns felbft und ermuntert hat; fo hat Er und 
auch vorzüglich ermuntert, durch Liebeswerke gegen Andere den 
Sonntag zu heiligen. Unerfchöpflich ift die Liebe in ihren Wer⸗ 
fen. Unter Allen aber, gegen welche wir fie dußeren koͤnnen, 
find es vorzüglich die Kranken, welche unfere Liebe am meiften 
in Anfpruch nehmen. Ein Kranker war ed, dem ber Heiland 
am Sabbat das große Liebeöwerk erwies; eben dadurch hat Er . 
und vorzüglid die Kranken angewielen, um benfelben befonders 
am Sonntage unfere Liebe zu erweifen, unb dadurch den Sonn- 
tag zu heiligen. Unter den Liebeöwerken, welche ber Herr am 
großen Gerichtötage vergelten wird, hat Er ganz indbefondere - 
den Krantenbefuch ausgezeichnet. „Ich war Frank,” ſpricht Er, 
„amd ihre habet Mich befuchet.” Ihn Selbft, unferen Heiland, 
beſuchen wir in jedem Kranken, :den wir um Seinetwillen bes 
fuchen. Denn Er hat gefagt: „Was ihr dem Geringften unter 


Meinen Brüdern thut um Meinetwillen, das habet ihr Mir. 


Selbſt gethan.“ Zu diefen Geringfien gehören doch vorzüglich 
die Kranken. Wie troftlod und huͤlfsbeduͤrftig ift der Kranke 
in feinem ganzen Zuſtande! Die Lage des Kranken, befonders 
des Armen, deſſen Krankheit noch uͤberdieß langwierig iſt, . ifl 
gewiß fehr traurig, und verbient unfer größtes Mitleiden. Da 
liegt der Arme oft die größte Zeit ded Tages hindurch, ohne 
einen Menfchen zu fehen, ohne alle Pflege und Erquidung, 
kann fich felbft nicht helfen, und Niemand ift, der ihm Hülfe 
reicht; liegt oft gar lange Beit in ber größten Unbequemlichkeit, 


— 128 — 

liegt in beſtaͤndigen Shmeizen und in beftänbigen Sorgen, die 
immer drüdender werden, je länger die Krankheit anhält. Wie 
ein‘ Engel des Troſtes ift ed ihm, wenn einmal, Jemand mit 
theilnehmendem Herzen zu ihm kommt, und die Armuth, Den 
Schmutz und Efel feiner Stube nicht fcheuet, und ihm einige 
nothwendige Hülfsleiftung reichet, ihm nur Theilnahme beweifet. 
Kann ed daher wohl ein fehöneres, Gott mehr gefälliged Lie⸗ 
beswerk geben, ald den armen Kranken in feiner Noth, in 
feinem Elende befuchen? Gedenfet, wie 3. €. den armen Krane 
ten feinen Bruder nennt, indem Er foricht: „was ihr einem 
Meiner geringften Brüder gethan habet, dad habet ihr Mir 
‚Selber gethan.” Welche Ermunterung, daß der Heiland am 
letzten Gerichtötage mit den. Worten: „Ich war. frank, und du 
haft Mic, beſucht,“ denjenigen anreben wird, der vielen Eifer 
in diefem, wie überhaupt in Werfen ber Liebe bewiefen bat! 
Wer viel Liebet, dem wird viel vergeben: die Liebe bedeckt bie 
Menge unferer Sünden. — 
Ä So ſchoͤn und edel daher diefed Liebeswerk, der Kranken⸗ 
beſuch, an und fuͤr ſich iſt; ſo iſt doch dabei auch große Vor⸗ 
ſicht nothwendig, und es kommt hauptſaͤchlich auf die rechte 
Art an, ſonſt verliert es ſeinen ganzen Werth, und ſtiftet oft 
mehr Unheil als Nutzen. 

1) Zuvoͤrderſt darf keine Pflicht unſers eigentlichen Be⸗ 
rufs darunter leiden. Viele Menſchen haben die Neigung, 
lieber das zu thun, was ſie nicht muͤſſen, als das, was ſie 
muͤſſen. Darunter iſt im Grunde nur Eitelkeit und Eigenliebe 
verborgen, weil es den Schein eines beſondern Eifers gibt. 
Wollte daher z. B. ein Dienſtbote uͤber den Krankenbeſuch eine 
haͤusliche Pflicht verſaͤumen, ſo wuͤrde das Werk vor Gott kei⸗ 
nen Werth haben. Durch dieſe Berufspflicht Hat Gott Selbſt 
geiprochen: „Ich will, daß du jetzt dieſes thun ſollſt!“ wie nun, 
wenn man dagegen fagen wollte: o, das ift ja etwas ganz Uns 
bebeutendes, iſt nur, ein zeitliches Werk, ich will Lieber etwas 
anderes, ich will ein geiftliches Werk verrichten!“ Dann bat 
der Krankenbeſuch am Sonntage den höchften Werth, wenn 
man irgend ein übrigens anflandiges Vergnügen, eine an fi 








— 121 — 


erlaubte Luft aufopfert,, um Belt dafür zu gewinnen, und fi 
alfo an den alten Spruch hält: „Es Aft beffer, in ein Trauer⸗ 
haus, ald in ein Haus ber Freude zu gehen.” Dann darf 
2) unter dieſem Werke Feine höhere Pflicht leiden. Daher 
ift es nicht recht, fo wohlgemeint auch der Eifer feyn mag, 
Kranke,. die an einer anftedenden Krankheit Ieiden, zu befuchen. 


- Das dürfen und follen nur Jene, deren befonderer Beruf es 


ift, nur der Geiftliche, der Arzt, die nächften Angehörigen, und _ 
unentbehrlichen Pfleger ded Kranken. Würde nicht durch einen 
foichen unüberlegten Befuch das Gift der Krankheit allgemein 
verbreitet, dad Wohl fo mancher Familie, und bie ganze Stadt 


dadurch in die ‚größte Gefahr verfegt? und wie, find dann 


Jene, die fih manchesmal zu einem ſolchen unvorfichtigen Be⸗ 
ſuche drängen, find fie dann felbft zum Tode ſchon fo ganz 
bereit? Dann kommt es | 

3) beim Beſuche felbft hauptfächlich auf die rechte Art an. 
Es gibt Viele, die vom Krankenbett weit beffer ganz wegblie⸗ 
ben, weil fie ed nicht verftehen, mit den Kranken auf die rechte 
Art umzugehen. Einige beuntubigen diefelben indem fie ihnen 
alterhand abergläubifche Dinge vorreden, zu allerhand abergläu= 
bifhen Mitteln rathen, ihnen dadurch den Kopf verwirren, und 
fie fogar verleiten, die WVorfchriften des Arztes nicht auf die 
gehörige Art zu befolgen.. Andere wiſſen am Krankenbette 
nichts Beſſeres zu thun, ald daß fie den Kranken, um ihnen 
die Zeit zu vertreiben, allerhand Neuigkeiten aus anderen Hau: 
fern erzählen, fie dadurch zu vielen fchablichen Zerſtreuungen 
veranlaflen, und ihnen die Ruhe und bie gute Gemüthäftim- 
mung rauben, worin fie fi) befanden. Wer nichts Anderes zu 
thun weiß, ber bleibe lieber vom Krankenbette ganz weg! Noch 


Andere, — und das ift noch fchlimmer, miſchen fich fogar in 


die Gewiſſensangelegenheiten ded Kranken, ſprechen mit ihm, 
indem fie fein Vertrauen zu gewinnen wiffen, über feine Suͤn⸗ 
den, machen ihm einige leichter, andere fchwerer,  fprechen gar 
über feinen Beichtvater auf eine höchft anmaßende Art, erregen 
durch ihre unüberlegten Yeußerungen Mißtrauen gegen ben 
ſelben; einige ſprechen zu Teichtfertig über die Gerichte. Gottes, 


— 122 — 


fagen z. B. „OD dad hat nichts zu bebeuten, Gott: ift fo barm⸗ 


herzig;“ Andere machen diefelben zu fchwer und, fürchterlich, 
und verſetzen dadurch unndthiger und fehr ſchaͤdlicher Weiſe den 
Kranken in Zurcht und Schreden. Das find nur einige von 
den ganz gewöhnlichen: Zehlern, die leider nur zu oft am Kran⸗ 
kenbett⸗ begangen werden. 

Was fol man aber denn eigentlich am Krankenbette 


machen? Zuerſt ift es nothwendig, daß Jeder in feinem Kreife 


bleibt, ſich in Nichts milcht, was nicht feine Amts und Be⸗ 
vufß. iſt, fich nichts anmaßet, dem er nicht gewachlen ifl. Dann 
achte man nur auf die Stimme der Liebe in feinem Herzen, 
verfege ſich in die hülfbebürftige Lage bed armen Kranken, 
und denke barliber nach, weſſen er am meiſten bedarf. Vor⸗ 
zuͤglich beweife man gegen ihn die leiblichen Werke der Barm⸗ 
berzigfeit, man erquide ihn durch eine milde Gabe, die man 
entweder von einem menfchenfreundlichen Wohlthäter erhalten, 
oder noch beffer, die man fich felbft erfpart hat von einer uns 
nöthigen Audgabe, die man etwa auf. Pub und Kleidung, ober 
auf ein koſtſpieliges Wergnügen zu verwenden gedachte. Ein 


ſolches Opfer hat einen unvergleichlichen Werth in den Augen 


Sottes, und flieht mit unaustöfchlichen Zügen im Buche des 
Lebens angefchrieben. Wer nicht viel geben kann, ber gebe 
wenig! Denfet an die Wittwe, bie nur einen Pfenning in 
den Opferlaften warf, wovon aber 3. ©. ſprach: „Diele hat 
das Meifte gegeben, weil fie Alles gegeben bat, was in ihren 
Kräften war!” Wer auch nicht jederzeit geben Tann, der kann 
dod dem Kranken irgend. eine Hülfsleiftung leiften, die ex 
fonft ohne Geld nicht haben Fünnte. Die warme Hand ber 
Liebe thut Alles fanfter, fchonender, berzlicyer, als die kalte 
Hand, die nur durch's Geld in Bewegung gelebt wird. Dann 


fuche man den Kranken zur Gebuld, zur Ergebung in Gottes 
Willen, zum Vertrauen auf Gott zu ermuntern, leſe ihm etwas 


vor aus einem guten Gebetbuche, oder das fonntägliche Evan- 


‚gelium, ober erzähle ihm etwas, was feinem Zuſtande ange- 


meflen iſt, aus der angehörten Predigt, mifche fich aber gar 
nicht weiter. in bie Angelegenheiten feines Gewiflens! Das ift 





J 
1 B 


allein Sache des Geiſtlichen, des Beichtvaters, der den inneren 
Zuſtand des Kranken kennt, und darnach ſeine Rathſchlaͤge und 
Vorſchriften ertheilen muß. Wer ſich ſo am Krankenbette be⸗ 
traͤgt, der hat dort Gelegenheit ſehr viel Gutes zu ſtiften, und 
fich viele Verdienſte fuͤr die Ewigkeit zu ſammeln. 

O, daß die gegenwaͤrtige Erinnerung an die theilnehmende 
Liebe unſeres Herrn J. C. gegen Kranke die Herzen vieler mei⸗ 
ner Zuhoͤrer zu gleicher Liebe erwecken moͤchte! wie manche 
Thraͤne wuͤrde dann von den Augen vieler Kranken getrocknet, 
wie manches Elend gelindert werden! wie viele Kranke, die 
von aller Welt verlaſſen ſind, wuͤrden dann an einem theilneh⸗ 
menden Herzen einen großen Troſt, und in ihrer Noth eine 
erquickende Huͤlfe finden! 

Das Beiſpiel und die ausdruͤckliche Lehre unſers Herrn 
J. €. diene und überhaupt zur Erinnerung, den Sonntag, fo 
viel wir koͤnnen, mit einem guten Werke, mit irgend einem 
Liebeswerk gegen den Naͤchſten zu heiligen. Kann man nicht 
immer einen Kranken befuchen, fo kann man vielleicht einen 
Betrübten tröften und ermunteren, einen Unwiffenden belehren, 
guten Rath ertheilen, ſich einander zum Guten erweden, und 
fi) in guten Vorfägen flärken. Wem eb ‚nicht an ber Liebe 
fehlt, dem wird es auch nie an ©elegenheit fehlen, Liebe zu 
üben. Und dann würde diefer Bag aufhören zu feyn, was er 
leider für fo Viele ift, ein Tag des Muͤßiggangs, der Langen- 
weile. und unnuͤtzen Beitvertreibed, ober gar ein Tag der Sünde. ' 
Und dad frohe Bewußtſeyn am Abende, den Tag nicht umfonft 
gelebt zu haben, wiirde eine weit reinere Freude gewähren, als 
manche- für dad Seelenheil oft fo gefährliche Erluftigungen, 
die fo oft nur bittere Nachwehen bringen, nicht gewähren koͤnnen. 

Laffet und den Sonntag heiligen, fo gut wir Fönnen, fo 
werden wir auch an den Übrigen MWochentagen und mehr vor 
Sünden bewahren, werben ſodann in unferen zeitlichen Arbeiten 
und Verrichtungen nur den Willen Gottes erkennen, und befto‘ 
- treuer in Erfülung unferer Pflichten feyn.. Wir bitten dich, 
o Herr! daß Du durch Deine Gnade diefe Gefinnung in und - 
erhalten und befeftigen wolleſt! Amen. _ 


Zehnte Rede 
Zweite Rebe am fiebenzehnten Sonntage nad) dem 
| Delle der h. Dreifaltigkeit. 


zert: 
gIſt es erlaubt, am Sabbat geſund zu maden? Luk. 14, 3. 


Shbema: 
Der Sabbat ber Suben und der Sonntag der 
Chriſten. 


Du großen Vorzüge, wodurch der Gottesdienſt der Fatholi- 
fchen Kirche fi auszeichnet, waren zum Theil der Gegenftand 
und Inhalt unferer legten: Predigt*). Je größer. diefe Vor⸗ 
züge find, um deſto ftrenger ift für und die Pflicht,. diefelbe 
zum Heile unferer Seele zu benußen und anzuwenden, um 
deſto ſchwerer ift für uns die Verantwortung, derer wir uns 
durch Vernachlaͤſſigung oder Uebertretung dieſer Pflicht ſchuldig 
machen. Zwar haben wir alle Tage in unferen Kirchen Got⸗ 
tesdienfl, alle Zage wird bad h. Opfer dargebracht, alle Rage 
fieht das Allerheiligfte für Jedermann offen, alle Tage ift Je⸗ 
dermann zum Gebet, zur Betrachtung und zum flillen Umgang 
mit Gott eingeladen, bei Zag und bei Nacht ift 3. C. als 
Gott und Menſch in unferen Kirchen gegenwärtig, und labet 
ein einen Jeden, der mühfelig und belaftet ift, und verfpricht 
ihm Erquickung. Doch ift es unter und, wie unter allen Chri- 
ſten eigentlich der Sonntag, welcher durch ein ausdrüdliches 
Geſetz dem Gottesdienſte gewidmet und geheiliget if. .Und fo 
gibt und denn dad heutige Evangelium von felbfi die Veran 
laſſung, auf die pflihtmäßige Feier des Sonntags jest unfer 
Nachdenken zu richten. Und es ift wahrhaftig für und Alle 





*) Am Feſte der Kirchweihe im Dom. 








— 125 — 


fehr dienlich, daß wir über die Feier des Sonntags recht ernſt⸗ 
Lich nachdenken. Denn fo gut auch bie meiften katholiſchen 
Chriften über diefed Gebot unterrichtet feyn mögen, fo iſt es 
Doch gewiß, daß die Uebertretungen und Sünden gegen dieſes 
Gebot gar haͤnfig find, und immer noch zunehmen, daß der 
Geiſt dieſes Gebots von den Wenigften recht erfannt, daß über: 
haupt der Sonntag unter allen Ständen nicht fo gefeiert wi, 
als er gefeiert werben follte. 


, J. 

Bedenken wir wohl, daß das Gebot der Sonntagsfeier 
ein großes, daß es urſpruͤnglich ein goͤttliches Gebot iſt. Denn 
was den Juden der Sabbat war, Dad und noch weit mehr, 
fol den Chriften der Sonntag feyn. Die Sabbatfeier ift fo 
alt, ald die Welt. Nach der Schöpfimgögefchichte heißt ed in 
der heil. Schrift: „Und Gott fegnete ben fiebenten Tag, und 
heiligte ihn, darum, daß Er an bemfelben geruhet hatte von 
allen Seinen Werken.” 1 Mof. 2, 3. Gott Selbſt hat uns 
alfo gleichfam Sein eigenes Beiſpiel aufgeftellt, daß wir den 
fiebenten Tag ausruhen follen von zeitlicher Arbeit, und ihn 
heiligen follen durch Ruhe in Gott, durch befondere Erhebung 
unferd Gemäths zu Gott. Was nun ſchon vom Anfange der 
Belt Gewohnheit war, hat Gott, ald Er vom Berge Sinai 
dem Volke Iſtael die Gefeße gab, zum Gebote gemacht. Es 
tt das dritte unter den zehn Geboten, welches Gott Selbft aus 
der Wetterwolke dem Volke Iſrael verkündigte, ald Er ſprach: 
„Gedenke, daß du ben Sabbat heiligeſt!“ Es ift alfo eines 
von jenen Geboten, von welchen 3. ©. fpricht, daß auch nicht 
der Beinfie Strich von bemfelben ohne Erfüllung bleiben follte, 
Gott ließ durch Moſes verordnen, daß die Uebertretung dieſes 
Gebots mit dem Tode follte beftraft werben. Gott ließ am 
Tage vor dem Sabbat boppelt fo viel Manna, ald an dem 
anderen Tagen, fallen, damit dad Bold durch Einfammeln def- 
felben. an der’ Sabbatfeler nicht füllte gehindert werden. So 
bat Gott Selbft für die genauefte Erfüllung dieſes Gebots ges 
forgt. Darum war ed befonderö bie Sabbatfeier, welche Mo; 


— 126 — 


ſes in feinen legten Tagen bem Wolfe mit bem größten Nach⸗ 
druck einihärfte, als er ſprach: „Du folft den Sabbat halten, 
und ihn: heiligen, wie der Herr, bein Gott, befoblen hat: ſechs 
Rage ſollſt du arbeiten, und alle deine Werke verrichten; ber 
fiebente Tag aber ift der Sabbat, das ifl: der Ruhetag des 
Heren, deined Gottes; an diefem fonft du Feine. Arbeit thun, 
noch dein Sohn, noch deine Zochter, noch deine Magd, noch 
dein Ochs, noch dein Efel, noch alled dein Wieh, noch’ der 
Fremdling, der im deinen Thoren iſt; auf daß bein Knecht und 
. beine Magd ruhe, gleichwie du.’ 

Mofes führt dann noch einen: befonberen Grund an, weh: 
wegen dad. Volk von aller Arbeit am. Sabbat ruhen follte, 
„Denn du ſollſt gedenken, daß du auch Knecht im Egypten 
land wareft,. und der Kerr, deim Gott, dich von bannen aus⸗ 
geführt hat mit einer mächtigen Hand und ausgeſtrecktem Arm. 
Darum bat dir der Herr, dein Gott, geboten, "daß du den 
Sabbat halten ſoliſt.“ 5 Mof. 5, 12— 15. Zum befondern 
Andenken an die Erlöfung aus der egyptifchen Knechtſchaft follte 
alfo der Sabbat von den Juden gefeiert werden. Diele Erloͤ⸗ 
fung aus ihrer harten, ſchmachvollen Knechtſchaft, welche durch 
den Genuß bed. Oſterlamms und, durch die Feier des Oſterfeſtes 
beftändig im lebendigſten Andenken erhalten wurbe, war den 
Juden das bedeutendſte Vorbild von der Erloͤſung des ganzen 
Menfchengefchlechts ans der Knechtichaft der Sünde und bed 
Todes durch den verheißenen Meſſias. Was Die Juden als 
Vorbild feierten, fol von uns Chriften ald Andenken gefeiert 
werben. Zwar gefchah diefe Erlöfung durch den Tod unſers 
Heitandes am Vorabend vor einem Sabbat, aber diefe Erlö- 
Iöfung wurde mit der Auferfiehung des Herrn zuerft offenbar, 
trat für und, für die Welt zuerſt in's Leben und in Wirkſam⸗ 
keit, als 3. ©. ans Abend des Auferfichungdtages zu Seinen 
Juͤngern fprah: „Wis ber Vater Dich gefandt hat, fo ſende 
Sch euch. Welchen ihr bie. Sünden exlaffet, denen find fie. er⸗ 
laſſen.“ Die Auferflelung J. €. geſchah an einem Sonntage, 
darum wurde bad Jahresfeſt der Auferfiehung fehon gleich vom 
Anfange in den meiſten Kirchen an einem Sonntage gefeiert. 








—— — an — — En. Silent ME 75——. —7— — — 


— m — 


SObſchon dieſe Jahresfeier an einem Sonntage in den erſten 

Jahrhunderten noch nicht ganz allgemein war, und in der erſten 
allgemeinen Kirchenverfammlung zu Nicaͤa zuerft zu einem all- 

. gemeinen Gefehe gemacht wurde; fo hatte doch dad Andenken 
an die Auferftehung den erfien Chriften den Sonntag fo chrr 
würdig und heilig gemacht, daß fchon zu ber Npoftel Zeiten 
anftatt des Sabbats der Sonntag gefeiert und der Tag bes 
Herrn genannt wurde. So heißt ed in der Apoflelgefchichte: 
„Den erfien Tag nach Sabbat, da wir verfammelt waren, das 
Brod zu brechen, redete Paulus zu ihnen.‘ Apoſtelg. 20, 7. 
An die Chriften zu Korinth fchreibt der Apoſtel: „Jeden erfien - 
Tag nach Sabbat habe ein Jeglicher für fich bereit, zufammen- - 
legend wie viel ihm gut duͤnkt.“ 1 Korinth. 16, 2. Und fo 
haben wir eine Menge Beugniffe aus ben erften Jahrhunderten, 
aus welchen ed deutlich erheilet, daß bie Chriſten ſchon von den 
Beiten der Apoflel her, anftatt ded Sabbats den Sonntag .als 
den Tag ded Herrn, ald den Tag Seiner Auferftehung gefeiert 
haben. . In der erften Kirchenverfammlung zu Laodicaͤa, bie im 
vierten Jahrhundert gehalten wurde, ‚wurde dad Gefeg gegeben: 
„Die Chriſten follen nicht nach jübifcher Weile Ieben, und am 
Sabbat nicht müßig feyn, ſondern arbeiten. Am Sonntage, 
am Tage des Herrn aber, welchen fie vor allen anderen zu 
ehren haben, follen fie fih, wenn ed möglich if, als Chriften 
der Arbeit enthalten. Durch die Zeier des Sonntags anflatt 
des Sabbats, wurde bad Chriſtenthum am meiften vom Juden⸗ 
thum gefchieden. Ungemein wichtig mußten alfo für die Ayos 
ſtel und für die erften Vorfteher der Kirche die Gründe feyn, 
welche fie zu dieſer großen Weränderung vermochten, anſtatt 
eined Tages, der fogar durch göttliche Verordnung vom Anfange 
der Welt geheiliget war, einen anderen Tag zur Heiligung 
borzufchreiben. Das konnten und durften fie nur auf Einge⸗ 
bung des h. Geiſtes, Der ihnen gegeben war. Die Befreiung 
aus der egyptifchen Knechtſchaft, zu deren Andenken der Gabs 
bat befonderd follte gefeiert werden, war ja nur Vorbild bes 
Erloͤſung des ganzen Menfehengefchlechts „von ber Knechtſchaft 
der Suͤnde und des Toded, bie am Rage der Auferſtehung, an 


— 128 — 


einem Sonntage dem Menſchengeſchlecht verfünbiget . wurde. 
Dieſe Erlöfung ift gleihfam eine zweite, neue Schöpfung des 
Menſchengeſchlechts; der Auferſtehungstag J J. C. iſt gleichſam 
ein zweiter Schöpfungstag, Wie das Vorbild dem, was es 
vorbilbete, fo mußte au der Sabbat dem Sonntage weichen. 
Die Auferftehung 3. C. ift der. Grund unſers Glaubens; dar: 
um follte dad Andenken an Seine Auferfiehung nicht nur Ein: 
mal im Jahre, fonbern an jedem erflen Tage in der Woche 


gefeiert werben, damit wir eine jede Woche. mit diefem erneuer: 


ten Andenken beginnen, und feit befrhließen möchten, Dem zu 
leben, Der für und geflorben und auferſtanden iſt. 


| U. . 
Menn wir diefes wohl erwägen, wie ber Sonntag. anflatt 
des Sabbats nicht ohne Eingebung des h. Geifled in das Chri- 
ſtenthum eingeführt iſt; wie ehrwürbig und heilig muß uns 
Dann der Sonntag ſeyn! Wenn der Sabbat den Tuben fchon 
fo Heilig war, wie heilig muß dann und Chriſten der Sonntag 
feyn! Denn, wie ed heißt: „bier iſt mehr, ald Salomon, bier 
ift mehr, ald Jonas;“ fo dürfen wir auch fagen: „bier ift mehr 
als Sabbat, mehr, ald Arche ded Bundes; 3. C., der einge 
borne Sohn Gottes, Der für und geflorben und von den Tod⸗ 
ten auferflanden iſt, iſt 8 Den wir an unferm Sonntage 
feiern. 
Wenn wir dieſes Alles wohl erwaͤgen; ſo müͤſſen wir wohl 
mit allem Ernſt daruͤber nachdenken, wie wir den Sonntag 
feiern und heiligen ſollen. Wir muͤſſen ihn feiern zu der Ab⸗ 
ſicht, zu welcher feine Feier angeordnet iſt. Dieſe Abficht iſt 
die naͤmliche, zu welcher die Sabbatsfeier von Gott Selbſt an⸗ 
geordnet war. Laſſet uns daher auf dieſe Abſicht zuerſt unſer 
Nachdenken richten! Dieſes zeitliche Leben ſoll dem Menſchen 
eine Vorbereitung fuͤr die Ewigkeit ſeyn. Er ſoll ſeine ſuͤnd⸗ 
lichen Begierden und Neigungen bekaͤmpfen, ſoll nach guten, 
tugendhaften Geſinnungen trachten, und dieſelben durch gute 
Werke und durch einen tugendhaften Wandel bewaͤhren, damit 
er dereinſt in das ewige Reich Gottes moͤge aufgenommen wer⸗ 


— 











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— 18 — 


den. Dos if bes Menfihen Beſtimmung auf Erden, ımd dies 
fer Beftimmung gemäß foll er feine zeitlichen Güter, foll er 
Alles, was zeitlich iſt, gebrauchen und anwenden. In der Zeit 
lebend, foll ex e8 immer im Herzen tragen, baß alles Zeitliche 
niht von Dauer iſt. Auf das ewige Leben, welches fein Va⸗ 
terland .ift, fol daher das ganze Werlangen feines Herzens, auf 
gute Werke und Gefinnungen, bie ihm allein den Zutritt in 
dad ewige Leben verfchaffen, auf diefe ewig bleibenden Güter 
fol fein ganzes Streben gerichtet ſeyn. Nun lebt aber ber 
Menfch in ber Zeit, und es ift ihm gefeht, daß er im Schweiße 
feined Angefichtd fein Brod verdienen. fol. Don fetbft wird 
er nun zum Zeitlichen hingezogen, ſowohl durch Beduͤrfniß, als 
durch Neigung und Luſt; durch Beduͤrfniß zu allerhand zeitlis 
chen Sorgen; burc Luft und Neigung zum Erwerb und Bes 
fig zeitlicher Güter, und zum Genuß ſinnlicher Vergnuͤgungen. 
Das Alles ift ihm nun ein. Hinderniß, welches macht, daß er 
fein Verlangen und Streben nicht fo, wie er follte, auf das 
Ewige richtet, und daß. er, zerfireuet In feine zeitlichen Ge⸗ 
fchäfte und Sorgen und feine: isdifchen Vergnuͤgungen, feine 
Beſtimmung für. bie Ewigkeit immer mehr aus den Augen vers 
liert. Zum Zeitlichen, was in Die Augen fällt, wird dee Menſch 
von ſelbſt hingetrieben durch feine. finnliche Natur; zum Ewi⸗ 
gen, zu ben ewigen Gütern, die mit: den Augen bed Leibes 
nicht koͤnnen ‚erfchauet werben, muß er ‚getrieben werben. Unb 
einen ſolchen Antrieb. hat nun Der. gütige Gott nach Seiner 
Weisheit und Liehe ben Menſchen in der Anordnung der Sab⸗ 

batöfeier geben wollen. Ausruhen Toll der Menſch an dieſem 

Tage an Leib und Seele, : nicht nur von aller zeitlichen Arbeit 
und Sorge, fondern auch durchaus non allem Beitlichen, was 
ihm .in. feinem Beſtreben um das Emige zum Hinderniß ift, 
alfo auch, and zwar: um. deſto mehr von ſolchen zeitlichen Be⸗ 
ſchaͤftigungen und Wergnügungen, die ihm in biefem Beſtreben 
nothwendig zum Hinderniß ſeyn muͤſſen, tief zu Herzen nehmen 
fol der Menſch an diefem Rage feine Beftimmung für- die 
Ewigkeit, fol fein ganzes Gemüth zu Gott und zum Himmel 


erheben ; nachbenfen fol er an dieſem Tage, wie. er in dem 
® Chl. ste Aufl. | 9 


— 18 — 
letzten ſechs der Arbeit beſtimmten Tagen von dieſer Beftims 
mung vieleicht abgewichen fey; fi ermunteren, und flärfen 
fol ex an diefem Tage, um in den nächfifolgenden ſechs der 
Arbeit beflimmten Lagen vor Ähnlichen und anderen Abwei⸗ 
chungen ſich zu bewahren: fo fol er an diefem Tage das Le⸗ 
ben des Geiſtes in fich erweden und unterhalten. Mit Einem 
Wort: ausruhen foll der Menſch an diefem Tage von allem 
Beitlihen, und einzig fol er an biefem Tage leben und thätig 
ſeyn für das, was geiftig ift, was feinen Geift reiniget und 
heiliget, was feine unfterbliche Seele zu Gott erhebt, mit Gott 
inniger- vereiniget, damit er auch an jedem anderen Tage mit- 
ten unter feinen Sorgen und Arbeiten fo gefinnt feyn möge 
und. könne. Wer- aber fein ganzes Beſtreben, feine ganze Thaͤ⸗ 
tigkeit auf Gott richtet, der findet Ruhe in Gott. Thaͤtigkeit 
für Gott gibt Ruhe in Gott. So fol denn diefer Tag. dem 
Menfchen ‚ein wahrer und vollkommener Ruhetag für Leib und 
Seele feyn. Darum wird. Auch diefer Tag ein Ruhetag des 
Herrn genannt. Seht alfo: da, die: große, weile, liebevolle Ab- 
- ficht, wozu Gott dieſen Ruhetag für und Menfchen angeordnet 
bat! Nicht nur an diefem Lage fol der Menſch einzig und al- 
lein fein ewiges Heil wirken,: fonbern. er fol daffelbe an diefem 
Rage auf eine ſolche Art wirken, auf eine ſolche Art fih inner: 
lich flärken und beleben, daß er auch in den Tagen der Arbeit 
fein ewiged Heil zu wirken nicht unterlaſſen möge: Die Feier 
dieſes Tages iſt alſo eigends dazu angeordnet, damit der Menſch 
an bemfelben fein ganzes" Gemuͤth auf feine Beſtimmung für 
bie Ewigkeit, auf Gott richte, und fo dad Heil feiner Seele in 
Sicherheit bringe und erhalte. Seht alfo dfe weile, liebevolle 
Abficht, wozu Gott diefen Tag der Ruhe angeorbnet bat! Diefe 
Abſicht müffen wir immer genau vor Augen haben, wenn wir 
fowohl die Pflichten, welche die Feier dieſes Tages von uns 
fordert, als atıch die Fehler und Sünden gegen biefelben beuf- 
ig erkennen und richtig beurtheilen wollen. 
. DE 

| Um alfo den Menſchen von aller Sorge für das Zeitliche 

an dieſem Rage zu befreien, gab der Herr dad Verbot, von 








| — 11 — 
alter Enechtlichen Arbeit an bemfelben abzuftehen, und biefes - 
Verbot gab Gott mit der größten Strenge Diefe Strenge 
außert ſich auf dreifache Art. Das Verbot follte fih erfieng 
auf alle knechtliche Arbeit ohne alle Ausnahme, follte fogar auf 
die Sorge für den täglichen Lebensunterhalt fich erſtrecken. Deß⸗ 
wegen ließ der Herr am Sabbat gar fein Manna fallen, das 
niit ber Iiraelit mit dem Cinfammeln, welches doch wenig Bett 
und Mühe erforderte, ſich nicht zerftreuen follte. Zweitens 
ſollte das Verbot auf alle Ifraeliten ohne Ausnahme, und zwar 
wicht allein auf die Hausherren, ſondern auch auf die Hausge- 
nofien, Knechte und Mägde, fogar auf das arbeitende Haus⸗ 
vieh ſich erfireden. Und drittens wurde auf. die Uebertretung 
eine fchwere Todesſtrafe gefeht. — Zwar iſt nun diefe Strafe 
unter uns Chriften aufgehoben; aber wir erkennen boch aus 
derfelben das große Mißfallen Gottes an ber Uebertretung; das 
Verbot ſelbſt iſt nicht aufgehoben: es beſteht noch, und befteht 
noch in ſeiner ganzen Strenge. Denn von unſerem Sonntage, 
geheiliget durch da8 Andenken an die größten Geheimniffe un- 
ſerer h. Religion, an die Auferſtehung 3. C. und an die Sen— 
bung bed h. Geiſtes, müffen wir fagens „ber Sonntag der 
Chriften ift weit mehr, als der Sgbbat der Juden war.”. 
Laffet und jegt auf einige der gewöhnlichen, unter ung 
sur Gewohnheit gewordenen Sünden gegen diefes Verbot une 
fer Nachdenken richten! Offenbar verfündigen ſich Jene fehr ges 
gen dieſes Werbot, welde fo viele Arbeit übernehmen, dag fle 
den Samstag bis tief in die Nacht, bis zum Morgen des Sonn= 
tags hinein mit ihren Gefellen daran zu thun haben, ober bie 
am frühen Morgen des Sonntags oft bis tief in den Tag 
hinein vollenden, wa am vorhergehenden Abend unvollendet ges 
blieben war. Und leider, leider gefchieht das nur gar zu haͤu⸗ 
fg, und iſt doch dem göttlichen Werbot fo gerade zuwider. Iſt 
8 nicht fo weit gekommen, daß es manche Arbeiten gibt, bie 
Ihon der Regel nach für den Sonntag Morgen beſtimmt find, 
wobei man damit ſich zu entfchuldigen fucht, daß es Feine bes 
ſchwerliche, ſtark anftrengende Arbeiten feyen? Elende Entfchuls 
digung! was bloß bed Gewinnftes wegen gefchieht, iſt knecht⸗ 
| 9+ —_ 


liche Arbeit, mag es viele Mühe Foften, ober nicht. Sagt doch 
um Gottes willen, „wo ſteht es gefchrieben, daß biefed erlaubt 
ſey, daß ihr, zu diefer Ausnahme berechtigt ſeyd?“ Wollet ihr 
euch mit dem allgemeinen Beifpiele entſchuldigen? Ihr wiſſet 
ſelbſt, daß diefe Entfchuldigung im Gerichte Gottes nicht Statt 
findet. — Ihr faget: „Wenn man ed fo nicht macht, dann 
verliert man feine Kunden, dann bat man nicht mehr zu. le⸗ 
ben.” Und ich antworte im Namen bed Heren: „Wo ift denn, 
ihr Chriften, euer Vertrauen? ift Gott denn weniger ein Gott 
und Vater der Chriften, ald Er ein Gott und Vater der Ju⸗ 
den war? Es ift wahr, es fällt jebt Fein Manna mehr, fällt 
nicht mehr am vorhergehenden Tage in Doppeltem Maße. Hat 
aber der almächtige Gott nicht andere Mittel ‚euch zu unter 
halten? wird Er diefe Mittel euch verfagen, da Er dad Ber: 
bot hat beftehen laſſen; da Er allo gewiß dafür forgen wird, 
daß ihr daffelbe erfüllen koͤnnet? Molltet ihe noch fagen: „es 
ift eine Nothfache, die feinen Auffchub leidet?“ ach! ihr wiſſet 
ed felbft, was ed mit diefen Nothfachen für eine Bewandtniß 
bat, daß ihr oft etwas für Nothfahe audgebet, was ed nicht 
iſt, ober durch eigene Schuld etwas zur Nothfache machet, was 
ed an fich nicht war. Was verfichen wir unter Nothfache? was 
dürfen wir eine Nothfache nennen? — Merket wohl! erſtens 
eine folhe, die gar keinen Auffchub leidet, ohne dag für uns 
ſelbſt, oder für Andere ein bedeutender Nachtheil daraus her- 
vorginge; und zweitens eine folche, die unvermuthet kommt, 
fo daß es nicht möglich war; fie vorher zu fehen und vorher 
abzumachen; und zulegt eine foldhe, bie und nicht gaͤnzlich 
hindert an der Erfüllung jener unerläßlichen Plicht, wozu wir 
als katholiſche Chriſten verbunden ſind. 

| Nicht erlaubt iſt es Daher, fich felber allerhand Nothſa⸗ 
chen zu machen. Nicht erlaubt, und ein ſtrafbarer Mißbrauch 
iſt es, daß bei einem Gewerbe, welches ich nicht naͤher bezeich⸗ 
nen will, den ganzen Sonntag Morgen bis 10 oder 11 Uhr 
die naͤmliche knechtliche Arbeit, wie in den Wochentagen, ver⸗ 
richtet, und nur an ben beiden hoͤchſten Fefltagen des Jahrs 
eine Ausnahme davon gemacht wird, bloß um. fremder Sinn- 





18 — 


lichkeit und eigener Gewinnfucht genug zu thun. Wo flieht & - 
denn geichrieben, baß biefes erlaubt fey, wad fonft allgemein 
für unerlaubt gehalten wurde, was erſt feit einigen Jahren ein= 
geriffen iſt? Wahrhaftig, aus ber nämlichen Urfache, aus wel⸗ 
her dad Kaufen und Verkaufen auch nach menfchlichen Ges 
feten verboten iſt, aus ber nämlichen Urfache iſt und bleibt 
diefer Mißbrauch nach göttlihen Gefeben unerlaubt. Glaubet 
nur! ein folcher Gewinnft, auf eine ſolche unerlaubte Art, dem 
Verbote Gotted ganz zuwider, am Sonntage erworben, bringt 
den Segen Gottes nicht in’d Haus! Stehen wir nicht immer 
unter Gotted Hand? Kann Er und nicht auf allerhand Akt, 
durch allerhand Unfälle züchtigen, fo daß der Schaden und Nach⸗ 
theil weit größer wird, und durch jenen geringen, unerlaubten 
Sewinnft nicht erfeßt werben kann? Das aber bringt den Ges 
gen Gottes gewiß in's Haus, wenn man auf Gott vertrauel, 
und ganz gewifienhaft an Gottes Gebot fih halt. O, fo lafs 
fet euch denn nicht Hänger durch bad Beifpiel verführen! Das 
Beiſpiel iſt anfledend und verbreitet fi immer mehr. Und 
die Sleichgültigkeit gegen die Feier Sonntags, die leichtſinnige 
Uebertretung des göttlichen Werbots iſt gleichſam ein böfer Vor⸗ 
bote, dem Sittenlofigkeit, Unglaube und alled Werberben auf 
dem Fuße nachfolgen. Beeifere fich vielmehr ein Jeder, ohne 
Aufſchub abzuftehen von einer böfen Gewohnheit, die Gott nicht 
gefällt und Fein Heil bringt! Laffet und auch nicht nach ber 
Weiſe der Pharifäer daruͤber rechten und grübeln, welche Arbeit 
eigentlich eine Emechtliche zu nennen fey! Laffet und vielmehr 
achten auf die Abficht des göttlichen Verbots, nämlich: unfer 
Herz von ber. Sorge für das Zeitliche zu befreien, und ben 
Hang zum Gewinnſte zu unterbrüden! Nach diefer Regel müfs 
fen wir jebe Arbeit beurtheilen.. Wer daher im Dienfle ber 
Liebe, zum Beften feines Nächften, eine an. ſich auch ſchwere 
Arbeit, die aber nicht füglich Aufſchub leidet, verrichtet, der 
verfündiget fich nicht gegen diefes Verbot. Wer aber eine an 
fih auch leichte: Arbeit, aber bloß des Gewinnfted wegen vers 
richtet, der macht fich gewiß einer Sünde gegen dieſes Verbot 
ſchuldig. Soy daher nicht aͤngſtlich und unruhig, chriſtliche 


— 134 — 

Mutter, wenn du ein krankes Kind zu pflegen haft, welches 
beiner Gegenwart und Huͤlfe nicht entbehren kann; fey nicht. 
beforgt, wenn du einen Kranken: zu pflegen haft, deſſen Pflege 
ein Anderer nicht fo gut würde Übernehmen können, folltefl du 
auch am Sonntage einmal das Kirchengebot nicht erfüllen koͤn⸗ 
nen! Der Dienft der Liebe iſt wahrer Gottesdienſt wozu du 
in der Kirche dich ermunterſt, das erfülleft du jetzt im Haufe; 
und der Hear 3. C. hat den Audfpruch gethan: „Der Menfch 


ift nicht. um des Sabbats willen, fondern der Sabbat iſt um 
bed Menfchen willen.” 


IV. | 
Dem Verbote gemäß ruben alfo an dieſem age alle ges 
wöhnlichen Gefchäfte und Arbeiten; der Menſch, an biefelbe ges 
wöhnt, muß fie nun ruhen laſſen. Da fleht er nun, und hat, 
wie es fcheint, nichts zu thun. Was foll er nun? was will 
Gott jetzt von ihm? Sof er den Tag im Müßiggange zubrins 
gen? Das kann Gott nicht- gefallen. Muͤßiggang ift aller Las 
fer Anfang, kann Gott nit gefallen. Sol er denn biefen 
Tag bloß in finnlicher Luft und Freude zubringen? Leider gibt 
es viele Chriften, bie es durch ihr Betragen beweiſen, daß fie 
das . göttliche Werbot auf: eine folche verkehrte Art auslegen. 
Gibt ed ihrer nicht genug, welche bie Woche hindurch ein ziem⸗ 
lich ordentliches Leben führen, aber den Sonntag bush Trunk, 
Spiel oder andere Audfchweifungen zu entheitigen gewohnt find? 
Zunge Leute aus den arbeitenden Ständen, welche fogar ſchon 
om Morgen ded Sonntags, während ber Zeit, da in den Kirs 
hen Sottesbienft gehalten wird, burch Lärmendes Spiel und 
Trunk ihn entweihen; und ben Tag überhaupt fo zubringen, 
baß fie dem folgenden zur Arbeit noch unfähig find, und wies 
ber in neue Auöfchweifungen fich flürzen? gibt es nicht viele 
verheirathete Männer, die den Morgen dieſes geheiligten: Tages 
von einem Trinkhauſe in bad andere geben, den größten Theil 
des Nachmittags verfchlafen, um fobann dem Trunke nedy ein⸗ 
mal fich ergeben zu koͤnnen? Kann ein ſolches Leben, an einem 
ſolchen Tage geführt, vor Gott beſtehen? Gibt es nicht viele 


— 18 — 


Jungfrauen, welche auch am Sonntage bie meiſte Beit mit ber 
leichten, oft fehr verberblichen Leferei, hinbringen, welche an ben 
Wochentagen ihr gemöhnliched Tagewerk ift, welche daher am 
vorigen age Sorge tragen, um einen boppelten Worrath von 
biefem oft giftigen Manna einzufammeln, daß fie auch am 
Sonntage genug daran haben, welche fih nicht entſchließen 
Tonnen, wenigftend an diefem Tage mit einem geiftreichen, er- 
baulichen Buche ihr innerliches Leben zu nähren? Gibt es nicht 
viele dienende Jungfrauen, bie, anftatt ben nachmittägigen Got⸗ 
teödienft zu befuchen, gegen Wiffen und Willen der Herrſchaft 
in gefährliche Geſellſchaften fich begeben? findet nicht nur gar 
zu häufig an. dieſem geheiligten Zage die Unfchuld ihr Grab?- 

Mas tollen wir dann noch fagen von den raufchenden Er⸗ 
göglichkeiten, die gewöhnlich für den Sonntag. angeftellt wer 
den, und jo viele knechtliche Arbeiten von Vielen, die dazu vor- 
bereiten müflen, nothwendig machen, und Kopf und Herz ber- 
jenigen, die daran Theil nehmen, dem ganzen Tag über mit 
allerhand irdiſchen Gedanken erfüllen? fagen von jenen Luftbar- 
feiten, bie bloß zeitlicher Beweggründe wegen für ben; vorher: 
gehenden Abend angeftellt, und dann bis tief in ben Morgen 
bed Sonntags fortgefeht werben? Wenn dad nicht Mißbrauch, 
nicht gefebwidriger Mißbrauch iſt, was follen wir dann noch 
Mißbrauch nennen? — Man fagt zur Entichulbigung: „Er⸗ 
holung bebarf doch der Menfch, und in ben Mochentagen vere 
flattet der Beruf dazu Feine Zeit.” Mit diefer Entfchulbigung 
glaubt man fi) beruhigen zu bürfen, und beruft fich dabei 
noh auf den allgemeinen Gebrauch. Alfo dem zeitlichen Be 
rufe, des Arbeit für das Zeitliche. glaubſt du die Zeit nicht en& 
jiehen zu dürfen, und entziebft fie deiner allerwichtigften Art 
gelegenheit, dem Werke deines. Seelenheils, und vereitelft daf- 
felbe für Dich und ‚für mehrere Andere! weld eine Verkehrtheit 
des Sinned und der Denkungsart! Doc wir können nur kla⸗ 
gen uͤber ſolche Mißbraͤuche, dürfen eine Abſtellung, eine Ein⸗ 
ſchraͤnkung derſelben nicht einmal hoffen. Moͤgen aber diejeni⸗ 
gen, welche daran Theil nehmen, der Theilnahme ſich nicht ein⸗ 
mal fuͤglich entziehen koͤnnen, es wohl bedenken, daß ſie es auf 


18 — | 
ihrem Gewiſſen haben, baflır zu forgen, daß die Heiligung des 
Sonntags darunter nicht leide, daß fie nicht bloß Außerlich, 
fondern ‚innerlich im Geift durch Gebet, Vorbereitung und Vor⸗ 
ſatz jene Sonntage um deſto mehr zu heiligen haben, an deren 
Abenden dad Heil ihrer Seele fonft in mancherlei und nicht 
geringe Gefahren gerathen moͤchte! 


V. 


Was ſoll denn nun der Menſch an dieſem Tage? — 
Arbeiten ſoll er nicht, muͤßig gehen ſoll er auch nicht, den Tag 
in ſinnlichen Freuden und Ergoͤtzlichkeiten hinbringen, ſoll er 
auch nicht. Was ſoll er denn? — „Gedenke,“ ſpricht der 
Herr, „daß du den Sabbat heiligeſt; denn er iſt ein Ruhe⸗ 
tag des Herrn.“ Und ſo ſpricht der h. Geiſt zu uns in einem 
Pſalme: „Rubet aus, und ſchauet, weil Ich Gott, der Herr 
bin!" Zu Gott alfo, zu Gott fol unfer Geift und Herz ſich 
erheben; während unfer Leib ausruhet, fol unfer Geift für 
Gott und für unfer ewiges Heil thätig feyn, fol in Gott feine 
wahre Ruhe finden. An diefem age follen wir unfere große 
Beftimmung für bie Ewigkeit vecht zu Herzen nehmen; follen 
ed veiflich bedenken, wie wir biefer Beftimmung gemäß leben; 


oder nicht; wie wir vor. Gott ſtehen; follen uns felbft ermun⸗ 


tern, die begangenen Fehler und Abweichungen wieder gut zu 
maden, und in ber Folge zu vermeiden. Das ift, wie wir ed 
ſchon erfannt haben, bie weile, liebevolle Abficht, wozu Gott 
bie ‚Zeier dieſes Tages angeorbnet hat. Und zur Beförderung 
biefer Abfiht hat nun die Kicche ein bewaͤhrtes Mittel ges 
braucht, und bat bie Anhörung der h. Meſſe einem jeden ka⸗ 
tholifchen Chriften zur Pflicht gemacht. Heut verflattet ed die 
Zeit nicht, insbeſondere von ber Art zu reden, wie ber katho⸗ 
liſche Chrift dem Opfer der h. Meffe beimohnen fol. Wer da 
glaubt, ſchon genug zu thun, nur mit bem Leibe beizumohnen, 
wer bemfelben auf eine ſolche gleichgültige, wahrlich Argerliche 
Meile beiwohnt, als leider von vielen, auch von folchen Tatho= 
liſchen Ehriften gefchieht, die auf eine befondere Bildung Ans 
ſpruch machen, der bliebe wahrlich befler ganz weg. 











- 137 — 


Was follen wir dann von denjenigen fagen, welche oft 
aus den unbebeutendften Urfachen, bloß aus Gleichguͤltigkeit 
‚ und Nachläffigkeit, über das Kirchengebot ſich ganz hinwegſez⸗ 
zen, und fogar bie Anhörung der h. Meffe unterlafien? Iſt 
das nicht fchon Vorwurf genug für und, daß wir durch ben 
Zwang eines Gebot3 müflen hingetrieben werben zu dem, wozu 
die Dankbarkeit und Liebe und von felbft treiben ſollte; muͤſſen 
getrieben werden, um ber erneuerten Aufopferung 3. ©. zu 
unferem Helle beizumohnen, und und der Föftlichen Früchte ders 
felben theilhaftig zu machen; muͤſſen getrieben werden, um zu 
folgen Seiner liebreichen Einladung: „Kommet zu Mir, die ihr 
mühfelig und belaſtet ſeyd, Ich will euch erquiden!” — Und 
jeßt wird auch das fanfte, leichte und liebreiche Gebot der Kirche 


„leider Gottes von Vielen fo leichtfertig übertreten, von Vielen - 


fo wenig geachtet auf den Ausſpruch 3. C.: „Wer die Kirche 
nicht höret, der hoͤret Mich nicht!” Allwiſſender! Du weißt 
ed! von Vielen. Was ehedem nur ein Außerft feltener Kal 
war, was man nur aus ben wichtigſten Gründen fich geflats 
tete; was ehedem, wenn es von Iemand aus Gleichgültigkeit 
und Leichtfertigfeit gefchehen war, allgemein auf aͤußerſte vers 
abicheuet wurde; was, wenn es gefchehen war, auch ben Leichtes 
fertigften noch beunruhigte; das gefchieht jet ohne bedeutende, 
Urfache, ohne Unruhe von Vielen, und bienet wieder vielen 
Anderen zu einem verführerifchen Beiſpiele. Aber der himmli⸗ 
ſche Vater laͤßt es nicht unbeflvaft, wenn wir unfere Mutter, 
die Kirche, verachten und verſchmaͤhen. 

Zwar gibt uns das Kirchengebot fuͤr die Feier des Sonn⸗ 
tags nur die Vorſchrift, der h. Meſſe beizuwohnen: als aber 
jenes Gebot gegeben wurde, da war noch ganz allgemein der 
Gebrauch, waͤhrend des h. Opfers, naͤmlich unmittelbar nach 
Ableſung des Evangeliums, die Predigt zu halten. Deßwegen 
iſt in jenem Kirchengebot zugleich das Gebot, das Wort Got⸗ 
tes zu hoͤren, mit eingeſchloſſen. Wenn nun auch die Kirche, 
durch mancherlei Gruͤnde bewogen, von der Strenge dieſes Ge⸗ 
bots nachgelaſſen hat, ſo hat ſie doch immer mit dem groͤßten 
Ernſt und Rachdruck darauf gedrungen, daß die Gläubigen am 


I 


138 . 


Sonntage der chriſtlichen Lehre. ober Prebigt beiwohnen follen. 
Ohne bedeutendes Hinderniß zu haben, bürfet ihr daher, wenn 
ihr euerer Chriftenpfliht genug thun wollet, bie Anhörung bes 
göttlichen Worts nicht unterlaffen. 
Doch wir dürfen den Gläubigen biefer Stadt in biefem 
- Stüde keine Saumfeligfeit vorwerfen. Je größer aber ihr lo⸗ 
benswerther Eifer ift, den fie hierin beweifen, um deſto drins 
gender müffen wir fie noch zu einer Uebung ermuntern, treu 
mitzuwirken, damit das göttliche Wort in ihren Herzen Frucht 
bringe, Möchten fie daher wenigſtens am Sonntage mit ber 
Anhörung ber Predigt auch die Erforfchung ihres Gewiflens 
verbinden! Möchte ein Jeder darüber nachdenken, wie er die 
verfloffene Woche zugebracht habe, wie ex vor Gott gelebt, fein 
Gebet. verrichtet, wie er in und außer dem Haufe, im Ums 
gange mit dem Nächften fih betragen, wie er bie Pflichten 
feines Standes und Berufes erfüllet oder verfäumet habe, was 
überhaupt. vordefallen fey! Worin er fih ſchuldig fühlt, bars 
über erwede er eine herzliche Reue vor Gott, und fuche fich 
durch aufrichtigen Vorſatz gegen ähnliche Fehler und Sünden 
in der künftigen Woche zu fhügen! DO, m. 3.! fo laßt ed denn 
unfer größter Ernſt feyn, den Sonntag wahrhaft zu heiligen, 
alle Entheiligung deffelben duch Werke, die nur bed Gewinne 
led wegen geſchehen, ober durch ſolche Zerfireuungen, welche 
der Ruhe des Geifted hinderlich find, wenn auch das allgemeine 
Beilpiel fie zu rechtfertigen fcheinen möchte, auf alle Art zu 
vermeiden! Laffet und für wahre Heiligung dieſes Tages forgen 
dureh andächtige Beiwohnung bei dem h. Opfer, durch Anhoͤ⸗ 
sung bed göttlichen Worts, durch Erforſchung unfers Gewiſſens, 
durch Reue über die verflofiene, durch Vorſatz für die künftige 
Woche, durch Betrachtung, durch Leſung eined geiftreichen Bus 
ches, durch Werke ver Liebe gegen den Nächften, durch Befuch 
eined Kranken, fo wie auch durch eine anftändige Unterhaltung 
in Geſellſchaft mit Freunden oder Verwandten! Laflet. und ap 
Diefem Rage aller- Sorge für das Zeitliche, fo viel wie möge 
lich, uns entihlagen; unb wir werben von felbft und gebrun- 
gen fühlen, unfere ganze Sorge auf das Ewige, auf dad Heil 


/ 


DE ——— 


unſerer Seele zu verwenden! So wird unfer Gemäth zur Ruhe 
fommen. Und diefe koͤſtliche Sabbatsruhe wirb und einen Vor⸗ 
geſchmack geben von jener Ruhe im ewigen Sabbat, da allen . 
Drud, alle Sorge und Unruhe aufhört, da Feine Freude Ge⸗ 
fahr hat, da bie größte Freude und Seligkeit auch bie volls 
kommenſte Zugend feyn wird. Laſſet und hier in der Zeit die 
Sabbatsruhe fo fuchen und wirken, daß wir jene Ruhe von 

ewigen Sabbat finden mögen! Amen. 





Eitfte Rede 


Erſte Rede am achtzehnten Sonntage nach dem 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


* ert: 
Das Evangellum von dem großen Gebote. Matth. 22, | 
23—45. Marf. 12, 18—37. Luk. 20, 27 —4. 


Schema: 
Mublegung und Anwendung des Evans. 
geliums. | 


Uurer Heiland hat die Lehren und -Audfprüche, welche in dem 
heutigen Evangelium vorkommen, in ben legten Tagen Seines 
öffentlichen Lehramts verfündiget, als Er Seinen feierlichen 
Einzug in die Stadt ſchon gehalten hatte, und ſeitdem alle Tage 
zum Tempel kam und lehrte. Je näher die Beit kam, ba Er 
Sein Werk, welches der Bater Ihm aufgetragen hatte, durch 
Seinen Tod vollenden wollte, deſto wichtiger waren Beine Leh⸗ 
ven, deſto entſcheidender Seine Ausſpruͤche; jo näher die Zeit 
kam, da Iſrael Ihn verwarf, deſto beftimmter waren. Seine 
Ausfprüche über das endliche Schickſal dieſes Volks, welches 
daſſelbe durch Seine Werwerfung ſich bereitete: . So hatte Er 


— 19 — 


nach einer bedeutungsvollen und für Jedermann verftänblichen 
Parabel den fucchtbaren Ausſpruch gefhan: „Das Reich Gots 
ted wird von euch genommen, und einem Wolfe gegeben wer« 
den, welches deſſen Krüchte bringen wird.” NIS die Hohenpries 
ſter und Schriftgelehrten diefe Gleichniſſe hörten, und verflans- 
den, daß Er von ihnen redete, gingen fie von Ihm hinweg, 
und fuchten Ihn zu greifen, fürchteten aber dad Voll. Das 
Volk, welches beffer gefinnt war, als die Priefter nnd Schrifte 
gelehrten, blieb noch bei Ihm. Nun trug Ex dem Volle wies 
der bie nämliche Lehre vor von ber Berufung ber Heiden, in 
einer anderen Parabel, wobei Er die Abficht hatte zu lehren, 
was man thun, wie man gefinnt ſeyn müffe, um in das Reich 
des Meffind aufgenommen zu werben. Das that Er in ber 
Parabel von einem Hochzeitmahl, welches ein König feinem 
Sohne zu Ehren anftellte, an welchem ein Saft ohne hochzeits 
liches Kleid zu erfcheinen fich erbreiftete, und. deßhalb hinaus 
gefioßen wurde; ‘um zu lehren, daß nicht die Abflammung, 
fondern allein die Gefinnung zum Neiche bed Meffiad tüchtig 
und würdig mache. Diefe Parabel wird nach einigen Sonns 
tagen der befondere Gegenſtand unferer Betrachtung feyn. 


Durch alle diefe Reden, in welchen 3. ©, der Wahrheit 
Zeugniß gab, wurden nun alle Partheien aufs äußerfte gegen 
Ihn exrbittert, weil fie der Wahrheit ihr Herz verfchloffen. Alle 
Partheien, die fonft gegen einander die aͤrgſten Feinde waren, 
vereinigten fich jebt, und verfchworen fi gegen Ihn, um Ihn 
in der Rebe zu fangen und auf irgend eine Art einer Anklage 
ſchuldig zu finden. Zuerſt vereinigten ſich Pharifäer, dieſe 
firengen Gefeglehrer, mit Leuten, die e8 mit dem Gefehe gar 
nicht fo genau nahmen, mit Herobianern,. mit halb .ungläubis 
gen Hofleuten ‚eined übel berüchtigten Königs, mit leichtfertis 
gen Weltmenſchen, und legten Ihm die verfängliche Frage vor: 
ob es erlaubt ſey, dem Kaifer Zins zu geben? Wir kennen 
bie Antwort vol Weisheit und Liebe, die der Herr dieſen 
Männern gab, die da Tamen aus Zalfchheit und Tüde, um 
Ihn zu verfuchen. Rach einigen Sonntagen wird dieſe Ichre 














— 11 — 


reiche Unterrebung ber befonbere Gegenſtand unſerer Beirach⸗ | 
tung feyn. 


J. 


Als Jene ſich entfernt hatten, kamen, an dem naͤmlichen 
Tage, Sadducaͤer zu Ihm, ebenfalls, um Ihn zu verſuchen. 
Dieſe Freiglaͤubige, oder vielmehr Ungläubige, nahmen aus dem 
alten Teſtament nur die Buͤcher Mofed an, legten auch biefe 
aus nach ihrer Willkuͤhr, leugneten die Auferſtehung der Tod⸗ 


ten, und gingen fo. weit, daß ſie auch die Unfterblichkeit der 


Seele leugneten. Zu dieſen gehörten meiftend die Wornehmen, 
auch verfchiebene von den Prieflern, unter Anbern auch Kaiphas, 
der damalige Hoheprieſter. Sie wußten, daß der Herr fo oft 
von einem anberen Leben, vom Gericht und Vergeltung und 
von Auferfiehung der Todten geredet hatte. Nun erichienen fie 
vor Ihm mit vornehmer, verachtender Hoheit, und legten Ihm 
eine Frage vor, zu der Abfiht, Ihn und Seine Lehre lächer« 
lich zu machen. Es war ein lächerlicher Bau, welchen fie fi) 
ausgebacht hatten. „Meifter!” fprachen fie, „Mofes hat uns 
verordnet: Wenn Jemand's Bruder ftirbt, der ein Weib hatte, 
und derfelbe Beine Kinder hat, fo fol fein Bruder deſſen Weib 
nehmen, und. feinem Bruder Nachkommen erweden.” 5. Mof. 
23, 5—10. Nach dem Geſetze durfte eine folche Wittwe nicht 
jeden Anderen nah Willkuͤhr heirathen, fondern der unverehes 
lichte Bruder follte die Stelle des Verſtorbenen erfehen, bie 
Schwiegerin heirathen, und. den erfigeborsen Sohn nach dem 
Namen des verflorbenen Bruderd nennen Auf biefes Geſetz 
bezogen fi die Sadducaͤer, indem fie jetzt den Fall vorlegten: 
„Nun waren fieben Brüder; der erfle hatte ein Weib genommen, 
und flarb ohne Kinder. Und es nahm. ber Zweite das Weib, 
und flarb auch ohne Kinder. Und der Dritte nahm fie, deß⸗ 
gleichen auch alle fieben, und fie binterließen Feine Kinder und 
farben. Zuletzt nach Allen flarb auch dad Weib: Nun denn, 
bei der Auferfiehung, weflen Weib wird fie fepn? denn Alle 
haben fie gehabt.” Das Wort: Auferfiehung, bedeutet nicht 
bloß die allgemeine Auferhehung ber’ TSodten am jüngften Rage, 


— 12 — 


ſondern uͤberhaupt die Fortdauer in jenem Leben, welche die 
Sadducäer ebenfalld Ieugneten. Ihre Frage heißt alfo fo viel: 
„Weſſen Mannes Frau wird fie nach Deiner Lehre in jenem 
Leben ſeyn?“ Hätte die Frau in einer Ehe Kinder gehabt, fo 
war der Fall ſogleich entfchieden; da aber jede Ehe kinderlos 
. geblieben war, fo wurde der Fall ſchwierig. Obſchon ber Herr 
wußte, daß man nur gefragt hätte, um Ihn in Verlegenheit 
zu feßen, um Seine Lehre lächerlih zu machen; fo machte Ex 
ihnen doch keinen Vorwurf, und antwortete mit hohem Ernſt 
und mit -göftlicher Würde, und offenbarte hohe, himmlifche 
Dinge. „Ihr 'irret,“ ſprach Er, „ihr kennet die Schrift nicht, 
noch die Macht Gotteb:“ — Seine Macht, die Todten zu er⸗ 
wecken. „Die Sinder biefer Welt heirathen, und werben ver- 
heirathet. Welche aber würdig befunden -werden jener Welt 
und der Auferſtehung von den Todten, „welche nämlich in die⸗ 
fer Welt der Sünde abgeflorben find, und in jener Welt“ bei 
Gott find, Gott ſtets ähnlicher werden, und bereinft in einem 
verklärten, unfterblichen Leibe auferficehen werden; „die werden 
nicht heirathen, noch vwerheirathet werden, denn fie koͤnnen hin⸗ 
fort nicht ſterben.“ Dort wird Feine Ehe feyw, weil Alle um: 
flerblih find, weil Teine Fortpflanzung, alfo Feine Ehe mehr 
nöthig iſt; „weil fie den Engeln gleih und Gotted Kinder 
find... Das fagte der Herr, weil die Sadducaͤer auch das 
Daſeyn ber Engel Teugneten. Und wie fehr hat Er unfere 
"Hoffnung für das ewige Leben erhoben, durch biefe Verheißung, 
Daß wir den Engeln gleich ſeyn ſollen! 

So hatte der Here den Sabducäern gezeigt, daß fie fich 
eine ganz irrige Vorſtellung von jener Welt machfen, und deß⸗ 
wegen: an die Fortdauer derſelben gar nicht glauben mwellten. 
Damit fie Ihm aber mit bloß auf Sein Wort glaubten, über- 
"führte Er fie jest aus den Büchern Mofes ſelbſt, die fie doch 
für göttlich annahmen, daß ihre Lehre Irrthum Fey. Er ſpricht 
daher: „Daß aber die Todten auferſtehen, hat auch Mofes ges 
zeigt beim Buſch, weil er den Herm nennt: den Gott Abras 
hams, und den Gott Iſaaks, und den. Gott Jakobs.“ Bott 
aber iſt nicht ein Gott der Todten, fondern bes Lebenden ; 








— Mm — 


denn Ihm leben -fie Ale.” So heißt ed 2.Mof. 8, 6 u. 1%: 
„Sage zu den Kindern Iſraels: Jehovah, der Gott euerer Wär 
ter, der Gott Abrahams, und der Gott Iſaaks, und der Got 
Jakobs fendet mich zu euch: das ift Mein Name in Ewigkeit, 
fo ſoll man Mich nennen auf Geſchlecht und Geſchlecht.“ Diefe 
Dffenbarung von Gott wurde von den Juden: ald die größte. 
von allen, als der Grund und Inhalt aller Offenbarungen 
über Gott angefehen. Wie Sott lange Zeit nach dem Rode 
jener Patriarchen noch ihren Gott Sich nennt; liegt darin nicht 
die Wahrheit, daß fie nod am Leben find, obfchon fie geflore 
ben find? Wie Eönnte Gott mit Wahrheit ihren Gott, — 
alfo ‚ihren Vater und Beſeliger Sich nennen, wenn fie nicht 
mehr wären? wie koͤnnte Gott fagen, niht: — Ich war ber 
einft, als fie lebten, ihr Gett, fondern: Ich bin ihre Gott, 
wenn fie nichtö, ald Staub und Moder wären ? — Uebrigens 
iſt die Beſchaffenheit des kuͤnftigen Lebens ganz anders, als 
der ſinnliche Menſch ſich es vorſtellt. Die Kinder der Aufer⸗ 
ſtehung, naͤmlich diejenigen, die J. C. zur Theilnahme an 
Seinem Leben auferwecken wird, ſind von ganz anderer Natur, 
als ſterbliche Menſchen. Ihre Beduͤrfniſſe und Kräfte find von 
denjenigen, welche in biefem gegenwärtigen Leben in uns ſich 
entwidelen, ganz verfchieben. Sie wiflen nichts mehr von ſinn⸗ 
lichen Beduͤrfniſſen, und find den Geſetzen bes Eheſtandes nicht 
unterworfen, obſchon eine viel innigere und geiftigere Gemein- 
ſchaft, als bier in der Ehe möglich if, unter ihnen Statt findet. 
Sie haben Feinen Sinn mehr für Alles, was ſinnlich, vergaͤng⸗ 
lich und flerblich if. So wie ber finnliche Menſch keinen Ges 
ſchmack hat an geifligen und göttlichen Dingen, welde auf die 
unfichtbare, ewige Welt ſich beziehen, fo bat ber Unfterbliche 
Fein Auge, fein Obr, einen Sinn mehr für dad, was ſinn⸗ 
lich und vergänglich if. Sie find lauter Geift und Leben. 
Ihr Geift ift bloß auf unvergängliche, ewige Dinge gerichtet; 
fie_find felig in der Anſchauung biefer ewigen Dinge, die Fein 
menschliches Auge fehen, Bein menſchliches Ohr vernehmen, wos 
von Fein menfchlidies Herz etwas ahnden kann. Sie find den 
Engeln Gottes gleich — rein, herrlich, unfterblih, felig. Die 


. \ 


Bande des Fleiſches und Bluts werben in. jener Welt aufhören, 
möüffen aufhören; aber bleiben werben bie Bande ber Liebe, jener 
heiligen, reinen Liebe, womit die Engel im Himmel unter einan⸗ 
der verbunden find. Was bedürfen wir mehr, um verfichert zu 
feyn, daß wir und in jenem Leben wieder fehen, wieder erkennen, 
wieder lieben werben in ewiger, beiliger Liebe! daß wir dort 
feyn werden, wie die Engel Gottes, in ewiger Jugend, in 
ewiger Unſchuld, in ewiger Liebe und Seligkeit? Als Einer, 
Der Selbft aus jener Welt herüber gelommen iſt, Der ihre 
Berfaffung genau kennt, Der nur erzählt, was Er Selbſt ge⸗ 
hört und gefehen hat, fpricht unfer Herr und Heiland. Diefe 
für und Alle über unferen Zufland in jener Welt fo berubi- 
‚gende und erhebende Verheißung gab 3. C., ald Menichen voll 
Stolz und Duͤnkel ſich erfrechten, Ihm eine fpikfindige Frage 
vorzulegen, um Ihn laͤcherlich zu machen. So ſtreuete Er gu⸗ 
ten Saamen aud, welcher, ſo lange die Welt ſteht, gute Frucht 
- bringt, und Troſt und Ruhe wirkt in fo vielen Seelen, waͤh⸗ 
rend man Ihn von allen Seiten anfeindete und verfolgte. 
Einige von ben Schriftgelehtten, die dabei flanden, waren 
ganz übereinflimmend mit der Antwort, Die der Herr den Sab- 
ducaͤern gegeben hatte, und fprachen zu ihm: „Meifter! Du 
haft recht gefprochen.” Die Schriftgelehrten waren Phariſaͤer; 
ihre Lehre war Eehre bed Volks, war Lehre der Synagoge. Sie 
Iehrten Unfterblichleit der Seele nach) dem nämlichen Ausſpruche 
in ben Büchern Mofes, welchen ber Herr angeführt hatte, bar: 
um flimmten fie Ihm jest bei, und freueten fi, daß Gr ihre 
‚Gegner und Feinde, die Sadducaͤer, zum Schweigen gebracht 
‚hatte. „Und das Volk ſtaunte uͤber Seine Belehrung.“ Matth. 
‚22, 33 und 34. 


IL, 

Das ift nun, m. 3., demjenigen, was wir in bem heuti⸗ 
gen Evangelium lefen, unmittelbar vorhergegangen. Da ber 
Herr die Sadducaͤer zum Schweigen gebracht hatte, verſammel⸗ 
‚ten fich Die Pharifäer wieder, um noch einmal einen Verſuch 
zu machen, Ihn in der Rede zu fangen. In Seiner Antwort 








— 145 — 


an die Sadducaͤer hatte der Herr bewieſen, wie genau Er mit 
‘dem Gefege bekannt fey; barlıber wollte ein Schriftgelchrter 
Ihn noch fehärfer prüfen, und legte Ihm daher eine Frage vor, 
auf welche man Feine Antwort geben Tonnte, ohne mit dem 
ganzen Inhalt des Geſetzes auf’ genauefle befannt, ohne in 
den Geiſt des Geſetzes auf's tieffte eingedrungen zu ſeyn. 

„Und einer aus ihnen, ein Lehrer bed Geſetzes, fragte und 
verfuchte Ihn, und fprah: Meifter! welches ift das größte 
Gebot im Geſetze?“ Diefem Schriftgelehrten in Serufalem 
mußte die Antwort nicht befannt geworben feyn, welche der 
Herr auf eine ähnliche Frage nicht lange Zeit vorher in Galis 
läa einem anderen Schriftgelehrten gegeben hatte; fonft würde 
er jetzt dieſe Frage nicht wiederholet haben. Ohne an der Abs 
ſicht des Fragenden Anſtoß zu nehmen, gab der Herr die Ants 
wort: „Das erfte Gebot von allen iſt: Höre Iſrael, der Herr, 
dein Gott, iſt ein Einiger Gott. Und bu ſollſt den Herrn, 
deinen Gott lieben von deinem ganzen Herzen, von deiner gan= 
zen Seele, und von deinem ganzen Gemüth, und aus beiner 
ganzen Kraft.” So fleht es im 5. Buche Moſes, 6, 4— 5. 
„Diefes ift das erfte Gebot. Das andere ift dieſem gleich: 
Du fonft deinen Naͤchſten lieben, wie dich ſelbſt;“ wie es 
heißt im 3. Buche Moſes, 19, 18. „Es if,” ſagt 3. C., 
„kein größeres Gebot, als diefe. An diefen zwei Geboten pängt 
das ganze Geſetz und die Propheten.“ 

Was nun der Herr Selbſt nicht nur fuͤr das groͤßte, ſon⸗ 
dern ſogar fuͤr den Inhalt aller Gebote erklaͤrt hat, das ver⸗ 
dient wahrlich am meiſten unſere ganze Aufmerkſamkeit und 








unſer ernſtliches Nachdenken. Es iſt ja, als wenn Er zu uns 


geſprochen haͤtte: „Wenn du nur dieſes Gebot weißt, und dar⸗ 
nach thuſt, ſo haſt du alle Gebote erfuͤllet, ſo haſt du deine 
Beſtimmung fuͤr dieſes und das künftige Leben erreicht; fo. 
wirft du hier gut, und bereinft ewig felig werden.” Und ber 
Herr hat Sich auf dieſes Gebot ded alten Bunbes nicht bloß 
berufen, Er Serbft hat ed gegeben, Er Selbft war des Ge- 
feed Urheber; was Er deieinft auf dem Berge Sinai unter 


Donner und Blitz mit ſurchtharer deierlichkeit verkuͤndigte, hat 
ar Thl. te Aufl. 10 


— 16 — 

Er in demuͤthiger Knechtsgeſtalt als Menſch unter Menſchen, 
Seinen Brüdern, mit liebevoller Herzlichkeit bekraͤftiget. Laſſet 
und daher jetzt auf Seinen großen Ausſpruch unfer ernftliches 
Nachdenken richten! 

Auch zw und fpriht Er: „Höre, o Menfch! der Herr, 

dein Gott, ift ein Einiger Gott.” Wie es nur Einen Gott 
gibt, von Dem du bein Dafeyn, von Dem du Alles haft, was 
du haft, und was du biſt; wie ed Fein anderes Weſen gibt, 
von welchem du fo abhängig, mit welchem du fo innig verbuns 
den bift; fo folft du Ihm mit deinem ganzen Weſen angehoͤ⸗ 
ven. Und wie dein Gott, der Einige Gott, dir aus Liebe das 
‚ Dafeyn, und alles, was du haft, und wad du bifl, gegeben hat; 
fo foüft du Ihm mit deiner ganzen Liebe angehören, fol Ihn 
einzig und über Alles lieben. 
Der Ausſpruch ift ein Gebot, welches vorfchreibt, was ges 
fchehen fol. Wer hat das Gebot gegeben? der allmächtige 
Schöpfer Himmeld und ber Erbe, der weifefte Gefeßgeber, Der 
bei allen Seinen Vorſchriften und Geboten nur das wahre 
Wohl Seiner Gefchöpfe zur Abficht hat, Deffen Gebote Weis: 
heit und Liebe find. 

Wem hat Gott das Gebot gegeben? dem Menſchen, 
Seinem geliebten Gefchöpfe, Seinem Ebenbilde. Wo der Herr 
gebietet, muß der Knecht geboren; wo der allerhöchfte Obere 
"Herr gebietet, muß der Untertban gehorchen; wo der allmächtige 
Schöpfer gebietet, muß dad Gefchöpf gehorchen; wo ber weifefte 
Geſetzgeber zum Bellen des Menſchen gebietet, muß der Menfch 
bereitwillig gehorchen; wo der liebreichfle Water gebietet, muß 
das Kind mit Freuden gehorchen. — 

Was hat Gott in dieſem Gebote geboten? — Liebe. 
Wie Gott die Liebe ſelbſt iſt, ſo kann Gott nichts, als Liebe 
gebieten, fo muß Alles, was Gott gebietet, aus Liebe hervor⸗ 
gehen und zur Liebe führen. Und es brauchte dem Menfchen 
nicht erflärt zu werden, worin bie Liebe beſtehe. Gott, die Liebe 
ſelbſt, hat den Menfchen zur Liebe erfchaffen, hat unfer ‚Herz zur 
Liebe erfchaffen. Darum find wir angewielen an unfer eigenes 
Hay um zu erkennen, was die Liebe iſt. Wer ſie dort nicht fin- 











— 141 — 
det, dem kann fienicht erftärt ober befchrieben werben, eben fo wes 


‚nig, wie man dem Blinden eine Erklärung von Farben, dem Raus 
ben eine Erfiärung von Gefang und von Tönen geben kann. Liebe 


ift das dringendfle Beduͤrfniß für des Menfchen Geift und Herz, 
wie der Genuß von Nahrung für feinen Leib. Zum Wohl: 
wollen, nicht zum Uebel⸗ und Boͤſewollen ift der Menſch ges 
fchaffen und gebildet; und der Ausbrud, die Aeußerung feiner 
wohlmwollenden Geſinnung ift Liebe. Zwar tft die Liebe nicht 
ohne die größte Hochachtung, nicht ohne Lie tieffte Ehrfurcht; 
aber die Liebe ift mehr, als Hochachtung und Ehrfurdt. Der 
Liebe iſt ed eigen, dem Geliebten auf die vertraulichfte Art ſich 
zu nähern und inniger anzufchlicßen, ihm ſich ganz hinzugeben, 
Alles mit Zuverficht von ihm zu erwarten, zu fireben, ihm ähns 
lich zu werden, mit ihm gleihfam zu Einem Weſen fih zu 
vereinigen. Die Liebe if alfo das innigfte, vertraulichfte Wer 
haͤltniß unter allen, die ed nur geben fann. 

Ben foll nun der Menfch lieben? — Gott. Welch ein 
unenblicher Abfland zwifchen Gott und dem Menfchen, zwifchen 
dem allmächtigen Schöpfer und dem Gefchöpfe, zwifchen dem 
Herrn aller Welten und dem Wurm, der im Staube kriecht! 
Und mit diefem großen Gott, diefem allmaͤchtigen Weltenfchöpfer 
fol der Menſch, Sein Geſchoͤpf, in einem fo vertraulichen, in⸗ 
nigen Verhaͤltniß ſtehen dürfen, fol mit Ihm, wie mit feined 
Steichen, umgehen dinfen, fol Ihn Water nennen dürfen, ſoll 
mit Eindlicher Zuverficht Alles von Ihm erwarten dürfen, foll 
fireben dürfen, Ihm ähnlich zu werden, ſoll verlangen dürfen 
das Höchfle: daß Bott auch ihm Sich hingebe, Toll verlangen 
dürfen, mit Gott auf's innigfte, wie zu Einem Wefen vereini⸗ 
get zu werden! Wahrlich, das ift Fein Gebot zu nennen! das 
ift des Menfchen Höchfte Würde, iſt feine größte Begnabigung 
und Verherrlichung. 

Und wie fol der Menfch Gott lieben? — Dad Gebot, 
wenn man es noch. ein Gebot nennen fol, weifet uns bin auf 
unfere innere Natur; benn bie Liebe ift innerlich, hat in unfe- 
tem Inneren ihren Sig und Urfprung Wenn der Menſch 
feine Liebe auf den großen Sort richten darf und ſoll, ſo muß 

10* 











_ 18 — 


er Ihn auch lieben, wie. ed nur immer In feiner Macht flcht, 
muß mit feinem ganzen inneren Weſen Ihn lieben. Das ift 
‚nun ganz beutlich audgefprochen in dem Gebote, worin das 
‚ganze Weſen unſerer innerlihen Natur ausdruͤcklich beftimmt 
iſt, in den Wörtern: Herz, Seele, Gemüth, Kraft. Wir müffen 
alfo uͤber den Sinn und die Bebeutung diefer Wörter noch et⸗ 
was nachdenken; es iſt das größte, es ift der Inhalt aller Ge⸗ 
bote; darum müffen wir ſorgfaͤltig daruͤber nachbenfen, weil uns 
Alles daran gelegen ſeyn muß, daſſelbe richtig zu verflehen, da 
wir unfer ganzes Leben darnach einrichten müffen. 

Unfere ‚Seele befigt zwei Haupt oder Grundkäfte, eine 
Kraft ober Vermögen, zu wollen, welches man auch den Wil: 
Jen nennt; und eine Kraft oder ein Vermögen, zu erfennen, 
welches man aud die Vernunft, oder auch den Verſtand nennt. 
Das Vermoͤgen, zu wollen, oder der Wille aͤußert ſich auf 
zweierlei Art, und zwar ſo, daß derſelbe als ein zweifacher 
Wille in und erſcheint, daß man deßwegen mit Recht den einen 
‚den höheren, den anderen den niederen Willen nennt. Sener, 
der höhere Mile, ift immer auf dad gerichtet, was gut, was 
loͤblich, was ehrbar ift, was den Menfchen beffer, reiner, heiliger 
‚macht, ift daher immer auf Gott und Gottes Willen gerichtet, 
‚um denfelben zu erfüllen. Der niedere Wille richtet fich bloß 
nach dem, wad angenehm ift, was Lufl und Vergnügen, ober 
. auch Nuben und Vortheil verfpricht; darum beißt er auch ber 
niedere, weil die Beweggründe, wodurch berfelbe ſich beſtimmen 
laͤßt, von nieberer Art find. Der höhere Wille richtet ſich nach 
dem, wad Gott will, was und beffer macht. Der niedere Wille 
richtet. fich nach dem, was angenehm oder vortheilhaft if. Auf 
diefen doppelten Willen deutet ganz beſtimmt ber Apoftel Pau- 
lus, indem er ſpricht: „Ich habe Wohlgefallen an dem. Gefege 
Gottss, nach dem inneren Menfchenz ich fühle aber ein ande⸗ 
red Gefeg in meinen Gliedern, welches entgegenftreitet dem 
Geſetze meines Geiftes, und mich unterjocht dem Gefehe ber 
Suͤndlichkeit, da8 in meinen Gliedern if.” Roͤm. 7, 2 —23. 
. Der niebere Wille muß alfo vorzüglich bewegen der niebere 
genannt werden, weil derſelbe und oft in die Irre führt, zum 








— 18 — 
Boͤſen verleitet, mit dem hoͤheren Willen, ſelbſt mit dem Wil⸗ 
len Gottes im Streite iſt. Das andere Haupt⸗ und Grund⸗ 
vermoͤgen unſerer Seele iſt das Vermoͤgen, zu erkennen, wel⸗ 
ches man auch nach ſeinen verſchiedenen Aeußerungen Vernunft 
oder Verſtand, auch wohl unſeren Geiſt nennt. Durch dieſes 
Vermoͤgen allein ſind wir im Stande, Gott und Gottes Wil⸗ 
len zu erkennen; dieſes Vermoͤgen muß alſo ebenfalls im 
Dienſte der Liebe ſtehen, weil wir nicht lieben koͤnnen, was wir 
nicht einmal erkennen. Auf dieſes Vermoͤgen deutet der Apoſtel 
Paulus, da er ſpricht: „Ich habe Wohlgefallen an dem Ge⸗ 
ſetze Gottes, nach dem inneren Menſchen.“ — Zuletzt hat Gott 
uns auch einen Leib gegeben, welcher aber als der geringere 
Theil im Dienſte der Seele ſtehen muß, gehorchen muß, wenn 
die Seele gebietet, ausfuͤhren muß, was die Seele fordert. Mit 
den aͤußerlichen Sinnen und Werkzeugen des Leibes verrichten 
wir nun allerhand. Handlungen und Werke, die aber mur allein 
dadurch Werth erhalten,: wenn fie im Dienſte der Wernunft 
und. des höheren Willens ſtehen, wenn fie. von Gott audgehen,; 
und auf Gott und Gottes Willen gerichtet find. Auch darauf 
deutet der Apoſtel Paulus, da er ſpricht: „Eſſet ihr, oder trin- 
fet ihr, ober -thut ihr was Anderes; thut Alles zur Ehre Got- 
tes!“ 1. Cor. 10,.81.. „Alles, was ihr thut in Wort und 
Berk; Dad thus Alle im Namen des Herrn Jeſu Chrifli, dan- 
kend Gott und dem. Väter durch Ihn!” Coloſſ. 3, 1... 
Laffet und nun auf dad große Gebot wieder zurückkehren, 
welches wir jebt, nachdem. wir dad Weſen unferer -inmerlichen 
Natur genauer betrachtet baden, leicht werden verftehen koͤnnen. 
Zuerſt heißt. es: „Du ſollſt Gott lieben von deinem gan 
zen Herzen.” Das Herz, von Zleifch, ift der edelſte und vor- 
nehmfte Theil unferes Leibes, ift der Sit und die Quelle des 
Lebens. Dieſes Herz, von Fleiſch ſoll uns alfo Wild feyn von 
dem vornehmften und. ebelften Vermögen. unſeres Geiftes, naͤm⸗ 
lich des Willens, . des höheren: Willens. Diefer Wille ift die 
Duelle ‚alles geiftigen Lebens, ift ed, ber allen übrigen Kräften 
ihre Richtung und. Berrichtung anmeifet, ifl in und der gebie⸗ 
tenbe Herr, nach defjen Wink und Ausſpruch die ganze Thaͤtig⸗ 


y 
mais 150 — 


keit aller übrigen Kräfte ſich richten fol. Nicht Zwang und 
Nöthigung, fondern die Liebe fol diefen Willen, ber frei ift, 
in Thaͤtigkeit fegen und befländig erhalten. Aus herzlicher 
Anhänglichkeit, aus kindlichem Vertrauen, aus Freude an Gott 
und Gottes Willen, ſollſt du wollen, was Gott will, Alled, was 
du willſt, fol du wollen aus Liebe zu Gott. Das heißt: 
„Du ſollſt Gott lieben von deinem ganzen Herzen.” 

Du folft Gott lieben von deiner ganzen Seele!” Das 
ort: Seele, hat in ber h. Schrift oft verſchiedene Bebeutuns 
gen. Es wird oft genommen in einem höheren Sinne, und 
‚ bedeutet dad Ebenbild Gottes, in weidhen die heiligmachende 
Gnade die Duelle des höheren geifligen, göttlichen Lebens if. 
Es wird auch genommen in einem niederen Sinn, ald Quelle 
des bloß finnlichen Lebens, und daB ift der niedere Wille, wel⸗ 
er fi) nur durch dasjenige, was in die Sinne fällt, was ans 
genehm oder. unangenehm ift, beſtimmen, und in Bewegung 
fegen läßt. In diefem Sinne wird ed, wie aus dem Bufams 
menhange fich ergibt, in dem großen Gebote gawmmen. „Du 
font Gott lieben mit deiner ganzen Seele!" Heißt alſo: auch 
mit deinem ganzen niederen Willen ſollſt du Sott lieben; du 
ſollſt dich durch das Angenehme oder Unangenehme, durch Vor⸗ 
theil oder Nachtheil nur in ſo fern beſtimmen laſſen, als es mit 
dem Willen Gottes in Uebereinſtimmung iſt; der obere Wille, 
der nur auf Gottes Willen achtet, fol in dir bie Herrſchaft 
führen; der niedere ſoll ihm uͤberall gehorchen; die Liebe Got⸗ 
tes fol dich antreiben, ſoll dir Kraft geben, dieſen niederen 
Willen, wo er gegen den Willen Gottes ſtreitet, zu bekaͤmpfen 
und zu unterjochen, ſo daß auch dieſer Wille nur durch die 
Liebe Gottes ſich beſtimmen laͤßt, nur das Angenehnie dei Vor⸗ 
theil will, weil, und in fo fern Gott es will; nur bad: Unan⸗ 
genehme, den Nachtheil verabfcheuet, weil, und fo fern Gott es 
nicht will; dad Angenehme, den Vortheil fich verfagt, ſobald 
ed mit dem Willen Gottes fireitetz dad Unangenchme gern 
übernimmt, den Nachtheil gern erduldet, fobald der Wille Got: 
ted ed fo fordert; allen Werhängniffen und Fuͤgungen Gottes 
in Zreude und Leib bereitwillig ſich unterwirft. Die Liebe 











— BL — 


Sottes fol alfo Über den Menfchen mehr vermögen, ald alle ' 
Luft der Welt, ald alle Reize der Sinnlichkeit; die Liebe Got- 
tes fol den niederen Willen bändigen und in Zucht nehmen, 
dog er mit dem höheren Willen. zum Dienfte der Liebe fich 
vereinigetz das beißt: „Du ſollſt Sott lieben von deiner gan 
zen Seele!” 

Berner heißt. es in dem großen Gebote: „Du ſollſt Gott 
Heben von deinem ganzen Gemuͤthe!“ In der Srundfprache iſt 
mit bem Worte, welches wir im Deutfchen dad Genrüth nen⸗ 
nen, ganz beſtimmt das Greenntnißvermögen ausgeſprochen. 
Zwar Finnen wir mit Vernunft und Verſtand eigentlich nicht 
lieben, die Biebe- kommt aus’ dem Herzen, ans dem Willen. 
Aber die Vernunft ift und bazu gegeben, um Sott, und Den 
Er. gefanbt Hat; J. C. Seinen eingebornen Sohn; unferen Herrn 
und Heiland, und Seine h. Religion zu erkennen, und uns von 
ihrer göttlichen Wahrheit zu -Aberjeugen. Die Vernunft führt 
uns zum Stauben, und, wenn fie und zum Glauben geführt 
bat, dann unterwirft fie ſich dem Glauben, auch dann, wenn 
derſelbe dehren verkuͤndiget, die uͤber ihren Begriff find; fie 
führt uns zum Glauben, und durch ben Glauben zur Liebe 
So fleht fie dann ebenfalls im Dienfte der Liebe, indem fie 
uns Gott ald bei Lichenswärbigften, ala bie Liebe felbft, und 
das Verhaͤleniß Gottes zu und Meilen nis den unerforſchli⸗ 
den Rathſchluß der göttlichen Barmherzigkeit und Lebe zu er 
kennen gibt. In dieſei Dienfte der Liebe bejicht fie alle ihre 
Sremntntife auf Goti als auf die Urquelle deſſen, was wahr 
und gut, wad ſchoͤn und vortrefftich iſt; iſt Ahr‘ ganzes Stre⸗ 
ben auf die Eins Eikenntniß gerichtet, die und am meiſten noth⸗ 
wenbig iſt auf· wie‘ Erkenntuiß Gottes und J. E., in Welchem 
die Fuͤlle der Gottheit wohnt; achtet ſie alle übrigen Erkennt: 
niſſe gegen dieſe Eine Eckenntniß für’ nichtd, wie der Apoftel 
Paultis fi ſpricht: „Jeh begehre nichis zu wiſſen, als J. C., Ihn, 
den Gekreuzigten.“ j. Cot. 9’2. „Ich erachte Lilles fuͤr Ver⸗ 
luſt, uns bee! Alles uͤbertreffenden Erkenutniß J. C., meines 
Herrn wegen. Phal. 3, 8. Dt: Einem Wort: im Dienſte 
der Liebe verwendet die Vernunft ihre ganze Kraft, um uns 





— 18 — 


Gott und Seinen h. Willen zu erkennen zu geben, um und 
immerbar Anweifung und Antrieb ‚zu geben, Gottes Willen mit 
gewiffenhafter Treue zu erfüllen. Das beißt: „Du follft Gott 
lieben von deinem ganzen Gemuͤthe.“ 

Zuletzt heißt ed in dem großen Gebote: „Du ſollſt Seit 
li ben aus deiner ganzen Kraft!“ Dieſes bezieht ſich auf die 
Kraͤfte unſeres Koͤrpers, mit dem und deſſen Werkzeugen wir 
alle unſere aͤußerlichen Handlungen und Werke verrichten, welche 
nur in fo fern Werth haben, als fie von der Liebe ausgeben. . 
Diefe Werke machen unſeren Außgrlichen Wandel qus. „Du 
ſollſt Gott lieben aus deiner ganzen. Kraft!” heißt alfo: „Du 
folft deine Liebe Gottes auch durch deinen aͤußerlichen Wandel 
beweifen; jedes beiner Werke ſoll heine Liebe Gottes zu erken⸗ 
nen geben;, „daß,“ wie der Apoſtel Paulus fagt, J. C. vers 
herrlichet werde an meinem ‚Leibe, ſey es durch's: Leben, ſey es 
durch den Tod.“ Phil. 1, 20. Wir lieben Gutt durch unferen 
aͤußerlichen Wandel, mit allen Kraͤften unſers Leibes, wenn 
wir Ihn lieben mit allen Kräften unſerer Seels · Nohdem 
alſo in den vorhergehenden Ausſpruͤchen die einzelnen Grund⸗ 
kraͤfte unſerer Seele genannt waren; werben daher in dieſem 
letzten Ausſpruche alle Kraͤfte unſers Leibez ſowohl, als unſerer 
Seele, in Eine ‚Kraft zuſammengezogen; darum beißt es, m 
den Nachdruck zu verſtaͤrken: „Du ſollſt Gott Heben: aus: dei⸗ 
ner ganzen. Kraft!" Der ganze Menfch, ſowohl geiſtig, als Ehre 
perlih, fol alfo der Liebe Gottes gewidmet ſeyn. Du ſollſt 
alfo Gott Lieben mit deinem ganzen Willen, mit Deinem gan⸗ 
zen Begehren, mit deinem ganzen Erkennen, mit. deinem gan⸗ 
zen Außerlichen Wandel; bein: innerliches und aͤußerlicheb Leben 
ſoll der Liebe Gotted gewidmet feyn,. dein gan? Beben ſoll cn 
Leben der Liebe fen! 

Das fol es feyn, das ift unſere Beſtlimung!. und was 
iſt es? was iſt unſer Leben? — Ach Gott! wir koͤnnen nur 
reumuͤthig ſeufzen: „Sey uns armen Suͤndern gnäbigl“ wir 
koͤnnen nur flehentlich bitten: „Entzunde Du in uns da& Fenuer 
Deiner Liebe!” Der. Herr fagt: „Dieſes iſt das erſte Gebot.“ 
Nicht nur. das voruehmfte Gebot iſt dieſes Gebot ber Liebe 














-ı0-— 


Gottes, denn das andere, ſagt Er je, iſt biefem gleich 3. es iſt 
das erſte, welches allen anderen vorhergeht, ohne deſſen Erfuͤlb⸗ 
lung kein anderes Gebot wahrhaft erfüllt werden. kann. 

Das andere. ift dieſem gleich: „Du ſollſt deinen Naͤchſten 
lieben wie bich felbft! Es ift Fein größeres Gebot, als dieſes.“ 
Marc. 12, 31. So iſt denn in dieſem Gebote die wahre Got⸗ 
tes⸗, Selbſt⸗ und Naͤchſtenliebe in unzertrennlicher Verbindung 
ausgeſprochen. Gott liebt den Menſchen mit unendlicher Liebe, 
liebt ihn, als Sein Ebenbild. Vorzuͤglich in dem Menſchen, 
Seinem Ebenbilde, will Gott. geliebet ſeyn. Wer wahrhaft 
liebt, Tann Mies. Mer Gott und Sein Ebenbild, den Mens 
ſchen liebt, hat das ganze Geſetz erfuͤllet; der kann nicht füns 
digen, ber kann nichts, ald Gutes wollen und Gutes thun. 
Wie unfere Liebe, fo. auch umfere Religion, fo unfere Zugend, 
fo unfere fittlihe Vollkommenheit, fo. die Seligfeit unferd Geis 
ſtes in der. gegenwärtigen.und in.des zukünftigen Welt. \ 

Sogar jener .Schriftgelehrte, der doch nur gefragt hatte, 
um den Herrn zu verfuchen, fand fich. getroffen von ber Wahr⸗ 
beit Seiner Lehre, und. ſprach zu Ihm: „Wohl, Meifter!, Du, 
haſt nach der Wahrheit geredet, daß nur Ein Gott if, und 
kein Anderer außer Ihm. Und Ihn lieben von ganzem Her⸗ 
zen, mit ganzem Verſtand, non ganzer Seele, und and ganzer 
- Kraftz, und. lieben den Nächten, wie: fich- ſelbſt; das ift mehr, 
als ‚alle Branbopfer und, Opfergaben.” Als Jeſus fah, daß 
er verfländig geantwortet hatte, ſprach /Er zu ihm; „Du biſt 
nicht fern nom ‚Reiche. Gottes.“ Marc. 12, 32 — 34. Ob biefe 
ermunternde Antwort diefen Schriftgelehrten dem Weiche Got—⸗ 
tes näher gebracht, ihn in das Meich Gottes geführt habe, wi 
fen wir nicht; ‚möge fie und zum Antriebe dienen, diefe Lehre 
treu. zu befolgen, und und. dadurch in das Reich Gottes zu 
führen! 

| 00.0. JM. | 

So war dem ber Heiland von allen Seiten ber, von 


Pharifäeen, von Sadducaͤern, fogar von Hofleuten des Herodes 
mit allerhand: verfänglichen Bragen gebrängt worden, welche Er 


1 — 


auf ſolche Art nah der Wahrheit beantwortet hatte, daß fie 
nun verflummten, und Ihn mit Fragen noch ferner zu beläflis 
gen und am Unterricht des Volks zu hindern, fich nicht mehr 
getrameten. Nachdem fie num fchwiegen, ſtellte Er Selbſt eine 
Frage anf, nicht um fie zu verfuchen, fondern um ihr Nachden= 
fen auf eine Wahrheit zu lenken, welche eben jebt für ihr eiges 
nes und des Volkes Schidfal die entſcheidendſte, und für bie 
ganze Menfchheit die wichtigfte war. 

Während Seines ganzen Öffentlichen Lehramted hatte Er Er 
Stich durch Worte. und Werke als Denjenigen erwiefen, Den 
die Propheten vorher verfimbiget hatten, hatte ihre Weiſſagun⸗ 
ger erfuͤllet. Vor einigen Tagen hatte Ex bei Seinem feier 
lichen Einzuge in die Stadt als Meſſias Sich. bewieſen, und 
als einem wahren Könige Sich huldigen laflen. Allgemein be 
kannt war ed, daß Er für den Meſſias Sich ausgab. Ganz 
irrig und gar zu gering waren aber die Borftellungen, die man 
von dem Meffiad fi) machte, in: Welchen, als von David abs 
ſtammend, man nur. einen irdiſchen, mächtigen König erwartete; 
Auf die höhere, göftliche Abkunft des Meffiad wollte Er jetzt 
ihre Gedanken richten, und durch die h. Sorift ſie davon uͤber⸗ 


gen. 

Darum legte J C. ihnen die Feage vore „Was důnket 
eich von Chriſtus,“ — von dem Meſſias? „weſſen Sohn iſt 
Ext" Die ſchriftkundigen Schriftgelehrten antworteten ‚ohne 
Bedenken: „Davids.“ Daß Er Seibſt als: Menſch, ein Sohn, 
em Nachkoͤmmling Davids fen, konnten ſie nicht leugnen, eben 
fo wenig, daß nach den Weiſſagungen der erwartete Meſſias 
aus Davids Geſchlecht abflammen werde. Nun macht Er fie 
aufmerkſam auf den 109. Pſalm, welcher anfängt mit den Wor⸗ 
ten: „Der Herr bat gefagt zu meinem Herrn.“ Hier kommt 
alfo das Wort: „Herr,“ zweimal vor, welches aber daB erſte⸗ 
mal in der Grundſprache heißt: „Sehovah!” und alfo Gott 
Selbft bedeutet. Es heißt alfo: „Gott hat gefagt zu meinem 
Hein.” David, ber. größte. aller Könige der Tuben, : damals 
der größte-und mächtigfte König in der Welt, erkennt alſo nebſt 
Sott noch einen anberen Herrn an, Welcher ebenfalls über ihm 


\ 





- 15 — 


fey, ba Er fein Herr ſey. Nach der allgemeinen Audlegung 
der Juden verſtanden fie unter dieſem anderen Herrn den Meſ⸗ 
ſias, auf Welchen auch der ganze Pſalm hinbentet, wie denn 
insbeſondere der Ausſpruch: „Di biſt ein Prkeſter In Ewigkeit 
nach der Orbnung Melchifedech's,“ durchaus von keinem Ande⸗ 
ren verflanden werden kann. un Tegt der Here ihnen die 
Frage vor: „Wie nennt Ihm denn David im Geifte feinen‘ 
Herrn, ba er fügt: „Ber Herr bat gefagt zu meinem Herrn: 
Setze did) zu Meiner Rechten, bis daß Ich kege Deine Feinde, 
als einen Schemel zu Deinen Füßen!” Da nun David Ihn 
feinen Heren nennt, wie ift Er denn fein Sohn;“ Wenn Er 
Davids Sohn war, fo konnte doch David feinen Sohn nicht 
anch ſeinen Herrn nennen, ‘wenn nicht ber h. Geift, in Wels 
chem, wie ber Herr Selbft fagt, David’ diefe orte fprach, ihm 
die Offenbarung ertheilt hätte; daß fein Sohn, fein Nachkoͤmm⸗ 
ling nach dem Fleifche, zugleich von höherer, göttlicher Abkunft 
ſey; Derjenige fey, von Deſſen ewiger Abkunft der h. Geift 
ihm ſchon die Offenbarung gegeben hatte: „Du bift Dein Sohn, 
heut babe Ih Dich gezeuget.” Pf. 2, 7 

Einen ftarfen Antrieb zum Nachdenken wollte der ‚Herr 
alfo den Schriftgelehrten geben, damit fie jeßt, da es noch Zeit 
war, zur Erkenntniß kaͤmen, an Ihn, ald den Meſſias, glaub⸗ 
ten, fich bekehrten, und ihre Seele retteten. Durch fo viele 
Werke hatte Er ed fo. deutlich bewährt, daß eine höhere, goͤtt⸗ 
lihe Macht und Würde in Ihm fey; nun gab Er ihnen zu 
erkennen, daß der h. Geiſt Selbft durch David Seiner höhern, 
göttlichen Abkunft und Würde Zeugniß gebe. Und wenn fie 
nun felbft es eingeftehen mußten, daß fie bis dahin als Seine 
erklaͤrteſten Feinde fich bewiefen hatten; wie erfchütternd mußte 
dann für fie der Ausſpruch feyn: „bis daß ich lege Deine 
Feinde ald einen Schemel zu Deinen Fuͤßen,“ welcher nad 
Seiner Auferfiehung und nad ber Sendung des heil. Geiftes 
durch den Sieg des Kreuzes fo vollkommen in Erfuͤllung ge— 
gangen iſt. | 

Ob diefe Belehrung in irgend einem. diefer Schriftgelehr⸗ 
ten gewirkt habe zu ihrer Rettung, wiſſen wir nicht; aber jedes 


w 


— 16 — 


Wort, welches aus dem Munde unſers Heilandes kam, iſt fuͤr 
die Ewigkeit geſprochen. Jedes ſeiner Worte iſt Geiſt und Le⸗ 
ben; Geiſt und Leben ſind alle Worte des heutigen Evange⸗ 
liums. Geiſt und Leben iſt die Verheißung: „ſie werden ſeyn, 
wie die Engel im Himmel.” Geiſt und Leben iſt dieſes Zeug⸗ 
niß von Seiner göttlichen Abkunft, von Seiner Gottheit. Geift 
- und Leben ift dad große Gebot: „Du folft den Herrn, deinen 
Gott lieben von ganzem Herzen, und von deiner ganzen Seele, 
und deinem ganzen Gemüthe, und aus deiner ganzen Kraft! 
Und du ſollſt deinen Nächten lieben, wie dich felbft! 

Laſſet und unabläffig und aus unferer ganzen Kraft fire 
ben und ringen nach biefer Liebe; laſſet und dieſe Liebe zur 
einzigen Richtſchnur unſers Lebens machen, damit wir theilhaf⸗ 

tig werden der Seligkeit, welche der Herr nur Denjenigen, die 
Ihn lieben, verheißen hat! Amen. 











—  — 


Zwölfte Rede. 
Zweite Rede am achtzehnten Sonntage nach bem 
Feſte ber h. Dreifaltigkeit, 


Terxt: 
„Du fon den Herrn, deinen Gott Heben von ganzem 
Herzen, und von ganzer Seele, und von deinem gan- 
zen Gemuͤthe. Diefes iſt dad größte und vornehmfte 
Gebot. Das andere ift ihm gleih: Du folft deinen 
- Nächten lieber, wie dich felbfl. An diefen zween Ges 
‚boten hängt das ganze Geſetz und die Propheten.” 
| Matt). 2, 32 - 39. 
Shbema: 


Bon der Verbindung der Gotted-, Selbſt⸗ 
und Naͤchſtenliebe. 


Die Frage, die unſerem Heilande J. C. vorgelegt wurde, iſt 
die wichtigſte, die jemals geſchehen iſt und geſchehen konnte; 
denn es iſt eine Frage über die wichtigſte Angelegenheit des 
Menſchen auf Erden, uͤber das erſte und groͤßte Gebot, wel⸗ 
ches Gott den Menſchen gegeben, und auf deſſen Erfuͤllung 
den Himmel zur Belohnung verheißen hat. Es iſt die Frage: 
„welches unter allen Geboten Gottes das groͤßte ſey, welches 
wir nothwendig erfuͤllen muͤſſen, um ewig ſelig zu werden, 
ohne deſſen Erfuͤllung wir nicht ſelig werden koͤnnen?“ Und 
dieſe Frage geſchieht an Denjenigen, Der Selbſt alle Gebote 
gegeben hatte, Der Selbſt auf dem Berge Sinai unter Don⸗ 
ner und Blitz, unter den furchtbarſten Naturerſcheinungen die 
Gebote verkuͤndet hatte, fo daB das Wolf Ifrael, welches die 
Stimme hörte, die furchtbaren Schredniffe nicht mehr zu ers 
fragen vermochte, und Der nun Selbft in der ſchwachen Mens 


‘ 





— 18 — 


ſchengeſtalt vom Himmel herabgefommen war, um die Gebote, 
die Er Selbſt gegeben hatte, aufs genauefte zu erfüllen, und 
durch Sein eigenes Beiſpiel die Menſchen zur Erfüllung zu 
ermunteren, und den Meg des Heild zu lehren. Die Frage 
geſchah an Denjenigen, Der am beſten wiffen konnte, welches 
unter allen Seinen Geboten bad erſte und größte fey; an Den⸗ 
jenigen, Der die Wahrheit Selbft iſt, Der Selbft ift, wa Er 
lehrte, Der die Liebe Selbft iſt. Wie wichtig muß und alfo 
aus Seinem Munde die Antwort feyn, die Antwort über das 
Wichtigfte, was es für uns gibt und geben kann, was über 
unfer ewiged Heil entfcheidet! Ganz beflimmt fprac Er es aus, 
dad größte Gebot fey das. erfte unter ben 10 Geboten, welches 
mit großen Buchſtaben auf der fleinernen Zafel, die noch in 
der Bundeslade im Allerheiligften des Tempels lag, eingegra= 
ben war, nach ber Erklärung, bie Mofes, durch den h. Geift 
"erleuchtet, dem Wolfe davon gegeben hatte, indem er ſprach: 

„Höre Iſtael, der Herr, dein Gott ift ein Einiger Gott. Und 
du folft lieben den Herrn, deinen Gott, von deinem ganzen 
Herzen, von deiner ganzen Seele, und von deinem ganzen Ge⸗ 
miüthe, und aus deiner ganzen Kraft.” „Dieſes,“ fprach der 
Herr, „if Das erſte Gebot.” Und nun feßte Er hinzu, dieſes 
Gebot fey nicht nur das erfle und größte, fondern es fey auch 
‚ber Inhalt vom ganzen Gefege und. allen Propheten. Unter 
Geſetz und Propheten verftanden die Juden die ganze Offenbas 
‚zung Gotteö, die ihnen. bid dahin gegeben war. So gab denn 
J. €. die beftimmte Erklärung, daß dieſes Gebot der Inhalt 
‚aller göttlichen Gebote fey, daß alle in diefem Einen enthalten 
feyen. Daher fprach der b. Johannes ganz im Geifte und 
Sinne feined Herrn und Meifterd: „Wer liebt, der hat das 
ganze Geſetz erfuͤllet.“ Der Herr Selbſt hat Fein anderes, hat 
Fein nened Gebot gegeben. Zwar fprach Er am Ende Seines 
Lebens: „Ich gebe euch ein neues Gebot, daß ihr einander Lies 
‚bet, wie Ich ench geligbet habe.” Diefes Gebot war nur in 
fo fern ein neues Gebet, weil eine folche Liebe, als Er den 
Menfchen bewiefen hatte, und jet Durch Hingebung Seines 
Lebens in ihrer Vollendung beweifen wollte, unter den Men⸗ 





0 | _ 150 — 
ſchen noch nicht erſchienen war, und nie und nimmer erſcheinen 


wird. 


I. 

In diefem Gebote ift ed ganz beſtimmt ausgefprochen, daß 
die Liebe gegen Gott, gegen uns felbfl, und gegen den Nächs 
fien ganz unzertrennlid) mit einander verbunden feyen. Und 
wahrhaftig, fo groß, ja unendlich ber Abftand tft zwifchen Gott 
und dem Menfchen, fo iſt und bleibt ed dach wahr: wer Gott 
wahrhaft liebt, der liebt auch fich felbft und den Nächften; und 
wer fich felbft und den Nächften wahrhaft liebt, der liebt auch 
Gott; und wer Feine. wahre Liebe hat gegen fich felbft und den 
Nächften, der hat. auch keine wahre Kicbe gegen Gott. Aber 
die Liebe muß eine wahre Liebe feyn. Wahre Liebe, — obs 
ſchon fie unfere Beftimmung iſt, obfchon fie das unerläßlich noth⸗ 
wendige Bedingniß zur ewigen Seligkeit if, — ah! wie we : 


nig wird fie von den Menfhen auf Erben erkannt! wie noch 


viel weniger geübt, da fie, fo wenig erkannt wird! Wie wird 
das Heiligfie, was ed für und gibt, oft auf die unbeiligfe, 
ſchaͤndlichſte Leidenfchaft und Neigung angewendet! wie oft 
wird Liebe genannt, was in der That der feindfeligfte Haß ift, 
welchen der Menfch gegen den Menfchen nur immer beweifen 
kann! Es ift daher die würbigfte Befchäftigung unferd Geiſtes, 
wenn wir auf die wahre Liebe mit wahrem Ernft unfer Nach⸗ 
denken richten. Uns felber wollen wir alfo die Frage vorlegen: 
was heißt lieben? Wenn ich meinen Verwandten, Freund, Wohl- 
thäter liebe; wie bin ich dann gegen ihn gefinnt? Nicht wahr, 
ich finde etwas an ibm, welches mir fehr wohl gefällt, weiches 
macht, daß ich wohlwollend gegen ihn gefinnt bin, ihm Gutes 
wuͤnſche, und, wo ich Gelegenheit habe, auch thue, welches mein 

Gefuͤhl fuͤr ihn in Bewegung ſetzt, ſo daß ich gern in Gedan⸗ 
ken mit ihm mich beſchaͤftige, noch lieber mit ihm im Umgange 
bin, welches mich alſo zu ihm hinzieht, welches mich antreibt, 
mich ihm gefaͤllig zu machen, ſein Wohlgefallen, ſeine Gegen⸗ 
liebe zu erhalten? Ein Wohlgefallen an demjenigen, den ich 
liebe, ein Verlangen, ihm wohl zu thun, und ein Verlangen 


— 10 — 


nach Vereinigung mit Ihm, nach Seiner Gegenliebe; das 
gehoͤrt alſo weſentlich zur Liebe. Dieſe Liebe wird dadurch 
ſehr verſtaͤrkt, wenn ich in demjenigen, den ich liebe, meinen 
Wohlthaͤter, und in ſeinen Wohlthaten ſeine Liebe gegen mich 
erkenne; dann geht die Liebe von ihm aus, und wird ber 
‚Grund meiner Liebe gegen ihn, dann iſt meine Liebe gegen 
‚ihn Gegenliebe. 

Der Grund der Liebe iſt alſo immer das Wohlgefallen an 
einer Eigenſchaft, die ich an dem Geliebten finde, oder an ſei⸗ 
ner ganzen Geſinnung. Iſt dieſe Eigenſchaft etwas Gutes, iſt 
ſie z. B. ſeine Aufrichtigkeit, ſeine Froͤmmigkeit, ſeine Herzens⸗ 
guͤte, dann iſt meine Liebe gegen ihn eine ſittliche, eine wahre 
Liebe; und gut und ſittlich iſt auch Alles, was aus dieſer Liebe 
hervorgeht, ift mein Streben, mir biefe naͤmliche Eigenfchaft 
zu erwerben, und dadurch ihm ähnlich, ihm wohlgefällig, mit 
‘ihm inniger vereiniget, von ihm wieder geliebt zu werden. Sf 
aber diefe Liebe bioß in unferer finnlihen Natur gegrändet, 
wie 3. B. die Liebe zwifchen Eltern und Kindern, zwifchen 
Brüdern und Schweſtern; dann ift diefe Liebe bloß eine finn- 
liche, natürliche Liebe, welche an und für fich noch gar feinen 
Werth hat, und nur dadurch einen Werth erhält, wenn 3. B. 
in dem unmlndigen Kinde, welche weder gute, noch böfe 
Eigenfchaften hat, eine anvertraute koͤſtliche Gabe Gotted, ein 
“unfchuldiges, holdes Gefchöpf Gottes erkannt wird, an dem 
"man fein Wohlgefallen hat. Iſt die Eigenfchaft an dem An: 
deren eine folche, die bloß einen angenehmen Eindrud auf mid 
macht, ift ed 3. B. fein angenehmer Umgang, feine Höflichkeit; 
"dann ift meine Liebe gegen ihn bloß eine finnliche, ohne allen 





Werth. Binde ich mich durdy dad zuvorkommende, einnehmende 


Weſen, welches er mir bezeigt, befonders zu ihm bingezogen, 
‘dann ift es oft nur eine verborgene Eitelkeit, welches ich Liebe 
"zu feyn meine. If die Eigenfchaft an dem Anderen, die mich 
zu ihm binzieht, bloß etwas Sinnliches, z. B. Schönheit, 
Mohigeftalt, fo iſt meine Liebe gegen ihn bloß eine finnliche, 
fo ift mein Verlangen nach Vereinigung mit ihm bloß ein finn- 
liches Verlangen, und wird ein unfittliched, unreines Verlan⸗ 








2 
- 361 - 
. 


.gen, wenn ich nicht feine Wohlgeſtalt als dem äuferlichen Abs 
druck feiner. innerlichen guten Eigenſchaften erfenne, an welchen 
ih mein reines fittliche® Wohlgefallen habe. Sind die Eigen- 
fhaften in dem Anderen: in der That. fhlechte, boͤſe Eigenfchafe 
ten, welche bewegen, weil fie auf eine mir angenehme Art 
fih Außeren, mein Wohlgefallen erregen; fo iſt mein Wohlges 
fallen an demſelben ein unfittliched; und Alles, was aus dieſem 
unfittlihen Wohlgefallen hervorgeht, tft unfittlich und ſuͤndlich. 
Die Liebe, wie dad Spruͤchwort fagt, findet Gleiche, oder macht 
Gleiche. Unter Schlechten und. Boͤſen kann keine wahre Liebe 
Statt finden. 

So koͤnnen wir nun leicht zwiſchen ber. wahren und fats 
ſchen, fcheinbaren. Liebe, die Being Liebe iſt, unterfcheiben. 
Wahre Liebe. iſt yur auf das wahre Wohlfeyn des Geliebten ges, 
richtet. Wenn Eltern ihren Kindern in allen, ihren Unarten 
und Fehlern beſtaͤndig nachgeben, ihnen Bein ernftes, ſtrenges 
Wort fagen, noch weniger e3 von Anderen ertragen koͤnnen; 
wenn Eltern an ihren Kindern. feine‘ Fehler ſehen Fünnen, und 
unwillig werben auf Unbere, bie fie. auf dieſelbe aufmerkſam 
' machen; wenn Gltern ihre Kinder gegen. bie firengere, aber 
nothwendige Behandlung der. Lehrer in Schuß nehmen; wenn 
Eltern das eine Kind, wegen. ſeiner angenehmern-Bildung, oder 
wegen feined einnehmendern Weſens dem anderen vorziehen; das 
Alles ift Feine wahre Liebe, iſt eine. falſche, iſt eine Afterliche, 
welche nicht das wahre Wohlſeyn, fondern das Werberben der 
Kinder befördert. Wenn mus die Schönpeit und. Wohlgeftalt, 
nicht gute Eigenfchaften, ber Grund, ber ehelichen ‚Verbindung 
ift, fo ift die Liebe, die ſie mit einander verbindet, nur eine 
finnliche, die worübergeht, ‚fobald der Sinnenrauſch voruͤber ift; 
und wehe dann ben Cheleuten, wenn fie feine gute. Eigenfchafs 
ten an einander finden, die, das Band. feflhalten! Wie mans 
es Ehegluͤck, welches fo ſchlecht begründet war, findet fchon 
jo bald fein Grab! Wenn Eigennutz der Beweggrund: zur Ehe 
war, went man nur dad Vermögen, nicht die Perfon, liebte, 
wenn. man. oft alfo nicht einmal eine wahre. Liebe in den Ehe⸗ 


fand hinein brachte, o wie ſehr ift es dann u Mirchten ‚ daß 
ar Tl. 2te Aufl. 


| — 102 — 

fie: in dem Eheſtande nie unb nimmer erwachen wirb! Wenn 
man vor der Ehe, durch eine falſche Liebe verblendet, nur Boll: 
kommenheiten und Tugenden an einander fehen will, ſich ein: 
ander zum Gögen macht; o wie fo bald iſt die heiße, ewige 
“Liebe, die man eihander fi zuſchwor, erfaltet, fobalb das 
Blendwerk verſchwunden iſt! Wenn man nun nody fogar vor 
der Ehe, von Leidenfchaft bingerifien, unter dem Schein von 
Liebe, den größten Haß gegen einander übte, indem man bas 
koͤſtlichſte Kleinod, . die Krone der Unfchuld, die’ Ruhe des Ge: - 
wiſſens, den Frieden mit Gott fich raubte; wenn man, da 
man amAltare die Hand ſich reichte, ſchon bie Hochachtung, und 
mit der Hochachtung auch die Liebe, wenn fie je da war, ver: 
Toren hat; o wie fehr iſt es zu befürchten, daß bie wahre Liebe 
im Eheſtande felbft niemald erwachen, daß der Segen Gottes 
auf einer ſolchen Ehe nicht ruhen wird! 


An dieſen wenigen Beifpielen mag ed genug fen, um 
und zu überzeugen, wie bie wahre Liebe fo wenig unter und 
Drenfchen Statt findet, wie man fo oft: Das für Liebe hält, was 
feine Liebe, was vielmehr Ihr Gegentheil iſt. Diele traurige 
Erfahrung hat allein darin ihren Grund, daB es und fo fehr 
an ber wahren Liebe Gottes Fehlt, daß wir biefe Liebe kaum 
kennen, noch weniger nach derfelben fireben. Denn die Liebe 
Gottes iſt die eingige Quille, aus welcher wahre Selbſt⸗ und 
Naͤchſtenliebe entſpringt. Laſſet uns alſo jetzt auf Das achten, 
wodurch die wahre Liebe Gottes ſich bewaͤhren muß! Die Liebe 
Gottes iſt in ihrem Urſprunge eine Liebe aus Dankbarkeit. 

Sobald wir zur Erkenntniß Bottes gelangen, lernen wir Gott 
als zinferen beften Water, als unferen größten Wohlthäter er- 
kennen, erfinnen in biefen Wohlthaten Seine große, Seine 
unendliche Liebe gegen und. Alles, was wir find und haben, 
- felbft unfer Leben verdanken wir Ihm, Seiner Siebe Alle 
Seine Eigenſchaften, alle Seine Botfkonimenheiten: find verei⸗ 
niget in dev Einen Eigenfchaft: Seiner Liebe, von welcher alle 
übrigen nur bie Aeußerungen und Birküngen find. An einem 








— 18 — 


ſolchen Weſen, Welches bie Liebe ſelbſt ift, muͤſſen wir das 
größte Wohlgefallen haben. Je mehr wir Ihn in Seiner Wal 
tommenbeit, in Seiner Liebe erkennen, um deſto ‚mehr wirb 
unfer ganzes Herz zu Ihm bingezogen, um beflo größer wird 
unfer Verlangen, Ihm wohlgefällig zu werben. Seine Liebe 
gegen. und erwedt und zur dankbaren Gegentiebe ‚gegen Ihn. 
Wodurch follen wir Ihm unferen Dank erweilen? Wenn wir 
einen Meuſchen lieben, fo treibt und bie Liebe, jo viel wir 
koͤnnen, ‚ihm Gutes zu thun, fein Wohlſeyn au beförberen, 
Wie koͤnnen wir aber das Wohlfeyn, die Seligkeit Deſſen, 
Der ollfelig iſt, befoͤrderen? Wie koͤnnen wir Dem, Dar 
Alles bat, etwas geben, was nicht Sein iſt? Koͤnnten wir 
dem liebenden Gott auf feine Art unferen Dank eripeifen; wir 
wären, ba wir Seine Liebe erkennen, in ber Shot die ungluͤg⸗ 
ſeligſten Geſchoͤpfe. Gott Hat und belehrt, wie wir Ihm «inr 
zig danfen koͤnnen und banken ſollen; und in biefer Belehrung, 
in diefer Art des Dankes, den Er pon und fordert, offenharet 
fih am meiften Seine unendliche Liebe gegen und. Nur dar 
durch, daß wir uns ſelbſt und unferen Raͤchſten wahrhaft lies 
ben, nur dadurch, daß wir unfer. eigenes und unſers Raͤchſten 
wahres Wohlſeyn beförberen; nur dadurch ‚daß wir uns ſelbſt 
und unfern Nächfien wahrhaft gut, und dadurch gluͤcſelig zu 
machen und befireben, fünnen und ſolſen wir Bott unfere dank⸗ 
bare „Liebe reifen. Gott führt alſo die Liebe, bie wir Ihm 
zu erweiſen ſchuldig find, auf ung ſelhſt und auf. unſeren Roͤch⸗ 
fen zuruͤck; an und felbft und. an unferem Naͤchſten sollen wie 
8 beweiſen, daß wir Bett wahrhaft lieben. 

So fleht ‚dann ‚bie Liebe ‚gegen Gott, gegen. uns felbft und 
gegen -unferen Noͤchſten mit einander in .unlifnumuenem Gin- 
Uange. Und die ‚göttlichen ‚Gebpte ‚gehen . und hie Anweiſung⸗ 
wie ‚wir „biefe Liebe Aben fallen; ‚Dacyya hat unfer Hape: dan 
Ausſpruch gethan: „Mer meine Gebote hat, u9d.fie höhe Pi! Zu 


iſt es, der Mich liebt.” Die, wahre Liebe Gottes ift alfo eine 


tätige Liebe, ‚eine Liebe, die fich thötig. srweifet in. bar Liebe 

gegen und felbft und gegen dem. Naͤchſten. Je mehr wir. nun 

dieſe Liebe Üben, ‚um deſto mb. werben „ir Gott, Der bie 
11* 





za - 


Liebe ſelbſt if, aͤhnlich, um deſto mehr werben wir im Seife 
"mit Shm vereiniget, um befto dringender wird unfer Streben, 
Immer innigee mit Ihm vereinigt zu werden. Diefe Vereini-_ 
gung kann nur darin beflehen, daß wir in der Erkenntniß Got- 
tes immer wachlen, bad Andenfen an Ihn öfterd erneuern, Sei- 
men Willen erfüllen, und dadurch Sein Wohlgefallen und er: 
‚werben, und nach ber volllommenen Bereinigung mit Ihm in 
jenem Leben, mit allen unferen Kräften unabläffig trachten. Wir 
koͤnnen nur ftreben nach diefer Liebe; koͤnnen mit allem unfe- 
ren Streben dieſe Liebe uns felbft nicht geben und nicht ermer- 
ben. Sie iſt die Eöftlichfte unter allen Gnaden Gottes, welche 
durch den 5. Geiſt in unfere Herzen ausgegoflen wird. Die 
Liebe ift dad Höchfte und Heiligfte, wozu der Menfch beftimmt 
iſt; fie iſt die chriftliche Zugend in ihrer Vollendung; fie ift 
aber auch aller Tugend Anfang; denn ohne Uneigennuͤtzigkeit 
kann Feine wahre Tugend beſtehen; und diefe Uneigennügigkeit 
iſt 68, welche dad Wefen der Liebe ausmacht. Wer liebt, fieht 
nicht auf das, was fein, ſondern auf das, was des Anderen, des 
- Geliebten, iftz gibt fich hin, opfert fih auf, um Das, was des 
Anderen ift, zu beförberen, um beffen Willen zu erfüllen. Was 
: aber der Liebende hingibt und opfert, kehrt in reichlichem Maße 
auf ihn felbft wieder zuruͤck; je mehr wir Liebe üben, um befto 
‚mehr gewinnen wir an Liebe, und dadurch an wahrer Zugend, 
und dadurch an wahrer Ruhe und Seligfeit. Es kann und 
"wohl gelehrt werben, worin die Liebe befteht, aber biefer Un: 
‘terricht kann und die Liebe felbft nicht geben, nur Dazu vorbe- 
‚reiten. Wenn wir aber entichloffen find, nach unferer Erkennt: 
niß zu handeln, und demuͤthig und herzlich um die iebe flehen, 
und im Vertrauen auf den Beiſtand bed h. Geiftes die Liebe 
üben, nach ihrer Vorfchrift leben; dann werden wir zur Liebe 
gelangen, und in der Liebe und duch fie in aller Tugend 
vollendet werden. 
a III. | 
wWir haben nun erkannt, daß die Liebe das Einzignoth— 
wendige fuͤr uns auf Erden iſt, daß ohne Liebe unſer ganzes 
Leben ohne Verdienſt iſt, daß ſie alſo das Einzige iſt, welches 











— 166 — 


dereinſt uͤber unſer ewiges Schickſal in jener Welt entſcheiden 
wird. Braucht es alſo noch mehr, uns auf's dringendſte an⸗ 
zutreiben, daß wir mit dem groͤßten Ernſt uͤber unſere Liebe 
gegen Gott uns pruͤfen, mit dem groͤßten Eifer nach dieſer 
Liebe ſtreben? Denn wehe und, wenn ed und an dieſer Liebe 
noch gar zu fehr, oder gänzlich fehlen follte! Müffen wir uns 
deſſen ſchuldig bekennen, dann haben wir unfer Urtheil ſchon 
felbft gefprochen, und zwar das nämliche Urtheil, welched ders 
einft im göttlichen Gerichte über und wird gefprochen werben; 
in welchem, wie ber göttliche Richter 3. C. Selbſt es Iehıt, 
alle unfere Werte bloß nad unfeser Liebe werden gewogen und 
gerichtet werben. 

Laffet und alfo ſchon set über unfere Liebe gegen Gott 
und prüfen! Wir müflen zum Theil wiederholen, was euch 
ſchon oft gefagt ift: was aber für und das Wichtigfte, das 
Einzignothwendige ifl, kann nicht oft, nicht bringenb genug: 
wiederholt und eingeſchaͤrft werden. Wie, wenn J. C. Selbſt 
die Frage an und thun würde: „Liebſt du Mich?” würden wit 
wohl, wie Petrus, . fogleih antworten Finnen : „Her! Du 
weißt, daß ich Die liebe?" Er hat und. nicht, wie den Pes 
trus, zu. Oberhirten angeſtellt; Er würde alfo auf einen an⸗ 
deren Prüfftein unferer Liebe, den Er Selbſt angegeben hat, 
und binweifen, würde zu und fprechen: „Wenn du Mich liebfl, 
fo halte Meine Gebote! denn wer Meine Gebote hat und bar- 
nach thut, der iſt es, der Mich liebt.“ Seht, bier haben wir 
alfo einen ganz fichern Mapftab ; nach welchem’ allein wir uns 
fere Liebe gegen Gott prüfen können und follen. Der Herr 
hat es gefagt, und e& iſt tief in das Innerſte unfered Herzens 
gefchrieben: nicht viele und. rührende Worte, nicht ſchoͤne Ver⸗ 
fprechen, die unerfüllt bleiben, nicht viele. und lange Andachtör 
übungen und Gebete find ein Beweis, daß wir Gott wahrhaft 
lieben. Das Alles bat feinen Werth, wenn es nicht aus der 
Liebe hervorgeht, und. nicht als Mittel dient, die Liebe Gottes 
in und zu erhalten und, zu nähren. Die Werke allein, bie 
Sefinnung allein, der dankbare, vertrauendvolle Gehorſam muß 
und zum Beichen dienen, daß wir Gott lieben ur 


Li 


= — 


Und was ſollen wir nun fageii, wenn wir 3 nach diefer 
Richtſchnur und pruͤfen wollen? Muͤſſen wir nicht ohne Aus⸗ 
nahme bekennen: „O Goit! wir find Ale Suͤnder vor Dir, 
wir thun nicht nach Deinem Willen, wir Haben Deine Gebote 
oft und vielfältig uͤbertreten, und Übertreten fie noch oft und 
vierfättig ge „Wenn wir fagen, daß wir bie Suͤnde nicht ha⸗ 
ben, ſo begehen wir eine Lüge, und die Wahrheit ift nicht in 
md." Wie verblendet müßten wir über uns ſelbſt feyn, wenn 
wir dieſem Ausſpruch des h. Geiſtes durch den Apoſtel Johan⸗ 
nes nicht beiſtimmen wollten?! Geht wohl ein Tag voräber, 
ohne daß das Gewiſſen, wenn wir ed nur fragen und hören 
wollen, und bittere Vorwürfe zu. machen hätte? Und wenn 
e& auch nicht immer einzelne, befondere Werke find, worüber 
es und Vorwärfe zu machen hatz macht es und benn nicht 
Immer ben Vorwurf, daß wir irgend eine fünbliche Neigung 
ruhig und ungeſtoͤrt in und fortieben und herrfchen laſſen? daß 
wir es wohl wiſſen, daß wir z. B. zur Habfücht, zur Eitel⸗ 
Leit, zum Born, zur unkeuſchheit fo geneigt find, und bei jeder 
| Gelegenheit nach diefer Neigung hatideln, und nichts thun, um 

diefelbe zu bekaͤmpfen, daß wir hoͤchſtend dann und wann ein 
duͤrftiges Bekenntniß daruͤber ablegen, und ed dann wieder gut 
ſeyn laſſen, und in der diten Suͤnde bleiben? daß wir ſelten 
daran denken, daB Gett an uns, fo lange wir fo gefinnt find, 
nothwendig Sein Mipfallen Haben muß, und daß felbft biefes 
Mißfallen Gottes uns gleichgültig if? Muß uns das Geil: 
fen nicht immer den Vorwurf machen, daB wir fo Falt und 
lau gegen Gott find, ald werin wir Ihm nichts zu banken haͤt⸗ 
ten; daß wir felten an Ihn denken, vbſchon wir fets in Sei⸗ 
vier Gegenwart find; daß Stine Liebe uns nicht rührt, obſchon 
wir in jeden Augenbiid Beweiſe davon erfahten; daß wir 
gleichſam vhne Gott in ber Welt leben, daß wir nur mit Zwang 
und Unluſt an Ihn denken mögen? - Hätte uns das Gewiffen 
auch keinen anderen Vorwurf zu machen über unferen großen, 
ſelbſt verſchuldeten, ſtrafwuͤrdigen Mangel an Liebe gegen Gott 
muß es und immer Vorwuͤrfe machen. Wir haben die Erkennt⸗ 
niß, daß Du, o Gott! der ganzen Liebe unſeres Herzens ein⸗ 





zig werth bil, und lieben Dich fo wenig, erkennen es, daß 
wir Dich fo wenig lieben, und fuchen doch nicht, Dich zu lies 
ben; das ift unfer Bild, unfer wahrer Zuftand, das iſt unfere 
Schuld, unfere große Schuld. Möchten wir nım mit Augus 
fin fprechen koͤnnen: „Spät, fpat habe ich angefangen, Dich, 
o Sott, zu lieben!” Ach! wo finden wir in und nur den Ans . 
fang der Liebe! Dürfen wir nun ruhig und forglos in einem 
ſolchen Zuſtande bleiben? ruhig und forglod bleiben in einem 
Zuflande, worin wir nach unferer eigenen Anfiht und Webers 
zeugung befländig fortfahren, jenes Gebot zu übertreten, wels. 
ches nicht nur dad Hauptgebot, fondern auch der Inhalt aller 
übrigen ift, ohne deſſen Erfüllung wir. fein einziges recht er⸗ 
füllen koͤnnen, alfo ein ganz zweckloſes, zwedwidriges Leben 
für die Ewigkeit führen? Müßten -wir nicht, wenn und noch 
etwas an unferm ewigen Heile gelegen ift, wenigſtens dafuͤr 
forgen, daß wir und mit ganzem Herzen zu biefem Hauptge⸗ 
bot binwendeten, um daſſelbe beffer zu füllen! — 


\ Ä IV. . 

Was bleibt und denn, als Sündern, noch übrig, um zur 
Liche zu gelangen, als daß wir mit ganzem Herzen und mit 
fefter Entfchloffenheit von ber Sünde und von den fünblichen 
Neigungen und wegwenden, mit ganzem Herzen zu Gott, Den 
wir verlaffen haben, uns wieder hinwenden? was bleibt und, 
als Suͤndern, anders übrig, als wahre Buße und Bekehrung, 
als aufrichtige Rüdfehr zu Bott?! Wahre, aufrichtige Bekeh⸗ 
sung und MWegwendung von ber Sünde, wahre, reumlithige 
und vertzauensvolle Ruͤckkehr zu Gott, ift alfo für Sünder das 
erſte und einzig fichere Kennzeichen, daß fie Gott zu lieben 
wenigſtens ‚anfangen, das einzige Mittel, um zur Liebe wieber 
zu gelangen. Und es giebt kein anderes, kann Fein anderes 
geben. „Haft du noch in dir gine upreine, unkeufche Neigung; 
vergebend, daß du oft bie‘ Kirche beſuchſt, öffentlichen Andach⸗ 
ten beiwohneſt; wergebens auch, daß du. Anderen allerhand 
Dienfte grweifeft, Wohlthaͤtigkeit übeft, Almolen gibſt; - verge- 
bens, daß du wirkliche Liebe gegen ben Naͤchſten Abe; fo 


} 
— 18: — 


lange dur Gott, dem Herrn, dasjenige Opfer nicht bringen 
wit, welches Er unerläßlich von dir fordert, dad Opfer deir 
ner fündlichen Neigung, find ale deine Werke umfonft, und 
vor Ihm, Der auf dad Herz fieht, ohne Werth, find nur leere 
Ausfluͤchte, um dein Gewiffen zu betäuben, um dem Kampfe 
gegen dich felbft zu entgehen. Iſt Unmäßigfeit, und der Hang 
zum Trunke deine herrfchende Neigung, vergebens alle: deine 
übrigen Werke, fo gut fie an ſich feyn mögen; fo lange bu 
deine unfelige und verderbliche Neigung nicht befämpfen willſt. 
Mer nicht dasjenige, woran fein Herz am meiften hängt, was ihn 
am meiften von Gott entfernt, Gott zum Opfer bringen will, 
der hat Ihm noch Fein Opfer gebracht; zu dieſem ſpricht Er: 
Sehe hin, und befämpfe dich felbft, dann komm und opfere 
Mir deine Gabe!” Wer nicht den ernfllichen, feſten Entſchluß 
gefaffet hat, diejenige fündliche Neigung, die noch am meiften 
in ihm herrſchend iſt, ihn zu den meiſten Suͤnden verleitet, zu 
bekaͤmpfen, und die Gelegenheiten zu dieſen Sünden zu mei⸗ 
den, der hat noch Feine wahre Buße geübt, iſt alfo noch ohne 
Liebe gegen Gott, iſt alfo noch in einem Zuflande, worin er 
den ganzen Beruf feines Lebens gänzlich vereftelt. Und daB 
ift eben das ficherfte Kennzeichen einer falſchen Buße, bie feine 
Buße ift, daß man über feinen Zuftand feiner Sünde wegen 
gar nicht ruhig iſt, und um fi zu beruhigen, zu allerhand 
guten Werken, die keine Pflichten find, feine Zuflucht nimmt, 
zu gewiflen Zeiten befchwerliche Andachtsübungen oder Selbſt⸗ 
abtödtungen übernimmt, in befonderen Gelegenheiten feinen 
Naͤchſten befondere Dienflleiftungen erweifet, in’ befonderen Ge- 
legenheiten einen befonderen Eifer für dad Gute beweifet, aber 
an bie Hauptfache, an die Bekämpfung feiner felbft nicht will, 
von feiner Lieblingdneigung nicht abftehen will, weil bie flüch« 
tige Luft, die fie gewährt, noch gar zu angenehm iſt. Machen 
diefe es nicht gerade fo, wie die Pharifäer, die zu Johannes 
kamen? Wie empfing fie aber diefer h. Mann, dieſer ernſte 
Bußprediger? „Ihr Heuchler,“ ſprach er zu ihnen, „wer hat 
euch gelehrt, auf ſolche Art dem Zorne Gottes zu entgehen? 
Bringet bute Fruͤchte wahrer, aufrichtiger Buße So ſpricht 





— 4169: —n 


Sott zu Jedem, ber nur Ausflüchte fucht, um feiner erſten 
Pflicht, ſich felbft, feine herrfchende Sünde. und Neigung zu 
befämpfen, zu entgehen. Wie Tönnteft du täufchen den Als 
wiffenden, Der in dad Innerſte unferd Herzens fieht, vor. Dem 
feine Regung beffelben verborgen iſt? Buße, wahre, aufrich» 
tige Buße iſt alfo für fündige Menfchen, wie wir find, bie 
einzige, fichere Probe, daB die Liebe zu Gott wieder in und 
angefangen hat. Abkehren, abwenden, wegwenden muß fich 
der Menfch von der Sünde und allem Boͤſen, und wegwenden 
mit ganzer Seele für immer und ewig; fonft- ift Fein Heil für 
ihn. Umkehren, ummwenden, und gänzlich ummwenden zu allem 
Suten, zu Gott, muß fi der Menſch; fonft ift für ihn Bein 
. Heil. Dem, da der Menfch durch Abmendung und Wegwen⸗ 
dung feines Geiſtes und Herzens won Gott, und durch Hins 
wendung "feines Geiſtes und Herzens zu den irbifchen Lüften 
und Dingen, die Liebe Gotted aufgegeben, und dadurch dad 
wahre, ewige Heil verloren bat, fo kann er nur dadurch bie 
Liebe gegen Gott und das wahre, ewige Heil wieder finden, 
baß er ſich von ben Dingen, bie ihn zur Sünde verleiteten, 
mit ganzem Herzen weg, ımb mit ganzem Herzen zu Gott 
wieder hinwende. Und das Fannı der fünbige Menfch nicht durch 
fih, fondern allein durch 8. C., in dem allein dad Heil iſt. 
Denn nur 3. C. kann und erleuchten, um bie Sünde zu et= 
fernen, und ftärfen im Kampfe gegen die Stunde, unb uns 
die verforne Ruhe wieder geben. Und 3. €, gibt dem Sünder 
dazu den erften Antrieb, und nimmt ihn in Gnade. wieder auf, 
wenn er diefem Antriebe folgt, und im Vertrauen zu Ihm 
fommt, gibt ihm das Anfangen und Vollbringen. Seinem 
Lichte, Seiner Leitung, Seiner Gnade, Seinem Beiftande ha⸗ 
ben wir es allein zu verdanken, daß wir und von der Sünde 
hinweg, uhd zu allem Guten, zu Gott und wieder hinwendeg 
Tonnen. Sa, wahrhaftig! auch die Buße iſt Seine Gabe, denn 
fe ift die Wiederherſtellung der Liebe, welche unter allen Ga- 
ben Gottes die erfle und vornehmfte ifl. - Wenn nun die Buße 
für fündige Menfchen die einzige Wiederherſtellung der Liebe 
iſt, fo iſt ſie auch der einzig fefle Grund, ‚fo wie der einzig - 


- 1 — 


witt fie euch vergeben, wenn thr um Seinetwillen dem. Näch« 
fin von ganzem Herzen vergebet. Wie ihr vergebet, fo foll 
euch vergeben werben. MWollet ihr alfo bereinft in euerer letz⸗ 
ten Stunde Gnade, Barmherzigkeit, Vergebung finden bei Gott, 
fo _vergebet in dieſer Stunde euerem Nächften von ganzem Her⸗ 
zen! ‚Kein Friede mit Gott, Peine Liebe gegen Gott, fo lange 
Ihe in Unfriede feyd mit euerem Nächften. Vermeidet alle Be⸗ 
leidigung gegen euern Nächften, fo viel es ohne Verlegung eue⸗ 
rer. Pflicht gefcheben kann! Wo Zank und Streit fich erheben 
will, da ſchweigt und entfernt euch! Beſſer ſchweigen und bul- 
den und Unrecht fiber fich ergehen laffen, wenn ed ohne Ver⸗ 
letzung höherer Pflichten gefchehen Tann, als mit Bank und 
"Streit Recht behalten. Das Opfer, welches ihr dem Frieden 
bringt, wird euch bumbertfältig vergolten werben. Vermeidet 
Alles, was ber Liebe entgegen ift! vermeidet befonderd das lieb⸗ 
loſe Yuffpüren der Fehler eueres Nächften, dad lieblofe Tadeln 
und Richten Über diefelbe, das Lieblofe Klatfchen und Plaudern, 
‚welches jo viel Unheil bringt! Wer feine gefchwägige Zunge 
über die Fehler feines Nächften nicht bändigen will, der kommt 
nie. und nimmer zur Liebe! Traget vielmehr einander euere 
Schwachheiten! denn feht! Andere haben auch die eurigen zu 
fragen. Wollet ihr Liehe üben, fo fuchet die Gelegenheit nicht 
in der Ferne, uͤbet fie vorzüglich, und am meiſten in: euerem 
“häuslichen Kreife, wo ihr täglich und flündlich dazu Gelegen- 
heit habet! feyb offen und aufrichtig, dienftfertig, wohlmollend 
und liobreich gegen einander! dann wird ber Friede und ber 
Segen Gotted in eueren Häufern wohnen; dann wird die ge- 
genfeitige LZiebe euch vor Sünden bewahren, und die Liebe ge- 
gen Gott, unter euch befländig unterhalten. Ohne Liebe kein 
wahres Gluͤck, Feine ‚Tugend, Feine Ruhe, keine Seligkeit. Hier 
auf Erben koͤnnen wir nach. ber Liebe nur ringen und fireben; 
im Himmel wird bie Liebe felbft unfere Seligkeit feyn. Und 
laßt es und noch einmal bedenken: Lieben wir Gott von gan⸗ 
zem Herzen, fo wird bie wahre Selbft- und Nächftenliebe nicht 
fehlen. „Mein Soc ift fanft, und Meine Bürde ift leicht,” 
‚fpra J. E.; das iſt fie; aber nur die Liebe iſt es, die „Sein 





| — :173 len 


Joch ſanft, Seine Buͤrde leicht macht.“ Darum ſprach der 
Juͤnger der Liebe aus eigener Erfahrung: „Gottes Gebote ſind 
nicht ſchwer.“ 

O Gott! wenn wir's nur oͤfters und ernſtlicher bedenken 
möchten, was Du für und biſt, fo koͤnnte es nicht anders mög- 
lich feyn, wir inüßten Dich lieben. Der Liebe kann dad menfchs 
liche Herz nicht wiberfiehen, und Du bift die Liebe felbfl. Aus 
Liebe haft Du uns in diefes vergängliche Dafeyn gerufen, um 
und dereinſt Deinen ewigen Himmel in ewiger Seligkeit zu 
geben; aus Liebe haft Du Deinen eingebornen Sohn in bie 
Welt gefandt, und Ihn zum Tode am Kreuze für und dahin- 
gegeben, um und durch Sich Selbft mit Die zu verfühnen; 
aud barmberziger Liebe werben und burch den Tod Deined Soh⸗ 
ne unfere Sünden vergeben; aus Siebe fpeifet und Dein Sohn 
mit Seinem eigenen Fleiſch und Blut, zur Nahrung für unfere 
Seele. Was haͤtteſt Du, o Gott! und mehr thun können, das 
Du und nicht gethan haft?! So laſſet und Ihn dann Lieben, 
denn Er hat und zuvor geliebt! Laffet und oft in Ruhe Gel- 
ner Liebe gegen und gedenken! Die Liebe gibt am liebften bie 
Töftlichfte ihrer Gaben: Yaffet uns Ihn - oft mit Vertrauen um 
die Föfktichfte Seiner Gaben, um die Liebe, bitten, Ihn, Der 
uns die Verheißung gegeben hat: Dittet, und ihr werdet em⸗ 
pfangen.“. Amen. 


— 14 — 


Dreizehnte Rede. 
Erſte Rede am neunzehnten Sonntage nach dem 
0, Belle ber h. Dreifaltigkeit, | 





„A 
BE 


Tert: 
Das Evangelium von der Heilung des Gichtbrichigen. 
Matth. 9, 18. Marc. 2, 1—12 Luk. 15, 
ii Bo 
H Zhyema: 
| Bon der Beichte. 


J. dem heutigen Evangelium erblicken wir unſeren Herrn und 
Heiland J. C. als göttlichen Wohlthaͤter, als göttlichen Lehrer, 
und zugleich als goͤttlichen Erloͤſer. Ein Wunder, eine goͤtt⸗ 
liche Wohlthat war die Heilung des Kranken. Die Lehre von 
der Macht des Glaubens und von der Wirkſamkeit theilneh⸗ 
mender Fuͤrbitte, und die Lehre von Seiner Macht, bie Suͤn⸗ 
dan zu vergeben, iſt «ine: ‚göttliche Lehre; und die wirkliche Suͤn⸗ 
denvergebung war ein göftliches Werk, war bad Werk der Erz 
fung; denn dazu iſt der Menfchenfohn vom Himmel gekom⸗ 
men, um bie Menfchen von ihren Sünden zu erlöfen und felig 
zu machen. Laflet und den Heiland betrachten in dieſem Werke, 
welches zugleih ‚von Seiner göttlichen Allmacht, von Seiner 
göttlichen Allwiſſenheit, und von Seiner göttlihen, unendlichen 
Liebe Zeugniß gibt! | 

Um Sich dem Gedraͤnge des Volks zu entziehen, hatte der 
Helland auf eine kurze Zeit jenfeitd des See's an verborgenen 
Orten Sic aufgehalten. Der Evangelift Lukas fagt: „Er zog 
Sich zuruͤck in oͤde Orte, und betete.” Um zu beten, zog Er 
Sich alfo zurüd in die -Einfamkeit. Ein ermunterndes, wars 
nendes Beifpiel, und zuweilen aus bem Gebränge-von Gefchäfs 
ten, Arbeiten, Sorgen, Zerſtreuungen zurüdzuziehen, unfer Ges 











135 — 


muͤth vor Gott zu fammeln und durch Gebet zu flärfen. Une 
terbefien hatte der Ruf von Seinen Wundern und Lehren im⸗ 
mer weiter im Lande umber fich verbreitet. Jenſeits des See's, 
im Lande der Gerafener, die Helden waren, hatte Er einen 
ſchrecklich wüthenden Befeffenen, weicher die Gegenb umher uns 
fiher machte, gebeilet, und den Teufeln geflattet, in eine zahl⸗ 
reiche Heerbe, Schweine zu fahren, die darauf In ben See fich 
geſtuͤrzt hatte. Der Ruf von dieſem außerorbentlichen Wunber 
war ohne Zweifel ſchon bis diesſeits des See's hinüber erſchol⸗ 
len. Als Er daher wieder heruͤber kam, wurde Er ſchon von 
einer großen Menge Volks erwartet. „Und Er trat in ein 
Schiff,” fagt der Evangeliſt Matthäus, „fuhr hinuͤber, und 
fam in Seine Stadt.” Seine Stadt nennt ber Evangelift die 
Stadt Kapharnaum. In Bethlehem war Ex geboren, in Nas 
zareth auferzogen, in Kapharnaum wohnte Er, feitbem man 
Ihn aus Nazareth vertrieben hatte. Dort Hatten fi) während 
Seiner Abweſenheit mehrere Pharifäer und Schriftgelehrten ver 
fammelt, die gefommen waren aus allen Flecken in Galiläa 
und in Judaͤa und aus Kerufalem. Dieſe Zufammenkunft von 
Gelehrten aus nahen und entfernten Gegenden, fogar aus ber 
Hauptfladt, fcheint verabredet geweſen zu ſeyn. Man war [chen 
eingenommen gegen den Mann, Deflen Ruf fo außerordentlich 
ſich vergrößerte, Der ein ſolches Auffehen im ganzen Lande 
machte, und wollte Ihn jest fcharf beobachten. 


L, 

Angekommen zu Kapharnaum, ging Er allobalb in ein 
Haus, um zu lehren. „Und ed wurbe ruchtbar, daß Er im 
Haufe war, und es verſammelten fich Viele, daß fie auch drau⸗ 
Ben vor der Thuͤr nicht Raum hatten. Und Er verlündigte 
ihnen das Wort. Marc. 2, 2. Die phariſaͤiſchen Schriftge: 
Ichsten hatten, durch Neugier und böfe Abſicht getrieben, früh 
genug fich eingefunden, um Platz zu finden. O Gott! moͤch⸗ 
ten wir doch einen gleichen Eifer beweifen im Dienfle der Wahre 
' heit und Tugend, als Diele ihn .beweifen im Dienſte der Leis 
denfchaft und. ber Simde! möchten wir:chen fo-eifrig und thaͤ⸗ 


RE — 


thig ſeyn fuͤr ben Himmel, als Viele es ſind, um ſchnoͤden Ge⸗ 
winnſt oder eitele Ehre ſich zu erwerben, oder um ihre Rach⸗ 


gier gegen einen Beleidiger oder Feind zu befriedigen! Nicht 


nur kluͤger, auch eifriger und thaͤtiger ſind oft die Kinder der 
Welt, als die Kinder des Lichts. 

Es war alſo nicht bloß das gemeine Volk, ed waren auch 
die gebildeteſten und gelehrteſten Maͤnner des Landes, die der 
Herr jetzt vor ſich hatte; und wir ſehen aus Seinem Betra⸗ 
gen, wie die Phariſaͤer ſelbſt bei einer anderen Gelegenheit Ihm 
das Zeugniß gaben, daß Er auf keine Perſon achtete, und die 
Wahrheit, die Er auf Erden zu verbreiten gekommen war, ohne 
alle Ruͤckſicht auf Anſehen der Menſchen verkuͤndigte. Dieſe 
Phariſaͤiſchen Schriftgelehrten, dieſe in ihrer Weisheit ſich hoch 
duͤnkenden Maͤnner, mußten jetzt eine Begebenheit ſehen und 
eine Lehre hören, die fie gar nicht erwartet hatten. „Und bie 
Kraft des Herrn war da, zur Heilung,” fagt der Evangelifl 
Lufad, um und vorzubereiten auf die wichtige Begebenpeit, Die 
Er erzählen will. 

Um und von biefer Begebenpeit eine richtige Vorſtellung 
zu machen, müflen wir zuvor bemerken, daß im Morgenlande, 
wo es felten regnet, bie Dächer auf den Häufern platt und 
mit Steinen belegt waren, zwifchen welchen eine mit Brettern 
bedeckte kleine Oeffnung angebracht war, zu welcher aus dem 
Inneren des Hauſes eine Treppe fuͤhrte. Nebſt dieſer war auch 
von außen, von der Straße her, eine Treppe angebracht, welche 
ebenfalls auf das Dach des Hauſes fuͤhrte. 

Nicht nur das Haus, worin der Herr lehrte, ſondern auch 
die naͤchſte Umgebung war mit Menſchen fo angefuͤllt, dag. Nie⸗ 
mand zu Ihm konnte. Da kamen vier Maͤnner, die einen ganz 
gelaͤhmten Gichtbruͤchigen auf einem Bette trugen, um Huͤlfe 
für den Kranken zu finden; aber fie konnten nicht hinein zu 
dem wohlthätigen Helfer. Bon Vertrauen und theilnehmender 
Biebe getrieben, brachten fie jest den Unglüdlichen über die 
Yußentreppe bis oben auf das platte Dad) des Hauſes, nah⸗ 
men; weil die Deffnung zu Elein war, einige Ziegel weg, und 
ließen ben Kranken an Striden durch: diefe Deffnung bis zu 





— 177° — 
den Füßen des Hellandes Kerunter. Wahrlich! bie Liebe gegen 


ven Kranten mußte eben fo groß feyn, als ihr Vertrauen auf . 


den göttlichen Helfer, da fie ihrer Zubringlichfeit wegen nicht 
abgewiefen zu werben befürdhteten. Denken wir und jcht ge⸗ 
genwärtig in dem Saale, worin der Heiland Ichrte! Welch' ein 
Auffehen mußte ed erregen, als oben an der Dede ein immer 
zunehmendes Geräufch entfland, wodurch der Heiland in Seiner 
Rede unterbrochen wurde, ald ‚bald darauf eine Deffnung fich 
zeigte, und nun ein Kranker, der Fein Glied rühren konnte, 
auf einem Bette liegend, mit Striden herunter gelaflen wurde, 
mitten in den Kreis der Werfammlung, zu den Füßen ded Leh⸗ 
rers! Als der Kranke nun da lag,. wurbe ed natürlich) ganz 
ſtille; Aller Augen waren auf den Kranken und auf den Hei⸗ 
land gerichtet; Ale in der böchften Erwartung. Ind die Evans 
geliften fagen: „Als der Heiland ihren Glauben fah,” nämlich 
der Träger. Warum fagen fie nicht: „ald Er feinen, nämlich 
ded Kranken Glauben ſah?“ Der Glaube ded Kranken bes 
durfte feiner Erwähnung; denn wenn er nicht geglaubt hätte, 
würden feine Freunde ihn nicht hingebracht haben. Ihr Glaube 
war zugleich mit Liebe vereiniget; die Mühe, die fie um ſei⸗ 
netwillen fich gaben, war eine Zürbitte für ihn, nicht mit Wor⸗ 
ten, Sondern durch die That ſelbſt. Wie wohlgefällig und 
wirkfam in den. Augen Gottes unfere Gürbitte für unfere leis 
denden Brüder fey, das iſt ed, was bie Evangeliften, durch 
den b. Geift erleuchtet „ befonderd auszeichnen wollten, darum 
fagen fie: „als der Heiland ihren Glauben fah.” 

Mit theilnehmender Liebe wendet. der Heiland Sich jet 
zu dem Kranken, und fpricht zu ihm ein Wort, welches gewiß 


feiner unter den Zuhdrern, welches auch der Kranke felbft nicht 
erwartet hatte, welched aber für diefen Kranken das troſtreichſte 


war, fpricht zu ihm: „Sey getroftl, Mein Sohn! deine Suͤn⸗ 
den find dir vergeben.“ Heilung der Krankheit hatte man etz 
wartet, und ' nun fpricht ber Heiland von Sündenvergebung. 
Aber aus befonderer Abficht ſowohl für die Zuhörer, als für 


den Kranken felbft, fprach der Heiland jened Wort zuerfl. Eben” 
diefe Krankpeit, die oftmald eine Zolge Finttißre Ausſchwei⸗ 


ar Thl. ate Aufl. 


m. — 


- 8 — 


fangen ik, wurde damals unter den Juden algemein als eine 
Strafe Gottes angeſehen. Es gibt gewiſſe Krankheiten und 
andere Uebel, die natürliche Folgen find von ſuͤndlichen Verge⸗ 
hungen und Ausſchweifungen, z. B. der Unmaͤßigkeit, Unkeuſch⸗ 
heit. Gott, der Urheber der Natur, und der heilige und weiſe 
Regierer der Welt, hat unſere Natur ſo eingerichtet, daß ſolche 
Folgen mit ſolchen Sünden unzertrennlich verbunden find, um 
und durch diefelbe von der Sünde abzufchreden und loszurei⸗ 
fen, um und dadurch Seinen großen Abfcheu an ſolchen Sün- 
den fichtbar und fuͤhlbar zu erkennen zu geben. Deßwegen 
find ſolche natürliche uͤbele Zolgen, die mit der Sünde immer 
in Verbindung flehen, wohl anzufehen als beflimmte göttliche 
Strafen; als Strafen, die dazu dienen follen, den Sünder 
durch Nachdenken Über fich felbft, durch Reue und Borfag zur 
‚ Beflerung, zu Gott wieder zuruͤckzufuͤhren. Diefed ganz rich⸗ 
tige Urtheil hat ber Heiland bei dieſer Gelegenheit befräftiget. 
Dagegen war Er weit entfernt, von einem anderen irrigen und 
ſtraͤflichen Vorurtheil, als wenn man jeded natürliche Webel 
für eine beflimmite göttliche Strafe eines befonderen fündlichen 
Bergehend anfehen dürfte, ohne daß baffelbe mit diefem Ver⸗ 
gehen in einer natürlichen Verbindung zu ftehen brauchte, Ein 
ſolches Vorurtheil ift immer ein fleäflicher Irrthum, der zu vie 
lem ſuͤndlichen Argwohn Selegenheit gibt. Ein ſolches Vor⸗ 
urtheil war damals unter den Juden fehr herrſchend, fo wie 
es auch noch häufig unter den Chriften fich finde. Wenn meh⸗ 
rere ungewöhnliche Unfälle über einen -Menfchen oder über ein 
Haus zufammenfchlagen; o wie fo bereit. find dann alfobalb 
die argwoͤhniſchen und. verläumberifchen Zungen, um die Urs 
fache folcher Unfälle in befonderen geheimen Wergehungen und 
Fehltritten zu finden, und folde Unfälle ſelbſt als göttliche 
Strafen anzufehen! wie ungerecht und lieblos wird dann oft 
geurtheilt! Von einem ſolchen Worurtheil waren felbft die 
Apoftel nicht ganz frei, indem fie ein ſolches Urtheil fällen 
wollten über den Blindgebomen, und über 18 Menfchen, die 
von einem herabfallenden Thurme waren erfchlagen worden. 
Mit welchem Exrnft hat der Heiland gegen ein ſolches, frevent- 








Ä 


* 


— 18 — 


liches Urtheil ſich erflärt! In der That iſt ein ſolches Urtheil 
ein freventlicher Eingriff in das Nichteramt Gottes. Der Gicht⸗ 
brüchige war zur Erkenntniß gekommen, daß er feine Krankheit 
durch eigene Schuld fich zugezogen hatte. Die Krankheit hatte 
ihn zum Nachdenken über fich felbft geführt: er hatte‘ feine 
Sünden erkannt und bereuet; fonft würde er Feine Vergebung 
erhalten haben. O daß alle Kranke, mögen fie ihre Krankheit 
durch eigene Schuld fich zugezogen haben, oder nicht; — daß 
fie ihre Krankheit, Die fie den Sorgen und Berflreuungen ber 
Welt entzieht, auf gleiche Art zum Nachdenken über fich felbft, 
zur Reue und Buße benugen möchten, damit die Krankheit des 
Leibes nach der weifen und liebevollen Abficht der göttlichen 
Zürfehung ihnen zur Genefung und zum Heil der Seele gerei⸗ 
chen moͤge! — 


Der Gichtbruͤchige hatte fich hintragen laſſen zu dem Hei⸗ 


lande, in der Hoffnung, von ſeiner leiblichen Krankheit geheilet 
zu werden. Sehnlicher war gewiß noch fein Verlangen nach 


leiblicher, ald nach geiftlicher Hüufe; fo groß auch fein Glaube 
war, fo war doch fein Glaube noch nicht fo groß, daß er dem 
Heilande auch die Macht, die Krankheit der Seele zu heilen, 
die Macht, Sünden zu vergeben, follte zugefchrieben haben. 


Nun wollte der Heiland Über Beides ihm belehren, Zuerſt 


wollte Er ihm und und Allen die große Lehre geben, dag und. 


mehr daran gelegen feyn müffe, von dem innerlichen Uebel, von. 


der Sünde, als von dem größten zeitlichen und leiblichen Uebel, 
von einer langwierigen und ſchmerzhaften Krankheit befreiet zu 
werden. O wie fehnlich ift dad Werlangen folcher Kranken, 


von ihrer Krankheit befreiet zu werben! möchte doch auf gleiche 


Art der Suͤnder dad Elend feiner Sünde und feines ſuͤndhaf⸗ 
ten Zuftanded erfennen, und nach Befreiung verlangen! Dann 


wolte 3. C. den Slanben biefes Mannes und aller Sünder 


fo weit erheben, daß er und wir Alle die Macht, Sünden zu 
vergeben, von Ihm erwarten follten. Und von wem follten wir 
biefe Macht erwarten, ald von Ihm allein, Der und zuruft: 


„Bu Mir Eommet, die ihr mühfelig und beladen feyd! Sch will 


euch erquiden! Der Menfchenfohn ift nicht der Gerechten, ſon⸗ 
12 * 


— 90 — 


dern der Suͤnder wegen in die Welt gekommen; iſt gekommen, 
zu ſuchen und ſelig zu machen, was verloren war;“ als von 
Ihm allein, Der für unfere Sünden geftorben ifl, Der unfere 
Sünden mit Seinem Blute getilgt hat? Obſchon der Kranke 
dad Wort:. „Deine. Sünden find dir vergeben,” aus Dem 
Munde ded Heilandes gewiß nicht erwartet hatte, fo mußte 
doch diefes Wort ihm, von feiner Sünde gedrüdt, und wegen 
Vergebung geänftigt, gewiß ein Wort des Troſtes feyn, und 
- ihn erheben zu der Hoffnung,. daß Derjenige, Der die Macht 
habe, das Größere zu verleihen, ihm das Geringere nicht ver- 
ſagen werde; Der die Macht habe, die innerliche Urfache der 
Krankheit, die Sünde, aufzuheben, auch die Macht und den 
geneigten Willen haben werbe, ihn von der Krankheit zu hei⸗ 
len; Der die Macht habe, die Schuld zu erlaffen, auch den 
Willen haben werde, ihm die Strafe nachzulaffen, ihn von der 
Strafe zu befreien. Für ihn war alfo jened Wort ein Wort 
des Troſtes und der Hoffnung, weil er gläubig war. 

Aber auf die umftehenden Pharifüer und GSchriftlehrer 
machte diefed Wort einen ganz entgegengefeßten Eindrud, weil 
fie nicht gläubig waren, weil fie-nicht glauben wollten. „Es 
faßen aber dafelbft etliche der Schriftlehrer, die dachten in 
ihrem Herzen: Wie redet diefer alſo? Er Iäftert Gott; wer 
Tann Sünden vergeben, ald allein Gott?” Wenn fie Ihn nicht 
für den Meffias erfannten, fo "hatten fie nicht unrecht, jenes 
Wort für Gottesläfterung zu halten. Sie. fprachen hier aus 
ihren heiligen Büchern. So heißt ed im Buche Job: „Wer, 
als Du allein, kann reinigen ben, der von Geburt unrein iſt?“ 
Job. 14, 4. Und beim Propheten Iſaias heißt ed: „Ich bin 

8, Ih Selbſt, Der Ich Deine Verbrechen tilge um Meinet- 
willen, und deiner Sünden nicht mehr gedenken werde.” Iſ. 
43, 25. In diefem Glauben, daß Bott allein die Sünden 
vergeben koͤnne, flehete David: „Nach der Vielheit Deiner 
Erbarmungen tilge meine Ungerechtigkeit, wafche mich von der⸗ 
felben mehr und mehr, und reinige mich von meiner Sünde!” 
: Pf. 50, 2 u. 3. Wer alfo, ohne die Macht zu haben, fagt, 
er Fönne die Sünden vergeben, der läftert Gott. Denn wer 





—_ 19 — 


kann eine Beleidigung vergeben, als Derjenige, der beleidiget 
iſt? Gott iſt es, Der durch unſere Suͤnde, durch unſeren Un⸗ 
gehorſam verachtet und beleidiget wird. Darum ſeufzete Da⸗ 
vid: „Dir, Dir allein habe ich geſuͤndiget und Boͤſes vor Dir 
gethan.“ Gott allein kann im eigentlichen Sinne Suͤnden ver⸗ 
geben. „Suͤnden erlaſſen,“ ſagt der h. Auguſtinus, „iſt eben 
ſo ſchwer, als Himmel und Erde erſchaffen.“ Gott kann aber 
dieſe Macht, Suͤnden zu erlaſſen, Menſchen ertheilen, und hat 
ſie den Apoſteln und ihren Nachfolgern, den Prieſtern, ertheilt. 
Wer aber ſagen wollte, er koͤnne durch ſich ſelbſt Suͤnden er⸗ 
laſſen der wuͤrde Gott laͤſteren. 

Der Meſſias war in allen Verheißungen des alten Bun⸗ 
des als Derjenige angekuͤndiget, Der die Suͤnde der Menſchen 
vergeben, die Menſchen mit Gott wieder verſoͤhnen wuͤrde. 
Darauf zielten alle Verheißungen; als Suͤndenvergeber, als 
Verſoͤhner mit Gott war Er angekuͤndiget, wurde Er erwartet. 
Daß nun Er Selbſt dieſer erwartete Meſſias ſey, davon wollte 
Er jetzt jene Schriftgelehrten und und Alle nicht bloß mit 
Morten, fondern durch die That felbfl, und zwar durch ein 
zweifached Wunder, durch einen Beweis Seiner göttlichen All⸗ 
wiffenheit, und Seiner göttlihen Allmacht und Liebe überzeu- 
gen, Die Schriftgelehrten hatten ihre Gedanken nicht zu Worten 
kommen laſſen, denn es heißt ausdruͤcklich: „fie dachten in ihrem 
Herzen; es heißt ausdruͤcklich: „und alsbald, da Jeſus er- 
Fannte in Seinem Geift,” nicht als Menfch ihre Worte ver= 
nahm, fondern ald Gott erfannte in Seinem Geift, „daß fie 
alfo dachten bei fich ſelbſt,“ „als Er,“ wie der Evangelift Lu⸗ 
kas fagt, „in Seinem Gift ihre Gedanken erlannte.” So 
gab Er ihnen durch die That felbft einen Beweis Seiner All 
wiffenheit. Denn wer da& Verborgendſte im Menfchen, wer 
feine unfichtbaren Gedanken weiß,. Der weiß Alles, Dem ift 
nicht$ verborgen. So bewied Er ihnen durch die That felbft, 
daß Er Gott gleich fey. Denn nach ihren heiligen Büchern 
wurde Gott allein die Allwiſſenheit zugefchrieben. Darum heißt 
es: „Du ganz allein Fenneft die Herzen.” 2 Chron. 6, 30. 
In den Pfalmen heißt es: „daß Gott allein unfere Herzen unb 


1982 


Nieren durchgründet.” Beim . Propheten Jeremias heißt «8: 
„Ziefer, als Alles, iſt dad Menfchenherz.” Serem. 17, 9. 
„Er ift ein Menfch, wer wird ihn ergründen? Der Menſch 
ſieht das Geſicht, Gott ſieht das Herz.“ 

Was that nun der Herr, als Er in Seinem Geiſte die 
Gedanken der Schriftgelehrten erkannte? Waͤre Er nicht Gott 
gleich geweſen, ſo haͤtte Er nothwendig ſagen muͤſſen: „Ihr 
irret euch, ihr machet euch einen falſchen Begriff von Mir; Die 
Macht, Sünden zu vergeben, habe Ich nicht; fo müffet ihr 
Meine Worte nicht mißverfiehen; Sch habe dem Kranken nur 
Hoffnung machen wollen, daß Gott ihm vergeben werde, habe 
ihm nur Muth eingefprochen, und dadurch feine Heilung beförs 
dern wollen.” Aber nichtd dergleichen fprah Er, um ihnen - 
ihre Meinung, daß Er Sich Gott gleich mache, zu benehmen; 
Er bekräftigte fie vielmehr in diefer Meinung, fowohl durch 
Sein Wort, ald durch Sein Wert. „Was denkt ihr Arges in 
euerem Herzen?” ſprach Er, und bewies alfo, daß Er ihre 

Gedanken wußte. Das Arge befand in ihrem richterlichen Ur⸗ 
theil, Er fey ein Gotteöläfterer. In ihrer Meinung, daß Er 
Sott Sich gleich mache, hatten fie Recht; denn das folgte aus 
Seinen Warten. Daß fie aber daraus folgerten, Er fey ein 
Gotteslaͤſterer, darin hatten fie Unrecht, darin befand ihre 
Sünde. Sie. hätten denken müflen: entweber ift Er Gott 
. gleich, ober Er iſt ein Gotteslaͤſterer. Das Erfte hätten fie 

unterfuchen müffen, anftatt daſſelbe ohne alle Prüfung, bloß 
aus vorber.gefaßter Meinung zu verwerfen, Und nun legt der 
Heiland den Schriftgelehrten eine Frage vor, welche. fie zum 
ernfilichen Nachdenken. auffordern ſollte; die Frage: was ift 
leichter, fagens „beine Sünden find bir vergeben, ober fagen: 
fich auf, und wandele?“ Die Vergebung ber Sünden war 
etwas Innerliches, ganz Werborgenes, worüber man feinen 
Beweis fordern konnte; die Heilung der Krankheit war aͤußer⸗ 
lich und fihtbar, mußte durch den Erfolg ſich bewähren; das 
Acußerliche follte daher zur Beſtaͤtigung des Innerlichen, Un: 
fichtbaren dienen. Diefe Krankheit wurde ald Strafe Gottes 
angefeben, was fie in der That auch war. Heilte num der 





— 1 — 


Heiland die Krankheit, fo war das ein Beweis, daß Gott die 
Strafe. erlafien hatte Da nun Feine Strafe erlafien wird, 
wenn nicht zuvor die Schuld erlaflen ift, fo war die Heilung 
der Krankheit ebenfalls ein Beweis, dag Gott auch bie Schuld 
erlafien, das heißt: die Sünde vergeben hatte. Hatte nun J. 
©. von Gott die Macht empfangen, eine Krankheit zu heilen, 
die man als Strafe Gottes anſehen mußte; fo mußte man 
daraus fchließen, daß Er auch die Macht empfangen habe, bie 
Sünden zu vergeben. Ganz natürlid war der Schluß von 
der einen Macht auf bie andere. Zeierlich flellte daher ber 
Heiland die Frage auf: ob.benn ein Unterfchieb ſey zwiſchen 
jenen beiden Machtaͤußerungen? 

Auf's Hoͤchſte geſpannt war uͤber dieſe Frage die Aufmerk⸗ 
ſamkeit des Volks und der Schriftgelehrten. Und der Herr 
gab ſogleich die Antwort auf dieſe Frage mit der That felbſt, 
indem Er mit hoher, goͤttlicher Wuͤrde ſprach: „Damit ihr 
aber wiſſet, daß der Sohn des Menſchen die Gewalt habe, 
Suͤnden auf Erden zu vergeben; Ich ſage dir,“ ſprach Er zu 
den Gichtbrüchigen,. „ſteh auf, nimm dein Bett hinweg, und 
gehe nach Haufe!’ Sohn des Menfchen, Menfchenfohn nennt 
Sid hier der Heiland, wie Er gar oft Sich nennt, um damit 
anzudeuten, zu welder tiefen Exrniebrigung der eingeborne Sohn 
Gotted um: unſers Heils willen Sich berabgelaffen habe, um 
- und zu erlöfen, und und wieder zu Kindern bed ewigen Vaters zu 
erheben; Menichenfohn nennt Er Sich, um damit anzudeuten, 
daß Er zu und Sic erniebziget habe, und durch Annahme mit 
und gleicher Natur unſer Bruder geworden ſey. Seine Ernie 
drigung und ‚unfere Erhöhung. will Er damit andeuten. Es 
ift ein ruͤhrender Ausdruck innigfler, zartlichfter Liebe, wenn ber 
eingeborne Sohn Gottes, dem Water gleich, Menfchenfohn Sich 
nennt, womit Er fagen will: „Sch bin emered Gleichen gewor⸗ 
ben.” Mie Gott. übes Adam nady feinem Falle dad Urtheil 
ſprach: „Sich! der Menſch ift. unferd Gleichen worden, ſo daß 
er Gutes und Böfes erkennt;“ 1 Moſ. 3, 22; fo mußte der 
eingeborne Sohn unſers lid. werben, damit wir wieder 
Kinder Gottes werden moͤchten. 


Sie, ba. dee Heiland gpenfenfo Sich nennt, wollte 
Er damit. den Schriftgelehrten fagen: - „Damit ihr wiſſet, daß 
Derjenige, Den ihr bloß für ben gemeinen Sohn eined Men- 
hen haltet, Der euch bloß als ein Menſch erfcheint, die Macht 
habe, Sünden zu vergeben; fo fage Ich;“ darum ſprach Er 
zu dem Gichtbrüchigen: „Ich Selbſt bin ed, Der die Macht 
hat dich zu heilen; Ich Selbft bin ed, Der dad Wunder thut 
‚und dich heilet; Ich Selbſt bin ed alfo, Der aud die Macht 
bat, die Sünden zu vergeben, und Der die Sünden vergibt; 
Sch Selbft bin es, Der mit Gott gleiche Macht hat und uͤbt; 
Ich Selbft, der Menfchenfohn, bin alfo Sohn Gottes und 
Gott gleich,“ 

Alfobald, als der Herr dad Wort gefprochen hatte, fland 
der Gichtbrüchige auf, und nahm hinweg das Bett, worauf er 
gelegen hatte, und ging vor aller Augen, ging in fein Haus, 
und preifete Gott. ‚Und fie erflaunten Alle, und preiſeten Gott, 
Der folhe Macht Menſchen gegeben: und vol: der Ehrfurcht 
fagten fie: „Niemals haben wir folche Dinge geſehen; wunder⸗ 
bare Dinge haben wir heut geſehen.“ Mit diefen Worten ers 
zählen .uns die Evangelifien den außerordentlihen Eindrud, 
welchen nicht nur das Wunder felbft, fondern auch indbefondere 
die Art, mit welcher der Heiland. bafjelbe verrichtete, auf das 
Volk gemacht habe: Und wenn wir auf diefe Art unfer Nach⸗ 
denken richten, fo können wir die Abficht des Herrn nicht ver= 
Fennen, daß Er durch diefed Wunder den Glauben an Seine 
göttliche Sendung, als an ben Meffiad, an den eingebornen 
Sohn Gottes, an Seine Steichheit mit dem Water vorbereiten, 
erweden, beleben und befefligen wollte. „Damit ihr wiſſet,“ 
fprah Er, „daß Ich die Macht habe, welche Sott allein zus 
kommt, die Macht, Sünden zu vergeben;“ und nun that Er 
alfobald zum Beweiſe biefer. Seiner innerlichen,- unſichtbaren 
Macht ein Außerliches, ſichtbares Merk im Angeficht des Volks 
und Seiner Feinde, welches als ein Werk götklicher Allmacht 
nicht geleugnet werben konnte. Der Heiland berief Sich alfo 
auf Seine göttlichen Werke, um Glauben an bie Goͤttlichkeit 
- Seiner Lehre zu forderen. Darum. fprach Er einfl: „Wenn 


— I — — — —— — —⏑ —7—7—— 7—7— 


Ich die Werke Meines Vaters nicht thue, fo glaubet Mir nicht! 
wenn Ich ſie aber thue, und wenn ihr Mir nicht glauben wol⸗ 


let; ſo glaubet den Werken, auf daß ihr erkennet, daß der Va⸗ 
ter in Mir iſt, und Ich in dem Vater!" Joh. 10, 37 u. 88. 


IL, 


Wir glauben Senn Worten und Werken. Wir glauben, 
daB 3. C., der eingeborne Sohn Gottes, durdy Seinen Tod 
am Kreuze und die Vergebung ber Sünde erworben hat. Wir 
glauben, daß 3. ©. am Abend Seiner Auferfiehung Seinen 
Apoſteln und Ihren Nachfolgern die Macht, in Seinem Namen 
Sünden zu vergeben, ertheilt hat. Wir glauben, daß I. €, 
ber wahre Sünvdenvergeber, durch biefe Anftalt dad Werl, wos 
zu Er gekommen war, bad Werk, die Sünder felig zu machen, 
in Seiner. Kirche durch Seine Diener noch immer fortießt und 
fortfeßen wird, biö zum Ende der Welt. 

Welchen unauöfprechlichen Troſt, ‚welche Beruhigung bat 
Er. durch diefe Anfalt und gegeben! Wenn ber Suͤnder be- 
fimmter Vergehungen und Sünden fich ſchuldig weiß; wenn 
er zus Erkenntniß kommt, die Gnade Gottes durch feine Suͤn⸗ 
ben verwirkt zu haben; wenn er deßwegen feine Sünden ernfl« 
lich zu bereuen anfängt; ift e8 ihm dann nicht das dringendſte 


Bebürfniß, von der Huld und Gnade Gotted wieder verfichert - 


zu feyn? Wie ſoll er dieſe Werficherung erhalten? Sich felbft 
kann er dieſe Verſicherung nicht geben; in feiner eigenen Sache 
kann er fein eigener Richter nicht fein; Richter, durch göttliche 
Anordnung dazu beflimmt, können allein ihm biefe Beruhigung 
und Verſicherung geben. Wie follen aber diefe Richter im 
Stande ſeyn, darüber. zu urtbeilen, ob der Sünder der. Berges 
bung würdig fey, oder nicht? Da fie dem Sünder nicht in 
dad Herz ſehen können, fo muß ber Sünder ihnen fein Herz 
eröffnen, muß feine Sünden nach der Wahrheit aufrichtig bes 
Tonnen, Ohne dieſes Bekenntniß, ohne die Beichte, ift fein 
richtiges Urtheil möglich. Dieſes Bekenntniß, fo brüdend. das⸗ 
felbe von einet Seite auch. feyn mag; iſt von der anderen Seite 
nothwendig, ſelbſt für bie Beruhigung bed Sünder. Der Sin; 


- 1 — 
der, ber von Seiner Suͤnde fih wahrhaft gedrht fühlt, fin- 
det fich gebrungen, fie irgend einem Menfchen: zu bekennen, fin- 
det nicht eher Ruhe und Erleichterung, bis er fie in irgend ein 
menfchliches, theilnehmendes Herz audgefchüttet hat, fo fehr ihm 
. Alles daran gelegen ifl, daß fie vor der ganzen Welt verborgen 
bleiben möge, 

Diefem dringenden Beduůrfniß iſt nun unſer Heiland J. C. 
auf die liebreichſte Art zu Huͤlfe gekommen durch die Anord⸗ 
nung der Buß⸗ und Beichtanſtalt, fo wie dieſelbe in unſerer 
Kirche verwaltet wird. Diele Anftalt, die von einer folchen Art 
und. Beichaffenheit ift, daß fie unmöglich eine. menfchliche Er⸗ 
findung feyn Tann, ift, von allen Seiten betrachtet, gewiß das 
wirkſamſte Mittel zur wahren Beflerung, welches nur immer 
möglich iſt. Sie ift das wirkſamſte Mittel, um die begangene 
Sünde zu tilgen, und uns zugleich vor dem Rüdfallen zu be= 
wahren. Gott hat dad aufrichtige Bekenntniß unferer Sünden 
als unerläßliched Bedingniß zur Vergebung ‚gefordert; und biefe 
Forderung , welche firenge Gerechtigkeit zu ſeyn ſcheint, iſt nur 
Barmherzigkeit und Liebe. Menſchen ſtrafen nur dasjenige, 
was man entdeckt. Im göttlichen Gerichte wird nur dad, was 
man verhehlet, beftrafl. Wenn ihr euere Sünden mit herzli⸗ 
her Reue befennet, fo ‚vergibt fie Gott, und. befirafet euch nicht; 
wenn ihr euer Anklaͤger werbet, fo hört Gott .auf, euer Richter 
zu ſeyn. Darum iſt unfer Bekenntniß nicht durch Zwang und 
Furcht erpreßt, ſondern es iſt freiwillig, weil.wir wiflen, ‚daß 
ed und nur Gnade und Heil bringt. „Darum,“ Sagt der h. 
Chriſoſtomus, „bekennen wir auch unfere geheimften Gedanken. 
Wir, foricht er, Üben eine h. Zucht aus, wir. unterwerfen dem 
Richterftuhl der Kirche fogar unfere Gedanken, und zwar deß⸗ 
wegen, weil.der Glaube uns lehrt, daß diefed Belenntniß un⸗ 
feree Gedanken und verborgenften Sefinnungen, anflatt uns ein 
Urtheil der Verdammung zuguziehen, vielmehr allen Urtheilen, 

Die, wir von ber göttlichen Gerechtigkeit würben zu. befürchten 
haben, zuvorlommt, und und vor berfelben bewahrt.‘ Darum 
flehete David: „Reinige mich von meinen Suͤnden, denn ich 
erkenne meine Webertretung.!“ Pf. 50, 4 u. 5. Da nun Gott 





— 117 — 


Selbſt ein ſolches Gewicht legt auf dad Welenntniß unferer 
Sünden; follten wir dann noch Anſtand nehmen, fie Denfchen 
zu befennen, die durch göttliche Anorbnung dazu beftimmt find, 
Seine Stelle bei ben Sünbern zu vertreten? Gott hat ges 
fordert, daß wir unfere Sünden nicht nur Ihm, fondern auch, 
daß wir fie Menfchen bekennen follen. - Das hat Gott befwes 
gen gefordert, weit ed kein wirkfamere& Mittel zu unferer Bel 
ferung geben kann, als das Bekenntniß unferer Sünde Muͤſ⸗ 
fen nit Alle, felbft diejenigen, die von unferer Kicche fich ges 
trennt haben, ed geflehen, daß alle wahre Beſſerung nothwens 
Dig mit’ einer gründlichen Selbfterkenntniß, alfo mit einer forg» 
fältigen Prüfung unferer felbft anfangen muß? Wir wiſſen 
felbft ans eigener Erfahrung, . wie ſchwet diefe Selbfiprüfung 
uns oft wird, wie ungern wir daran wollen, wie gern. wir 
barlıber hinweg eilen. Wie noch weit ſchlimmer würde es da⸗ 
mit ausfehen, wenn wie nicht zum Bekenntniß verpflichtet waͤ⸗ 
ren! Was man aufrichtig und umfländlich bekennen muß, daß 
muß man auch ganz genau zu erkennen ſuchen. Die Pflicht- 
des Bekenntniſſes iſt der ſtaͤrkſte Antrieb zur Selbſtpruͤfung, 
das wirkſamſte Mittel zur Selbfterkenntniß. Steht es mit dem 
erſten Anfange, mit der Seibfterfenntniß fehlecht; wie noch viel 
fhlechtee muß «8 dann mit allem Folgenden, mit Reue und 
Vorſatz ſtehen! Indem ich mich nun verpflichtet erkenne, meinen 
innerlichen Zuſtand forgfältig zu prüfen, weil ich über die Be⸗ 
fchaffenheit deffeiben ein wahres und aufrichtiges Bekenntniß 
ablegen muß; ift es nun nicht genug, daß ich meine. Sünden 
bloß erfenne, „daß id," wie. Jakobus jagt, „mein Angeficht 
im Spiegel beſchaue, und Zieden in demfelben bemerke,“ fon- 
dem, indem ich fie bemerke, finde ich mich auch angetrieben, 
mein Geficht von denfelben zu reinigen. Meine: forgfältige 
Selbfiprüfung, wozu die Pflicht des Bekenntniſſes mich an⸗ 
freibt, gibt mir meine Sünde nicht bloß zu erfennen, fondern 
ift. mir auch ber Präffigfte Antrieb, diefelbe genauer in ihrer 
wahren Schändlichkeit und Größe zu betrachten, die Gefahr, 
in welche diefelbe mich verſetzt, das Elend, welches fie fhon | 
über mich gebracht, und mich noch befürchten laͤßt, ernſtlich zu 


X ) \ sun 
— 188 . 


erwägen; iſt mir alfo der flärkfte Antrieb zur herzlichen Reue, 
ohne ‚welche Peine Vergebung ift, und zu einem aufrichtigen 
Vorſatze. Dad Belenntniß alſo, die Beichte iſt das wirkſamſte 
Mittel, um alled.dad, was zur wahren, innerlichen Buße ges 
hört, um Gerviffenserforfpung, Reue und Vorſatz mit defto 
“größerem Ernſt zu üben. 
Noch um deſto wirkſamer erfcheint ‚uns dieſes Mittel, weil 
dad Bekenntniß, welches immer eine tiefe Demüthigung iſt, 
unferen Stolz und Hochmuth, die Wurzel alles Uebels in uns, 
‚aufs kraͤftigſte angreift, Durch Uebung ber Demuth und zur 
wahren Demuth führt, ohne welche keine wahre Tugend beſte⸗ 
hen kann. Nichts demüthiget uns fo fehr, als das Bekenntniß 
unferer Sünden vor anderen Menfchen. Das allgemeine Bee 
kenntniß: „ich bin ein fündiger Menſch,“ ift und wirkt Feine 
Demuth; das weiß ein jeber Menſch. Das innerliche Bekennt⸗ 
niß unferer Sünden vor Gott allein ift ebenfalls noch Feine 
Demuth, da wir wiflen, daß Gott unfere Sünden weiß. Zu 
diefem Bekenntniß, welches man fogar als ein Zeichen befonde= 
rer Frömmigkeit und Gottesfurcht anfieht, wird Eeine befondere 
Demuth erfordert. Dad Bekenntniß aber, welches wir einem 
Menfhen, den wir als Stellvertreter Gottes anfehen, ablegen; 
dem wir dad Verborgenfte in unferem Innern offenbaren, deſſen 
Urtheil und Zucht wir und unterwerfen, ‚muß nothwendig un⸗ 
ſern Stolz baͤndigen und unſere Demuth befoͤrderen. O wie 
ſehr fühlt der Sünder, der Stolze am meiſten, die Buͤrde die⸗ 
fer Demüthigung! wie fehr wird aber ein Jeder von ihrer Noth- 
wendigfeit überzeugt, fobald er ihre Fruͤchte Durch eigene Ers 
fahrung kennen lernt, und bekennt gern mit dem h. Sänger: 
„Es ift mir gut, daß Du mich gedemuͤthigeſt haſt!“ 

Wie das Bekenntniß der Sünde, die Beichte, das wirk⸗ 
ſamſte Mittel iſt, um uns durch wahre, innerliche Buße von 
der wirklichen Suͤnde zu reinigen und zu befreien; ſo iſt ſie auf 
gleiche Art auch das wirkfamfte Mittel, um uns in der Gnade 
Gottes zu erhalten, und und vor dem Nüdfall zu bewahren. 
Es ift Lehre unſers Glaubens, daß wir durch das demüthige 
und reumuͤthige Bekenntniß nicht nur bie Vergebung der began- 





— 19 — 

genen Sünden, fonbern auch eine neue Gnabe und Kraft er 
halten, um immer an Tugend zu wachſen, und gegen alle 
Reizungen zur Sünde gefehügt zu werben. Gott vergibt 
nicht nur das Alte, fondern gibt zugleich noch neue Gnaben, 
fo, als wenn wir feine Schuld, fondern nur Verdienſt um 
. Ihn hätten. Dur Seinen Tod am Kreuze hat 3. €. uns 
diefe Löftlichften aller Güter, diefe reinigenden, heiligenden Gnas 
den erworben, und ertheilt uns diefelbe in reichlichſter Fuͤlle 
jedesmal, wenn wir unfere Sünden demuͤthig und reumüthig 
bekennen. Nicht unfer eigened Wollen, nicht unfere nach fo 
oft erneuerten Vorſaͤtze, fondern allein Diefe göttlichen Gnaden 
find vermögend, und vor dem Rüdfalle zu ſchuͤtzen. 


Die Diener der Kirche, die Priefter des Herrn find bie 
Werkzeuge, wodurch diefe Gnaden bem Sünder zu Theil wer- 
den. Diefe find aber nicht bloß Ausfpender der Gnaden, fon= 
dern zugleich Diener des Worts, um bie Gefinnung wahrer 
Buße in den Herzen der Sünder zu erweden, zu unterhalten 
und zu befefligen. In feiner eigenen Sache, wenn ed auch 
nur feine äußerlichen Güter betrifft, fol der Menſch fein eige⸗ 
ner Richter nicht feyn, wie piel weniger kann und fol er es 


feyn in der zarteften aller Angelegenheiten, in ber Angelegens 


heit feined Gewiſſens, wo fo Vieles zufammentrifft, was fo leicht 
ihn verblenden und täufchen koͤnnte! Wie fehr bebarf der 
Menſch, auch der Gebildete, in dieſer Angelegenheit fremden 
Raths und fremder Hülfe! Wie viel vermag das Anfehen eines 
Mannes, in dem man nicht den Merifchen, fondern den Steliver- 
tretee 3. ©. anfieht, um den Berblendeten zu erleuchten, um 
ben leichtfertigen Sünder zu erfchütteren, um den Gleichguͤlti⸗ 
gen, Sorglofen mit Nachdrud zu warnen, um den Geängfteten 


zu beruhigen, den Muthlofen zu erheben, um Alle und Jede 


zu ermuntern, und auf dem Wege wahrer Buße weiter zu fühs 
‚ ten, um burch heilfamen Rath und nachdruͤckliche Warnung vor 
dem Rüdfall zu bewahren! So muß es und denn ganz eine 
leuchtend feyn, daß das Bekenntniß unferer Sünde, die Beichte, 
das wirkſamſte Mittel iſt, ſowohl um die begangenen Suͤnden 


— 


-1-— 


zu tilgen, als auch, um uns vor dem fan zu bewahren, 
ald das wirffamfte Mittel unferd Heils ift. 

O, daß wir doch diefed Mittel, welches 3. ©. Selbſt zu 
‚unferm Seile angeordnet hat, mit größerem Ernſt und Eifer 
zu unferem Heile, zur Rettung unferer Seele anwenden moͤch⸗ 
ten! . Wenn auch dieſes Mittel fir uns fruchtlos bleibt; was 
kann, was fol dann und noch retten? Das Belenntnif iſt 
zwar unerläßlich nothwendig, das ift der Wille des Ham; 
aber dad Bekenntniß allein wird und. nicht retten. Das Be 
kenntniß muß die Außerliche Wirkung unferer innerlichen Buße 
feyn, muß aus wahrer, herzlicher Reue hervorgehen, und mit 
einem aufrichtigen Vorſatze, abzuftehen von der Sünde, ver: 
bunden ſeyn; nur ein folches Bekenntniß findet Vergebung und 
Gnade, und rettet die Seele des Simberd, Wie unfer Hert 
83.6 dem Kranken in unferm heutigen Evangelium die ganze 
Schuld und Strafe feiner Suͤnden erließ; fo if Er nach Sei⸗ 
ner Barmberzigkeit immer bereit, auch und bie ganze Schuld 
und Strafe unferer Sünden zu erlaflen, wenn wir mit reumuͤ⸗ 
thigem Herzen zu Ihm zuruͤckkommen, und unfere Sünden vor 
Ihm im Angefichte der Kirche Aufrichtig und demüthig befen- 
nen; und Er hat die Diener der Kirche dazu angeordnet, und 
in Seinem Namen die Sünden wirklich zu vergeben. Wir 
find. in der Sünde. Und die Stimme des Heren ruft und zur 
Reue, zur Buße, zur Vergebung. Wir wollen. diefer Stimme 
der Gnade und Barmherzigkeit nicht länger widerftchen, wir 
wollen mit reumüthigem und wahrhaft zerknirſchtem Herzen 
zurüdtehren zu unferem Herrn und Gott, damit das Wort 
ber Vergebung, welches Deine Diener über und auöfprecen, 
auch im Himmel beftätiget- werde; dad Wort ded Troſtes und 
ber Gnade: „Deine Suͤnden find dir vergeben.” Amen. 








— 1 — 
Vierzehnte Rede. 
Zweite Rede am neunzehnten Sonntage nach dem 
Fecſte der h. Dreifaltigkeit. 


Tert: 


„Was denket ihr Arges in eueren Herzen?“ Matth. 
O, 4. 
— Thema: 
Von den Pflichten, uͤber unſere Gedanken 
zu wachen. 


Sa der wunderbaren Begebenheit, die und dad heutige Evan⸗ 

gelium erzählt, offenbaren fich vorzüglich drei von den goͤttli⸗ 
hen Eigenfchaften unſers Heilandes 3. C. Im der. wunder⸗ 
vollen Hellung des Gichtbruͤchigen offenbart. fich fowohl Seine 
Allmacht, ald Seine unendliche Güte und Liebe; in der An- 
rede an die Schriftgelehrten: „Was denket ihe Arge in eueren 
Herzen?” — offenbart fi Seine göttliche Allwiſſenheit. Wenn 
Er’s ihnen auch vielleicht an ihren Mienen hätte anfehen koͤn⸗ 
nen, baß fie böfe über Ihn dachten, : fo konnte Er’s ihnen 
doch nicht anfehen, daß fie gerade das Uber Ihn dachten: Er 
läftere Gott. Daß Er aber nicht als Menfch aus ihren Mie- 
nen den immer doch umficheren. Schluß auf ihre. Gedanken 
machte, ‚fondern daß Er durch Seine göttliche Allwiſſenheit 
ihre, Gedanken erkannte; das fagt und der Evangelifi Markus, 
der im 2ten Kapitel die nämliche Begebenheit erzählt, ganz 
beftimmt, indem er fpriht: „Und alsbald, da Jeſus erfannte 
in Seinem Geift, daß fie alfo dachten bei ſich ſelbſt; ſprach 
Er zu ihnen” Eben fo fpricht auch der Evangelifi Lukas. 
Wie oft fagte Er auch Seinen Juͤngeru ihre Gedanken, ‘che 
fie jelbe in Worte geäußert hatten! So fagte Er auch dem 
Samaritaniſchen Weibe die größten Geheimniſſe ihred Herzens, 


— m. 


und bewog fie dadurch, Ihn für den Meſſas auzuertenuen. 
So ſprach Er zum Nathanael: „Ehe Philippus dich rief, da 
du unter dem Zeigenbaume faßeft, ſah Ih dich;“ und bewog 

ihn dadurch zu dem Ausrufe: „Meiſter, Du biſt der Sohn 
Gottes, Du biſt Iſraels Koͤnig!“ Ein gleicher Beweis Seiner 
goͤttlichen Allwiſſenheit iſt daher offenbar auch jene Anrede an 
die Schriftgelehrten, wodurch Er's ihnen zu erkennen gab, daß 
Er die verborgenen Gedanken ihres Herzens ganz genau kannte 
und wußte, Wären fie nicht fo verfiodt geweſen; ſie hätten 
vor Ihm nieberfallen und mit Nathanael ausrufen muͤſſen: 
„Meifter! Du bift in Wahrheit der Sohn Gottes!” Seine Er⸗ 
enntniß ihrer Gedanken mußte für fie. ein eben fo großes 
Wunder ſeyn, als die wunderbare Heilung des Kranken, bie 
Er ſogleich darauf verrichtete. Aber fuͤr ſie war Beides verlo⸗ 
ren; denn ſie waren und blieben verſtockt. Was fuͤr ſie ver⸗ 
loren war und blieb; moͤchte dad nun für und zum Heile ſeyn; 
denn auch zu unferer Belehrung und Warnung ift ed aufge 
fchrieben. Und wahrlich, vol der Belehrung und Warnung ift 
diefe Wahrheit für und: I. C., unfer- Richter, kennt und weiß 
unfere geheimften Gedanken. In der That wunderbar 'iſt Seine 
Erfenntniß von uns, da Er ſogar unfere Gedanken kennt. Sind 


. wir von dieſer Wahrheit überzeugt; muͤſſen wir’! dann nicht 


"als heilige Pflicht anfehen, über unfere Gedanken zu wachen?! — 
Die nähere Beherzigung diefer Gedankenpflicht ſey der Gegen⸗ 
ſtand unſeter beutigen Betrachtung. 


L . . 

Es ift ein gemeined und beliebtes Spruͤchwort, welches 
man oft hört: „Gedanken find zollfrei.“ Das ift freilich wahr, 
wenn man bloß auf dad BVerhältniß zwiſchen Menfchen und 
Menſchen ſieht. Kein Anderer kann mir in dad Herz fehen, 
kein Anderer weiß meine Gedanken, kein Anderer kann mid 
über das, was ich bloß denke, zur Nechenfchaft äiehen. Darum 
heißt ed: der Richter richtet nicht über dad Innerliche, fondern 
nur Über das, was äußerlich if. Ganz unrichtig und falſch ifl 
aber jenes Spruͤchwort, wenn man auf dad Verhältniß zwifchen 





— 108 — 


Gott und dem Menſchen fieht, weil Gott auch unſere Gedam 
ken weiß. Der Argwoͤhniſche alſo, welcher arge und boͤſe Ge⸗ 
danfirı über feinen Naͤchſten in feinem Herzen unterhält, der 
Rachgierige, der indgeheim Rache brütet, und nur auf die Ge- 
Iegenheit wartet, verfündiget fich gegen Gott, gegen Gottes 
Alwiffenheit und Heiligkeit, wenn er zu feiner Entfhuldigung 
und Beruhigung auf jenes Spruͤchwort fich beruft, wenn er 
ohne Sünde zu feyn glaubt, fo lange feine Gedanken nicht zu 
Worten und Werken gefommen find, wenn er, wenn fie gar 
nicht dazu gefommen find, über feine Gedanken fich nicht eins 
mal mehr bekuͤmmert, ed nicht für nothwendig erachtet, dieſelben 
vor fein Gericht zu ziehen, und fie zu.bereuen, gerade fo, als 
wenn Gott feine Gedanken nicht beraerkt hätte. 

D wie fehr irren alfo diejenigen, die ganz gleichgültig ges 
gen ihre Gedanken find! So lange fie in dieſer Gleichguͤitig⸗ 
keit beharren, ſind ſie den groͤßten Gefahren ihres Heils be⸗ 
ſtaͤndig ausgeſetzt. So wie der Heiland, unſer kuͤnftige Rich⸗ 
ter, die Gedanken jener Schriftgelehrten ſah: fo ficht Er 
auch immerdar alle unfere Gedanken; kein einziger Gedanke, 
wenn wir auch felbit und feiner kaum bewußt find, iſt Ihm 
verborgen; die Gedanken liegen fo offen vor Ihm dar, ald. das 
volbrachte Werl, Er weiß unfere Gedanken, ehe fie einmal 
entflanden find. Petrus hatte noch Feinen Gedanken an feine 
Verleugnung, glaubte fich gegen biefelbe fo ficher, daß er fie 
nicht einmal für möglich hielt, als der Herr fie ihm vorher⸗ 
fagte. „Kein Gefchöpf iſt,“ wie der Apoftel Paulus fagt, „vor 
Ihm unfihtbarz fondern Alles iſt nadt und aufgededt. vor den 
Augen Desjenigen, Dem wir Rechenſchaft zu geben haben.“ 
Hebr. 4, 13. 

Wenn die b. Schrift uns ſagt, daß Gott die Zahl der 
Sandkoͤrner am Meere und der Tropfen im Meere und die 
Zahl unſerer Haare kennt, ſo bewundern wir mit tiefſter Ehr⸗ 
furcht und heiliger Anbetung Gottes Groͤße in Seiner wunder⸗ 
‚baren Allwiſſenheit. Wenn aber die heilige Schrift und lehrt, 
dag Gott ale Gedanken aller Menfchen, bie waren, find und 


ſeyn werden, weiß, alle ihre vergangenen, gegenwärfigen und 
ar Chl. ate Aufl. 13 


- 1 — 


zukünftigen Gedanken; daß Gott alle Gedanken aller Menichen 
vom erfien Gedanken Adams an bis zum lebten Gedanken des 
letzten Menfchen vor dem Weltgerichte, mit Einem Blidt, in 
Einer lebendigen Anfchauung fieht und weiß: o dann fühlen 
wir und noch weit mehr von flaunender Bewundetung ergrifs 
fen, um Gottes Größe in Seiner Allwiffenheit mit tieffter Ehre 
furcht anzubeten! Was in ber fihtbaren Natur geſchieht, iſt 
fichtbar und ift abhängig von Gefegen der Nothwendigkeit; der 
Gedanke des Menfchen aber ift unfichtbar, und viele feiner Ge- 
danken werden beftimmt durch feine eigene freie Willkuͤhr. Wie 
fehnel und wunderbar und abwechfelnd ift das Spiel der Ge⸗ 
danken in eines Menſchen Seele oft in der Eürzeflen Zeit! Tief 
anbetend rufen wir aus mit David: „O Gott! Du ergründeft 
und erfenneft mich. Du weißt ed, ich mag figen ober fliehen, 
Du fiehft von ferne, was ich denke. Du bift um mid im 
Sehen und im Ruhen. Du bift vertrauet mit allen meinen 
Wegen. Noch ehe ein Wort auf meiner Zunge fchwebt, weißt 
Du, o Gott! ed fon ganz... Ja wunderbar ift dieſe Kennt- 
niß mir, zu hoch und ımerreichbar meiner Kraft. Wohin fol ich 
vor Deinem Geifte gehen? wohin vor Deinem Blide fliehen?. . 
Spraͤch ich: umhüllen wird mic) doch die Finfterniß; fo würde 
felbft die Nacht um mich zum Licht. Die Zinfterniß verfinftert 
nicht8 vor Dir; Dir leuchtet Nacht wie Tag, und Finſterniß 
wie Licht." Wir beten und flehen daher mit David: „Erfors 
fche mich und prüfe meinen Sinn! und fieh! ob ich den Weg 
des Böfen wandle, und leite immer mich auf Deinen Weg 
Pſ. 138. 

Wozu verpflichtet und nun dieſe Lehre, daß Bott bie vers 
borgenften Gedanken unferd Herzend erkennt? — Erkennt fi 
Gott nach Seiner Allwiffenheit: fo bat Gott nach Seiner Hei⸗ 
ligkeit Wohlgefallen an unſeren guten, Mißfallen an unſeren 
boͤſen, ſuͤndlichen Gedanken. Kann und darf und Sein Wohl- 
gefallen und Mißfallen nicht gleichgültig ſeyn: fo dürfen wir 
auch gegen unfere Gedanken nicht gleichgültig ſeyn; fo haben 
wir bie heiligfte Pflicht, auch über unfere Gedanken zu wachen. 
Wer diefe Pflicht verabfaumt, wer über Seine Gedanken nicht 





— 185 — 


mit Sorgfalt wachet: kann nicht rein und gut werden, kann 
es nicht bleiben. Faſſen wir's alfo wohl zu Herzen: nicht 
bloß durch Werke und Worte, fondern auch durch Gedanken 
innen wir dad Wohlgefallen Gottes erwerben und verlieren, 
feines Mißfallens und fhuldig machen! Wie kann es auch ans 
ders feyn, wenn wir dereinft follen gerichtet werden nach der 
Gerechtigkeit, wenn und nicht zu viel und nicht zu wenig ge⸗ 
fchehen ſoll? Iſt nicht der Gedanke fhon der Anfang, und zu= 
gleich die Seele unferer Reden und Werk? Kann ic Etwas 

eben, oder thun, was ich nicht zuvor gedacht habe? und wenn 
auch nicht ein jeder Gedanke immer in Worten oder Werken 
ſich aͤußert; iſt nicht der Gedanke fuͤr ſich allein ſchon ein in⸗ 
neres Werk, welches an und fuͤr ſich ſchon gut oder boͤſe ſeyn 
kann? Bedenkt einmal: was iſt von beiden wohl ſtraͤflicher 
und ſuͤndlicher: wenn Einer von einem Anderen empfindlich be⸗ 
leidigt wird, und ihm in der erſten Hitze ſogleich auf der Stelle 
wieder eine Beleidigung verſetzt? oder wenn Einer nach einer 
empfangenen Beleidigung lange bei ſich daruͤber nachdenkt, wie 
er ſich an dem Anderen wieder raͤchen koͤnne, wenn er auch an 
der Ausuͤbung dieſer Rache moͤchte gehindert werden? Oder 
auch: wenn Einer unvermuthet zu einem unehrbaren Blick, und 
hierdurch zu einer ploͤtzlichen Aufwallung von Begierden hinge⸗ 
riſſen wird; oder wenn er fuͤr ſich allein eine geraume Zeit mit 
ſolchen unehrbaren Gedanken ſich beſchaͤftiget? Wir find, wo 
unſer Gedanke iſt; ſind das, was unſer Gedanke iſt. Der Ge⸗ 
danke iſt das Werk unſerer Seele. Wir ſind nicht in der Kirche, 
wohnen nicht der h. Meſſe bei, wenn unſer Gedanke draußen 
iſt, obſchon wir dem Leibe nach in der Kirche ſind. Wie un⸗ 
ſtatthaft und durchaus unwahr iſt daher jenes Spruͤchwort: 
„Gedanken ſind zollfrei!“ ſie ſind es wahrlich nicht vor den 
Augen des allſehenden Richters, Der unſere Herzen und Nie⸗ 
ren durchforſcht, Der unſer Innerſtes kennt, Der uns nicht nach 
dem Aeußeren, ſondern nach dem Inneren vergelten und richten 
wird. Worte und Werke ſind gleichſam nur das Kleid, nur 
die aͤußere Huͤlle der Gedanken, die Der nicht zu beachten be⸗ 
darf, Der das Innere ſelbſt zu ſehen vermag. Gott kennt uns 

| 13 * 


fo genau, daß Er unfere Gedanken weiß, ſchon ehe wir ſie ge⸗ 
dacht haben, da Er die Quelle kennt, woraus jeder unſerer Ge⸗ 


danken entſpringt. Die Gedanken ſind die Verraͤther unſers 


Inneren. Wie du denkſt: ſo biſt du; und wie du in Wahr⸗ 
heit biſt: ſo wirſt du einſt vor Gott gerichtet werden. 


II. 


x Unter Gedanken und Gedanken gibts aber freilich einen 
großen, fehr großen Unterfchied. Es gibt Angftliche Seelen, 
‚welche einen jeden in ihnen auffleigenben Gedanken fogleih für 
ſuͤndlich halten, fi darüber fehr ängfligen und beunruhigen, 
: und. durch ihre Angft und Furcht gleihfam herbeirufen. Es 
gibt dagegen eine weit größere Zahl leichtfertiger. Menfchen, 
bie aus fündlihen Gedanken ganz und gar Fein Gewiflen fich 
machen; ed gibt Viele unter diefen, welche ohne Scheu die ſuͤnd⸗ 
lichften Gedanken mit Wohlgefallen unterhalten, welche, weil es 
ihnen an Gelegenheit fehlt, das Werk felbf auszuüben, in den 
erluftigenden Gedanken gleichfam eine Entſchaͤdigung fuchen, 
welche, obſchon fie äußerlich vor ber Welt noch rein find, die 
innerliche Reinheit des Herzens ganz und gar verloren haben, 
welche vor Gott, dem Alwiffenden, als unrein da ſtehen. Hat 
nicht 3. C. den Ausfpruch gethan: „Wer ein Weib anfieht, 
ihrer zu begebren; der hat fchon Ehebruch mit ihr in feinen: 
Herzen begangen?" Matth. 5, 28. Hat Er dadurch nicht aus⸗ 
druͤcklich erklärt, daß die freiwillig unterhaltene böfe Begierde, 
welcher es zur Ausführung nur an Gelegenheit fehlt, vor Gott 
“eben fo. fhuldig fey, als das vollbrachte Werk ſelbſt; ja wohl 
noch mehr fündlich feyn Fönne, indem wir im Evangelium les 
fen, daß Er einmal eine wirkliche Ehebrecherin von dem Vers 
dammungsurtheil freigelprochen habe? Iſt ed nicht der Geift 
Seiner ganzen Sittenlehre, daß der ganze Werth oder Unwerth 
unferer Handlungen und Werke mit abhange von ben innerlis 
chen Abfichten und Beweggruͤnden, alſo vor den Gedanken, 
welche wir dabei haben? 
Wem ed daher um fein Heil ein reblicher Ernft if, wer 
das Wohlgefallen Gottes für fein größtes und einziges Gut, 





— 107 — 


das Mißfallen Gottes für fein einziges wahres Uebel anflebt: 
dem iſt aͤußerſt batan gelegen, zu wiffen, wie er über feine Ge 
danfen, ob fie fündlich feyen, oder nicht, zu urtheilen habe. 
Diefes hängt am meiften ab von der Art und Weife, wie bie 
Gedanken in uns entftehen oder entflanden find. Wenn wir . 
darauf achten, fe werden wir hauptfächlich breierlei Arten von 
Gedanken unterfcheiden. Einige derſelben find von der Art, 
daß fie ohne alle Äußerliche Weranlaffung. entflehen, daß wir 
und die Zahl folcher Gedanken nur noch vermehren, und fie 
felbft als ihre alleinigen Urheber anfehen müffen. Wir bringen 
fie mit Bewußtſeyn hervor, halten fie an mit freiem Willen, 


und haben an ihnen Wohlgefallen; oder wir fuchen die Gele: . . 


genheit zu ſolchen Gedanken felbft auf, und Käufchen uns dann 
felbft, als wären wir unvermuthet von denfelben Aberfallen 
worden. Oftmals find ſolche Gedanken fchon Zolge und Wir: 
kung böfer Gewohnheiten und Neigungen, und entfichen daher 
fehr leicht und fehr oft in und. Solche Gedanken find gerade 
fü, als das boͤſe Merk felbft, anzufehen, und von demfelben 
gar nicht unterfchieben. Won ihnen’ gilt. der Ausfpruch unfers 
Herrn 3. &: „Wer ſolche Gedanken und WBegierden hat und 
unterhält, der hat die böfe That felbft. ſchon vollbracht.” Du 
haft daher eine dem Todtſchlage aͤhnliche Shinde begangen, wenn 
du rachgierige Gedanken oder Begierden gegen deinen Bruder 
freiwillig in deinem Herzen nährft und unterhält. Du haft 
eine Sünde begangen, bie eben fo böfe ift, ald das Merk der 
Unzucht felbft, wenn du dich allein begiebſt, um ungeflört un⸗ 
züchtigen ‚Gedanken, Borftellungen und Begierden nachhangen 
zu Fönnen. - Andere. Gedanken find von der Art, daß fie nur 
bei. Gelegenheit, nur durch den Eindrud aͤußerer Sinne, 3. 3. 
durch Blicke, Reden, Umgang in uns entfliehen. Die erſte Ent⸗ 
fiehung folcher. Gedanken Fönnen wir dann zwar nicht immer. 
vermeiden. Seben wir felbe aber mit Vergnügen und Wohl: 
gefallen fort: fo ift die Sünde vor der Thür, oder wirklich 
fhon da. : „Denn die Begierde, wenn fie empfangen hat, ges 


biert die Sünde,” fpricht der h. Sacobus 1, 15. Um fo firäflis 


her und fündlicher. find dann immer ſolche Gedanken und Bes 


— 18 — 


gierben ‚ je mehr wir die Gelegenheit vorausſehen Tonnten, je 
mehr wir hierin ‚unfere eigene Schwachheit ‚und. Reizbarkeit 
Tannten, und je weniger Ernſt und Vorſicht wir brauchten 
und je länger wir ſolche Gedanken mit Wohlgefallen anhielten, 
befonderd, wenn dieſes fogar. gegen die Stimme unferd Gewiſ⸗ 
fens geſchah. Wenn aber folche Gedanken ungefucht und wis 
der unfern Willen fih und aufbringen; dann nennt man fie 
Verſuchungen, die nur dam anfangen, fünblidy zu werden, fos 
bald wir ihnen mit unferm Willen beiftimmen: fonft find fie 
Prüfungen, die und. fehr zum Heil ſeyn tönnen. Noch eine 
andere Art vom Gedanken macht jene aus, die man bie flüch 
tigen nennt, die fommen und geben, ohne Bewußtſeyn, doch fo, 
daß wir uns ihrer hernach noch erinnern koͤnnen. Haben wir 
ſelbe nicht in ihrem Entſtehen verſchuldet, und nicht freiwillig 
‚angehalten: fo find fie zwar ohne Sünde; fie verrathen uns 
aber unſers Herzens‘ Grund und Gefinnung, weil dort, wo un⸗ 
ſer Schak iſt, auch unfer Herz if. 

Seht, m. C.! diefen wefentlichen Unterſchied muͤſſen wir 
zwiſchen ben Gebanfen machen, um und felbit von der einem 
Seite nicht zu leicht zu beurtheilen, und um und von der an⸗ 
deren Feine unnöthige Angft und Unruhe zu machen. Hieraus 
tönnen wir nun erkennen, wie wir mit unferen Gedanken vor 
Sott fliehen. Alle Gedanken, die guten und böfen, komnmen 
aus unferem Herzen. Die guten Gebanken kommen zwar aus 
gutem Herzen, aber’ fie fommen ürfpränglich - von Gott, Der 
ben guten Gebanfen im guten Herzen zuerft anregt. Ohne 
Gottes. zuvorkommende Gnade koͤnnen wir etwas Gutes nicht 
einmal denen. Wirſt du alfo eines guten Gedankens bir be 
wußt, 3. B. des Antriebes zum Gebet, bed Vertrauend auf 
Gott, der Verfühnlichkeit gegen deinen Beleidiger: fo fey dir 
bad zum Zeichen, daß Gott es ift, Der diefen Gedanken in 
- deinem Herzen wirkt, daß Seine Stimme dieſen Gedanken jett 
in dir ausſpricht; nimm ihn alfo auf mit Dank, bewahre ihn 
mit forgfältiger Treue, und bringe ihn alfobald zur Ausfuͤh⸗ 
zung! — Gute Gedanken entfliehen auch oft in einem umreinen, 
boͤſen Herzen; wie koͤnnte fonft der Suͤnder, ber von Gott ab⸗ 





— 18 — 

gewichen ift, wieder zuruͤckkkommen zu Gott? wie koͤnnte ber 
Sünder, welcher das Leben der Seele verloren bat, dieſes Les 
ben wieber in ſich erwecken? Gottes zuvorkommende Gnade iſt 
es, welche ben erſten Gedanken zum Nachdenken über fich ſelbſt, 
uͤber die Gefahr ſeines Zuſtandes, zur Reue und Buße in dem 
Herzen bed Suͤnders erweckt; welche den Simder zur Rettung, 
zum Geile, zur Vergebung ruft. O Suͤnder! verhärte bein 
Herz nicht gegen eine foldhe Gnade! Wenn der Herr, Den du 
verachtet und beleidiget haft, dich ruft, weil Er bir vergeben. 
will: o fo eile du zu Ihm mit reumuthigem Herzen, damit 
auch * durch Seine Diener Seine Stimme vernehmen moͤgeſt: 
„Deine Sünden find dir. vergeben!“ 

Wie alle gute Gedanken zwar aus unferem Herzen, aber 
urfprünglich von Gott kommen: ſo kommen alle böfe, fündliche 
Gedanken zunaͤchſt und urfpüngli aus unferem eigenen Her⸗ 
zen, kommen aus unreinem, böfem Herzen. Darum nennt der 
Heiland, da Er von unferem Herzen redet, nur lauter boͤſe 
Gedanken und GSefinnungen, die aus demielben kommen. Dars 
um fpricht Er: „Aus dem Herzen geben hervor boͤſe Gedan- 
ten, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebflahl, falfches -Zeugniß, . Las 
ſterung. Diefe find es, welche den Menfchen verunreinigen.“ 
Matth. 15, 19. 20. Wie dein Herz, bein Wille, fo find auch 
beine Gedanken; wie deine Gebanken, fo auch dein Herz. Willſt 
du alfo wiflen, wie du eigentlich gefinmt biſt, welche deine herr⸗ 
fhende Neigung ift: fo gib nur Acht auf deine Gedanken, wenn 
du ohne Beichäftigung biſt. Iſt in deinem Herzen Feindſelig⸗ 
keit, Haß, Neid, Mißgunft: fo fleigen auch ſolche Gedanken 
bei der geringflen Seranlaffung ‚oft ohne alle Veranlaſſung, 
in. deinem Herzen auf. Iſt die. unreine Luft in. deinem Her⸗ 
zen: fo werden, auch. oft und vielfältig unkeuſche, wolluͤſtige Ge⸗ 
danken in deinem Herzen aufgeregt. Iſt Eigennug und Habe 
jucht beine berrfchende Neigung: ſo ift auch dein Herz Immer 
vol von geld- und habfüchtigen Gedanken. Iſt Eitelkeit, Uep- 
pigkeit, Gefallſucht, Hochmuth deine herrſchende Neigung: fo 
ſind die Gedanken und Wuͤnſche deines Herzens auch immer 
uf folche. Dinge gerichtet. LAlle dieſe Gedanken werben nun 


zwar gewoͤhnlich durch die äußerlichen Sinne, vorzliglich durch 
die Augen veranlaffet; fie würden aber in dem Herzen, wenn 
ber Grund defjelben rein und gut wäre, feinen Plag und kei⸗ 
nen Raum finden. Auch das gute Herz wird durch folde 
“ Gedanken wohl angefochten, es verabfcheuct fie aber alfobald, 
und flößt fie zuruͤk; das böfe Herz; aber nimmt fi fi € auf, und 
haͤlt ſie an mit Wohlgefallen. 

Wenn nun alle boͤſe, ſuͤndliche Gedanken unmittelbar un 
urfprünglih aus dem Herzen kommen: fo zittere, o Menſch! 
vor deinem Herzen. fo wache forgfältig über dein Herz, fo bes 
kaͤmpfe dein Herz, fobald etwas Boͤſes in demfelben ſich regt! 
Wirſt du alfo eines böfen, fündlichen Gebanfens dir bewußt, 
fo laß es dir ſeyn, ald wenn J. C. Selbft mit Mißbilligung 
jegt zu die fpräche: „Was denkſt du Arges in deinem Herzen?“ 
So ſprach Gott zu Kain, ald in deflen Herzen der Mordges 
danke. ſchon aufgeftiegen war, mit nachbrüdiiher Warnung: 
„Die Suͤnde liegt vor der Thür, fie verlangt nach dir; du 
aber herrſche über fie!" 4. Mof. 4, 7. Darauf kommt ed als 
-Jein an, daß wir uns des böfen, fündlichen Gedankens fchnell 
bewußt werden. Wer nun nicht mit großer Sorgfalt wachſam 
iſt uͤber ſein Herz, über feine Gebanken, der wird auch nicht 
fogleich den in ihm auffleigenden Gedanken ald böfe und fünbs 
lich erkennen, wird ihn mit Wohlgefallen anhalten, und das 
Wohlgefallen wird in ihm ganz ſchnell, ehe er's ſelbſt bemerkt, 
zur Begierde werden. Der wird die Erfahrung machen, die 


der heil. Jakobus einem jeden unachtſamen, ſorgloſen Sünder 


weiſſagt, da er ſpricht: „Niemand ſage, wenn er verſucht wird, 
daß er von Gott verſucht werde! Denn Gott iſt unverſuchbar 
dem Boͤſen, und auch Er verſucht Keinen. Ein Jeglicher hin⸗ 
gegen, der verſucht wird; der wird von ſeiner eigenen Begier 
angezogen und angelockt. Die Begier dann, da ſie empfangen 
hat, gebiert die Suͤnde; die Suͤnde aber, da ſie vollendet iſt, 
gebiert den od.” Jak. 1, 13 — 15. Der freie Wille, der mit 
freiem Willen angehaltene Gedanke iſt gleichſam der Mann; 
die anlockende Begier, die Luſt iſt das Weib; aus der Vereini⸗ 
gung beider die Suͤnde, aus der Suͤnde der Tod. Das iſt 





_ 201 — 


der Weg der Suͤnde in dem Herzen des Menſchen. Umſonſt 
ſuchſt du das Boͤſe vor Gott und Menſchen zu verbergen. Gott 
ſieht das Boͤſe, was in dir iſt, vom erſten Gedanken, der noch 
ohne deine Schuld in dir aufſteigt, vom erſten Anfange deiner 
Schuld, da du mit Wohlgefallen den Gedanken anhielteſt, bis 
zur Vollendung des Werkes. 


III. 


Wir haben alſo die heiligſte Pflicht, uͤber unſere Gedan⸗ 
fen zu wachen; denn der Herr wachet über fi. Ja, m. E., 
wie müflen tiber fie wachen; denn ber Here wachet über jie 
Hier iſt ed, wo wir unfere Treue im Kleinen beweifen müſſen. 
Doch, was fage ich: Treue im Kleinen? ift ed mit unferen 
freiwilligen Gedanken und Begierden etwas Geringed und Klei⸗ 
nes? find fie nicht die Quelle unferer Worte und Werke, uns 
ferd Thuns und Laflens? Wer feine Gedanken nicht rein be= 
wahrt: der bleibt auch nicht rein von fündlichen Neben und 
Werken. Und wenn dad auch möglich wäre; preifet denn der 
Herr etwa diejenigen felig,' die nichts Boͤſes reden oder thin, 
fondern nicht vielmehr diejenigen, bie reined Herzens find? O 
wie Mancher mag vielleicht von böfen Reben und Werfen frei 
feyn, weil's ihm vielleicht an Gelegenheit dazu fehlt, deſſen 
Sünered aber ganz verunreiniget ift durch fehr viele fündliche 
Gedanken und Borftelungen, denen er ſich oft lange Beit freis 
willig hingibt! Diefer gleicht, wie der Heiland fo nachdruͤcklich 
foricht, einem uͤbertuͤnchten Grabe, das äußerlich ſchoͤn außfieht, 
aber inwendig voll Moder und Würmer iſt. Menn wir daher 
fo oft in unferen Herzen allerhand verbotene Lüfte nährten, 
wenn unfere Seele einer Pfüge glich, worin allerhand Unreinigs 
keit fih gefammelt hatte: fo rührte dieſes allein daher, daß 
wir unfere Gedanken nicht bewachten, daß wir den Heiligften . 
aller Heiligen, und Seine Allwiffenheit vergaßen. Diele Ver: 
geffenheit raubte dir, du guter Juͤngling! leider fo frühzeitig bie 
Herzensunſchuld, die noch bei dir in der fchönften Bluͤthe glaͤn⸗ 
zen follte. Diefe Vergeſſenheit entflellte in dir bald, fonft fo 
le Jungfrau, die Schönheit deiner Seele, bie dir viel-theurer 


— 202 — 

hätte feyn ſollen, als die ſchnoͤden Reize deines Koͤrpers. Nur 
derjenige iſt in Wahrheit Herr uͤber ſich ſelbſt, der Herr iſt 
über feine Gedanken, Vorſtellungen, Wuͤnſche und Begierden. 
| aus Derjenige ift Herr über fich felbft, der feine Gedanken, 
der feine Einbildungsfraft in feiner Gewalt hat. Ohne Kampf, 
ohne treuen Kampf läßt fich diefe Herrſchaft freilich nicht er⸗ 
ringen. Der h. Aloyfius, diefed vortrefflihe Mufter hoher Rei- 
nigkeit, dieſes fchöne Vorbild der chriftlichen Jugend, hatte fie 
durch treuen Kampf errungen, indem er in aufrichtiger. Demuth 
ſich felbft dad Zeugniß ‚geben konnte: er babe ed durch Gottes 
Gnade dahin gebracht, daß .er denken Eönme, was er wolle; 
Dieſes Beiſpiel Ichrt und durch die That felbft, daß ed mög- 
lich ift, ganz rein zu werden. Wollen wir es aber. je zu wers 
ven hoffen: fo müflen wir damit anfangen, unfere Gedanken 
zu bewachen, felben Gewalt anzuthun. Ä 
Praͤgen wir und fie alfo noch einmal feft ein, die Wahr⸗ 
beit: wozu Menfchenaugen zu ſchwach und zu blöbe find, das 
fieht und weiß in ihrer ganzen Blöße und wahren Beſchaffen⸗ 
heit Derjenige, Der Überall iſt, Der Alles fieht und weiß. Ihm 
ſtehen alle Falten unferes Herzens offen. Er ergründet die 
Nieren; Er erkennt die Gedanken, ehe fie entfichen. Der Herr 
ſieht mich, Er weiß meine Gedanken ; vieles fol und Ehrerbie= 
tung vor Ihm einflößen, daß wir und einen Gedanken erlau⸗ 
ben, der uns Seiner Sreundfchaft beraubt und unſerer Seele 
ſchadet; fol unferen Eifer befeelen, unfer Herz gegen jede Ver⸗ 
unreinigung forgfältig zu verwahren. Bei jedem fündlichen 
Gedanken, der in und fich regt, fol ed und zu Muthe feyn, 
ald wenn 3. E. auch zu und fpräche: Was denkt ihr Arges in 
eueren Herzen? Und das foll uns genug feyn, ihn fogleich von 
und zu verbannen. Und — was noch bie Hauptfache iſt: es 
fol unfer eifrigftes Streben feyn, mit Abficht und mit eigener 
Selſtbeſtimmung unfere Gedanken oft und gern auf Gott, auf 
Sotted Gegenwart und Willen zu richten. In Sorgen und. 
Geſchaͤften, wie auch in Zerfireuungen und Bergnügungen wers 
den unfere Gedanken durch aͤußerliche Dinge befiimmt. Zur 
Beit ber Muße, wo wir ausruhen von Arbeit ober Genuß; ba 





ſollten unfere Gedanken nicht fogleich zu anderen zeitlichen Dins 
gen ſich wenden, um unferen Geift zulegt ganz irdiſch zu mas 
hen. In diefen ruhigen, ‚gewöhnlich nur kurzen Zwifchenzeis . 
ten follte unfer Herz alfobald zu Bott ich wenden. Wahthaf⸗ 
tig, ed ift Sünde und Schande, daß man lieber an alles Ans 
dere, lieber an die nichtigften, erbaͤrmlichſten Dinge, ald an 
Gott denken will; ja fogar lieber in Langeweile vergehen, als 
feines Gottes ſich erfreuen will. Wie die Magnetnabel, hat 
man fie auch nach allen Seiten herumgetrieben, Sobald fie in 
Ruhe kommt, in ihre vorige Richtung zurüͤckkehrt; fo follte un⸗ 
fer Herz, ſobald ed in Ruhe kommt, in-Liebe zu Gott wieder 
zuruͤkkehren; dieſe Richtung zu Gott follte feine natürliche, 
beftändige Richtung feyn, in welche es, fobald es ihm vergännt 
wird, immer fogleich wieder zurückkehrte Sollten wir nicht. 
gern und mit Freuden an Denjenigen gedenken, Der befländig 
and mit Liebe an. und gebenkt, uns nie aus Seinen Augen 
and aus Seinem Herzen läßt? 

So follten wie Gott ſuchen; dann würben wir bald felbft 
die Erfahrung machen, daß Gott nahe ift Denjenigen, bie Ihn 
ſuchen von Bergen. Amen. Ä 





Fünfzehnt e Rede. 
Am zwanzigſten Sonntage nach dem Feſte der h. 
Dreifaltigkeit. 


| Zert: | 
Die Parabel vom hochzeitlichen Kleide. Matth. 22, 1— 
14, in Berbindung mit Matth. 21, 83 — 46. 
—hema: 
Ueber den Beruf zum Chriftenthum. 


Um Tage nad) Seinem feierlichen Einzuge in Die Stadt, alſo 
nur einige Tage vor Seinem Leiden und Tode, hat unfer Hei⸗ 


land die Parabel des heutigen Evangeliums verkuͤndiget. Mit 
einer befondern Aufmerkfamkeit müflen wir die Reben und Leh⸗ 
ven betrachten, welche 3. C. in diefen lebten Tagen Seines 
Wandels auf Erden verfündiget hat. Je näher die Zeit Sei⸗ 
ned Todes Fam, um deſto deutlicher offenbarte Er Sich als 
den verheißenen Meffias auch durch Worte, ba Seine Werke 
-fehon vom Anfange Seined Lehramts Ihn als den Meffiad 
verfünbiget hatten. Wer feiner eigenen Vernunft felbft nicht 
widerfprechen wollte, mußte Ihn für den Verheißenen anerfen= 
nen. Alles war gefchehen und vorbereitet, um dieſen Glauben 
zu begründen, Auf diefem Glauben, dag Er der Meſſias fey, 
beruhete dad Heil und bie Rettung des Juͤdiſchen Volks, beru= 
hete dad Heil und die Rettung ded ganzen Menſchengeſchlechts. 
Darum wurden in diefer letzten Zeit immer dringender Seine 
Ermahnungen und Aufforderungen zum Glauben, immer dro⸗ 
bender Seine Warnungen gegen ihren Unglauben, immer. deute 
licher und furchtbarer Seine Weiffagungen der göttlihen Strafe 
gerichte, welche fie felbft durch ihren Unglauben über fich herab⸗ 
ziehen würden; immer heller und beflimmter die Ausfichten, 
welche Er bis in bie entfernteftle Zukunft eröffnete. Seine 
Liebe fuchte zu retten, was noch zu retten war. Die Verwer⸗ 
fung der Juden, und die Aufnahme der Heiden war daher in 
dieſen Tagen ein wefentlicher Inhalt Seiner Reben. Zwar 
fprach Er noch in Parabeln, die aber fo deutlich waren, daß 
Jedermann ed erkennen mußte, daß Er in denfelben von Sich 
Selbſt ald von dem Meffiad redete; bis Er nach einigen Ta⸗ 

gen vor dem hohen Rath, ald Kaiphas Ihn fragte: „Ich be= 
fhwöre Dich beim lebendigen Gott: fage und, ob Du: bift 
Chriftus, der Sohn Gottes!” da8 feierliche Bekenntniß ablegte: 
„Du haſt's geſagt. Ja, Ich fage euch: hinfuͤhro werdet ihr 
fehen den Sohn des Menfchen fißen zur. Rechten der. Kraft 
Sottes, und kommen auf den Wolken des Himmels.” Matth. 
26, 63. 64. Diefe Parabeln, obſchon bloß zu den Juden ge= 
ſprochen, obſchon bloß die Schiäfale des Juͤdiſchen Volks ent- 
baltend, find auch für uns fo bedeutend, als lehrreich. Sie 
Ichren und, wie Alled, was der Herr 3. C. vorherfagte, fo ge⸗ 





| — 05 — 

nau erfolgt iftz fie geben und Seine bis zum leßten Augenblid 
unermübdliche Liebe zu erkennen gegen biejenigen, die Ihm übel 
wollten, die Ihn bis auf den Tod verfolgten; und zuiegt geben 
fie und bie liebreichen Fügungen Gottes mit dem Juͤdiſchen 
Volle vom Anfange bid zum Ende zu erkennen. Und dieſes 
iſt für und Alle ungemein lehrreich. Wie Gott gegen das Juͤ⸗ 
diſche Volk gefinnet war: fo ift Gott gefinnet auch gegen uns; 
wie Gott jenes Volk mit Weisheit und Liebe zum Helle, zum 
Heilande leitete und führte: fo leitet und führt Gott auch und 
zum Seile, zum Heilande. Die Strafgerichte, die über die 
Zuden- ergingen, weil fie in ihrem Unglauben und in der Ver⸗ 
flodtheit ihres Herzens den Heiland verwarfen, geben und zu 
erkennen, was auch wir zu erwarten haben, wenn wir gegen 
die Lehren unſers Heilandes unfer Herz verhärten, und Ihn, 
wenn auch nicht mit Worten, doch durch unſeren Wandel und 
durch unſere Werke verwerfen. 


3* J. 

Ehe der Herr J. C. die Parabel des heutigen Evangeliums 
verfündigte, hatte Er unmittelbar vorher eine andere Parabel 
vorgetragen, welche nit dieſer in der nächften Verbindung ſteht. 
„Hoͤret ein Gleichniß!“ hatte der Herr zu den Prieftern gefpros 
benz; und nun erzählte Er das Gleichniß: „Ein Hausvater 
pflanzte einen Weinberg, und umgab ihn mit einem Zaune!“ 
— befefligte ihn ‚gegen. die Angriffe von Menfchen und von 
Raubthieren, — „und grub eine Kelter darin,” — um den 
Mein auszupreſſen, „und bauete einen Thurm,“ ſowohl um den 
Weinberg zu bewachen, als zum Vergnuͤgen; — „und er ver⸗ 
dingete ihn an Winzer,“ an Pächter, „und verreiſete.“ Der 
Hausvater ift dad Bild des himmlifchen Vaters; Alles, was 
der Hausvater that, um den Weinberg zu befefligen und auf’s 
ſchoͤnſte auszufchmücden, ift Bild aller dem jübifchen Volke von 
Gott erwiefenen Wohlthaten, ift in dem Sinne diefer Parabel 
dad. Bild der größten aller dieſer MWohlthaten: des wahren 
Slaubend, der wahren Religion. Darum fpricht der Herr fchon 
durch den Propheten Iſaias in zärtlicher Klage: „Was hätte 


Ich Meinem Weinberge noch thun koͤnnen, das Ich ihm nicht 
gethan hätte?” Die Winzer, Pächter find Bild der Priefter 
und Vorſteher, denen bie göttliche Lehre zur Verwaltung Als 
vertraue war, — 

„Da nun die Zeit der Früchte Fam, ſandte er feine Knechte 
zu den Winzern, daß ſie ſeine Fruͤchte empfingen. Und die 
Winzer griffen ſeine Knechte, den einen ſchlugen ſie, den ande⸗ 
ren ermordeten ſie, den anderen ſteinigten ſie.“ Sehet da in 
dieſem Bilde die Propheten und ihre Schickſale! Die Prophe⸗ 
ten waren von Gott geſandt, um das Volk zu ermahnen, wuͤr⸗ 
dige Fruͤchte der Buße zu bringen; und fo werden fie mißhan⸗ 
delt, . — mißhandelt wurden Alle; Iſaias, Ezechiel, Amos 
"wurden getödtet, Zachariad wurde gefleiniget. Abermal fandte 
der Haugvater andere Knechte, mehrere, ald zuvor; — Gott 
fandte andere und noch mehrere Propheten; — und fie. thaten 
ihnen desgleichen.“ 

Wie ein liebender Vater, welcher an einem ungerathenen 
Sohne alles Moͤgliche umſonſt ſchon verwendet hat, und nun 
nicht mehr weiß, und mit ſich ſelber zu Rathe geht, was er 
zur Rettung ſeines Sohnes noch thun koͤnnte: ſo laͤßt der Herr, 
um und die erbarmende Liebe Gottes ruͤhrend darzuſtellen, jenen 
Hausvater mit ſich ſelbſt uͤberlegen, und ſprechen: „Was ſoll 
ich thun?“ und dann den Entſchluß faſſen: „Ich will meinen 
geliebten Sohn ſenden; vielleicht wenn fie dieſen ſehen, werden 
ſie ſich ſcheuen.“ Dieſer Sohn war J. C. ſelbſt: Ihm erging 
es, wie Er's hier vorherſagte: „Da dieſen die Winzer ſahen; 
dachten fie bei ſich, und ſprachen: Dieſer iſt der Erbe; laſſet 
uns ihn toͤdten, daß das Erbgut unſer werde!“ Gerade ſo 
dachten und ſprachen einige Tage nachher die Prieſter, als ſie 
im hohen Rathe Seinen Tod beſchloſſen. Aus Neid und Ehre. 
fucht und Habſucht befchloffen fie Seinen Tod, damit fie defto 
ungeftdrter über das Bolt und beffen Hab und Gut fchalten 
und walten konnten. So gab der Herr den Prieſtern deutlich 
zu verftehen, daß Ihm ihre jetzt ſchon gefaßten Mordanfihläge 
wohl bekannt feyen. Aber ed blieb ohne Wirkung. „Und fie 
fließen ihn aus den ‚Weinberg Binaus, und töbteren ihn.” So 


— 207 — | 
wurde der Heiland auögeftoßen, den Heiben übergeben, auf daß 
Er gefreuziget würde. 

Nun legte der Herr den Prieftern die Frage vor: „Wenn 
num der Herr bed Weinbergd kommt, was wird er diefen Wins 
zern thun?“ Die Frage war fo beftimmt, daß fie, ohne alle 
Grundſaͤtze des Rechts zu verläugnen, keine andere Antwort 
geben Fonnten, als bie fie wirklich gaben; daß fie nad) dem 
Geſetze antworten mußten: „Er wird bie Uebelthäter übel ums 
bringen, und feinen-Meinberg andern Winzern verdingen, welche 
ihm die Früchte übergeben zur beflimmten Zeit.” So hatten 
fie, ohne in ihrer Werlegenbeit es feibft zu merken, fich felber 
das Urtbeil gefproden. Mit ſtarkem Nachdruck wiederholte das 
ber der Herr ihre Antwort: „Er wird kommen, und dieſe Wein⸗ 
gärtner tödten, und den. Weinberg Anderen geben.” So enthält 
diefe Parabel die ganze Geſchichte des Juͤdiſchen Wolf, bie 
vergangene, Die gegenwärtige, und die zukünftige in ber Din 
deutung auf den Untergang ded Juͤdiſchen Staats. 

Jetzt, da fie einfahen, daß die Antwort auf fie felbft deutete, 
ihnen dad Ustheil forach, wollten fie diefelbe von fich. ablehnen, 
und fprachen: „Das fey fen!” Als der Herr ihre Verſtockt⸗ 
beit fah, ſah Er auf fie bin, gewiß mit einem Blid vol Ernſt 
und Bedeutung, und ſprach: „Habet ihr nie gelefen in der 
Schrift: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der 
ift zum Edftein geworden; von dem Herrn ift das: gefchehen, 
und‘ es iſt wunderbar in unferen Augen?” Go heißt es Pi. 
117, 22. wo der Pfalmift darauf anfpielt, daß die Steine, die 
man beim Salomonifchen Zempelbau verworfen hatte, beim 
Bau des zweiten Tempels zu Edfteinen waren gebraucht wors 
den; Worbild unſers Heilands, Der, von den Juben verworfen, 
zum Eckſtein der ganzen Kirsche gemacht. wurbe, auf Dem allein 
unſer Heil beruhet. „Erbauet auf bie Grundfefle der Apoftel 
und Propheten, wo da ift der große Edflein Er Selbſt J. C.“ 
ſagt der Apoſtel Paulus. Eph. 2, 20. 

Was der Herr in der Parabel bildlich geſprochen hatte, 
ſagt Er jetzt ohne Bild, „Darum ſage Ich euch: das Reich 
Gottes wird von euch genommen, und einem Volke gegeben 


’ 


werben, welches beffen Früchte bringen wird.” So fprad Er 
den Prieftern das Urtheil, und verkuͤndigte das künftige Schick⸗ 
fal des Volks. Warnend und erfchütternd fügte Er dann noch 
hinzu: „Wer auf bdiefen Stein fält, der wird zerfchmettert 
werden; auf wen er fällt, ben wird er zermalmen.” Sich 
Selbft nennt alfo der Herr in diefem Bilde einen Stein des 
Anſtoßes; wer an benfelben fich anftößt, der fallt über ihn, und 
nimmt Schaden, body aber fo, daß er, wenn er feinen Irrthum 
fahren läßt, noch kann geheilet werden. Was zerbrochen, zer: 
fchmettert iſt, iſt der Heilung noch fähig. Wenn aber Jemand 
‚unten liegt, und der Stein von oben herab auf ihn fallt; fo 
wird er zermalmet werden, der Heilung, Rettung nicht mehr 
fähig feyn. Offenbar deutete der Heiland in diefem Bilde bin 
auf zweierlei Arten von Strafe für zweierlei Arten von Ungläu- 
bigen; zur Warnung für diejenigen, welche wegen Seiner Ers 
niedrigung. an Seine Hoheit. nicht glaubten, und an ihrer Seele 
Schaden nahmen, ber aber geheilet wurde, als fie nad Seiner 
Auferſtehung, und nad der, Sendung des h. Geiſtes an Seine 
göttliche Hoheit glaubten; zur Erfchütterung für diejenigen, 
"welche uuch nach dieſen Beweiſen Seiner göttlichen. Hoheit in 
ihrem Unglauben beharren würben; zur Erfchütterung fuͤr alle 
- Ungläubige allee nnd jeder, auch unferer Zeit. Wenn die Un- 
gläubigen in. ihrem Unglauben beharren: fo werden fie bereinft 
‚unter Sein Gericht fallen; „wenn fie,” wie ber h. Johannes 
ſagt: „ſehen werden, auf Wen fie geftochen haben, dann wird 
Er ald Richter fie verdammen, zermalmen. Sehet! fo wendete 
der Heiland in Seiner Liebe Alles an, Bilder und Gleichnifle, 
‚am die Ungläubigen, Seine ärgften Feinde, zu belehren und 
zur Erkenntniß zu bringen; Warnungen und Drohungen, um 
fie zu erfchättern, und dadurch, wo möglich, fie für die Wahr: 
heit zu gewinnen, und ihre Seelen zu retten. Aber fie blieben 
verſtockt; da fie erfannten, dag Er diefes Gleichniß auf fie ger 
fprochen hatte, wurben fie erbittert, und trachteten, ſchon in 
diefer Stunde Hand an Ihn zu legen, fürchteten abet das 
Volk, machten allerhand. Anfchläge, und blicben unterdeffen 


— 208 — 
noch bei Ihm, in der Hoffnung, etwas zu finden, weßwegen 
fie Ihn anflagen Könnten. 


IL, — 

Ohne auf fie insbeſondere zu achten, wendete Sich. der 
Herr 3. ©. jest an dad Volk, und trug demfelben die Parabel 
vor, welche wir in bem heutigen Evangelium gelefen haben, 
die mit ber " vorhergehenden faſt von der nämlichen Bedeu⸗ 
tung, und. als eine Fortſetzung berfelben anzufehen if. Die vor 
hergehende Parabel war ausfchließlich an die Priefler und Vor⸗ 
fieher gerichtet. Er fiellte ihnen vor, daß bloß Herrſchſucht und 
Habſucht fie leitete, dad Wohl des Volks ihrem eigenen 
Nusen aufzuopfern, daß fie in der WBosheit noch weiter gehen 
winden, als ihre Vorfahren, indem fie fogar an dem Sohne 
ihred Herrn fich vergreifen würden. - Ganz beſtimmt erklärt Er 
Sich ald den wirklichen Sohn Gottes, Der vor allen ihren 
Propheten den größten Vorzug habe. Dann tritt Er Selbſt 
ald Prophet auf, verkuͤndigt ihnen ihr und des Volkes Fünf- 
tiges Schickſal, ihre Werwerfung, und bie Aufnahme und Be⸗ 
gnadigung eines anderen Volks. Diefe Weiffagung, welche 
der Here in der vorhergehenden Parabel nur angedeutet hatte, 
wollte Er in der nun folgenden vom koͤniglichen Gaſtmahl noch 
mehr in's Licht ſtellen, und zwar auf eine ſolche Art, um das 
Volk, welches weniger ſchuldig, und mehr gelehrig war, als 
die Priefter, für den Glauben zu gewinnen. Deßwegen wählte 
der Here. dad erfreuliche Gleichniß von einem Gaftmahle, unter 
weichem man bie in bem Reiche des Meſſias herrſchende Gluͤck⸗ 
feligfeit fich vorzuftellen pflegte. 

Schon einmal-hatte der Heiland bei einer anberen Gele: 
genheit,. wie uns der Eoangelift Lukas berichtet, dad Reich des 
Meſſias in der Parabel von einem Abendmahle gefchildert, wel- 
ed wie am erflen Sonntage nach dem h. -Srohnleichnamöfefte - 
betrachtet haben. In diefer Parabel, die der Herr bei einem 
wirklichen von einem Pharifäer veranftalteten Gaftmahle mitten 
unter lauter Pharifdern vortrug, hatte Er die Abficht, ed an⸗ 
ſchaulich darzuſtellen, warum Seine Lehre unter den Juden 

Wr M. ate Aufl. | 14 


felbft fo wenig Aufnahme finde, daß nämlich ihre Sinnlichkeit, 
ihre Anhänglichkeit am Zeitlichen daran Schuld ſey. Darum 
befchloß Er die Parabel mit diefen Worten: „Ich fage euch: 
Keiner von jenen Lenten, die geladen waren, wird mein Gaſt⸗ 
mal verkoften.” Luf, 14, 24. In der gegenwärtigen Parabel, 
weiche der Evangelift Matthäus allein und’ aufbewahrt hat, 
führt der Here deutlicher und beſtimmter aus, was Er in ber 
vorhergehenden Parabel von den böfen Weingaͤrtnern fchon an- 
gedeutet hatte: den Unglauben und den dadurch bewirkten Un- 
tergang des Volks, und den Uebergang bed göttlichen Reiche 
auf die Völker der Heiden. Darum ift in diefer Parabel der 
Saftgeber ein König, der dad Recht und die Macht hat, zu 
ſtrafen. Es ift ein glänzendes Gaftmahl, welches ber‘ König 
feinem Sohne zu Ehren anftelt; darum ericheint bie Verſchmaͤ⸗ 
bung der Einladung ald eine Verachtung, als eine Beleidigung, 
als ein Ungehorfam gegen ben König und feinen Sohn. 

Laflet und jest die Parabel, die auch uns fo nahe angeht, 
mit Nachdenfen und Ehrfurcht betrachten. Der Herr J. ©. 
ſpricht: „Das Reich der Himmel ift gleich einem Könige, der 
feines Sohnes Hochzeit feierte.” Das Reich der Himmel, das 
Reich Gottes auf Erden, bedeutet zunächft die von Gott fhon 
im alten Bunde getroffene Anſtalt zum Heile der Menfchen, 
welche durch J. C., den Sohn Gottes, ihre Vollendung erhal: 
ten follte. „Warum, fragt der h. Chriſoſtomus, „wird dieſes 
Reich Gottes, wird bie Kirche einem Hochzeitmahl verglichen?“ 
und antwortet: „Damit du aud dem Berufe zu berfelben bie 
Fürforge Gottes und Seine Liebe gegen und erfennteft, damit 
du wüßteft, daß in derfelben Alles erhaben, Altes herrlich, 
Alles freudig, Nichts traurig und unangenehm ſey. Darum 
nannte Sohanned, der Täufer, J. C. einen Bräutigam. Darum 
foriht der Apoflel Paulus: „Sch habe euch verlobt, Einem 
Manne euch als reine Jungfrau, Chriſto barzubringen. “2 
Cor. 11, 2. 

Wir dürfen es nicht verfennen, daß der König, der himm⸗ 
liche Vater, Seinem Sohne, unferm Heilande zu Ehren dad 
feſtliche Mahl anſtellte. Wahrlich ein ruͤhrendes Bild! Welches 


— 21 — 


war biefes feftliche für den Sohn angeftellte Mahl? ed wear 
Sein Tod, der unfer Aller Leben geworben ifl. „So bat Gott 
bie Welt geliebt,. daß Er Seinen einigen Sohn für fie dahin 
gegeben, bamit Seber, der an Ihn glaubt, das ewige Leben 
haben möge.” Joh. 3. Und der. göttliche Sohn hat durch 
Seinen Rod und Alle erworben, daß wir als Gaͤſte zu Sei⸗ 
nem Mahle eingeladen find, um mit ben koͤſtlichſten Gütern 
erfühlet zu werben, und mit Ihm und Seinem Water in der 
innigfien Bereinigung zu leben. Darum fprac) der Heiland, auf 
Seinen Tod am Kreuze deutend: „Wenn Ich werde erhöhet feyn 
von der Erbe, werde ich Alles zu Mir ziehen.” Joh. 12, 32. 
‚And er fanbte feine Knechte aus, daß fie die Gelabenen 
zum Hochzeitmahle beriefen; und die wollten nicht kommen.“ 
Schon früher waren-die Gäfte alfo ſchon eingeladen; benn bie 
Knechte werben audgefchidt, bie ſchon Geladenen zu berufen. 
„Abermal fondte er andere Knechte aus, und fprach: Saget den 
Seladenen: ſiehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochſen 
und mein Maſtvieh find gefchlachtet, und Alles ift bereit: 
kommet zum Hochzeitmahl! Sie aber achteten nicht darauf, und 
gingen hin, der eine auf feinen Ader, der andere feinem Ge⸗ 
werbe nach. Etliche aber griffen feine Knechte, mißhanbelten 
und töbteten fie.” Won drei verfchiebenen Einladungen, wie fie: 
im Morgenlande gebraucdlich waren, iſt alfo hier die Rede. 
Nach der .erften, die ſchon früher geſchah, erfolgte hie zweite, 
damit die Gaͤſte fich vorbereiten konnten; und dann, wann 
dad Mahl ganz angerichtet war, erfolgte die dritte. Im die⸗ 
em Bilde erkennen wir deutlich genug die verfchtedenen Einla- 
dungen, bie an dad Volk der Juden gefchehen waren. Ohne 
Aufhoͤren waren fie. eingeladen worden durch die Propheten, ab⸗ 
zuſtehen von ihren höfen Wegen, ihren irbifchen Sinn abzus 
legen, und in wahrer Befferung des Herzens die himmlifchen 
Güter zu fuchen: ohne Aufhören waren fie hingewiefen auf 
Den, der ihnen das ‚Heil. bringen follte. Das war bie erſte 
Einlapung. Noch vor Kurzem war Iohannes der Zäufer un- 
ter ihnen aufgeflanden, hatte fie auf gleiche Art ermahnt, hatte 
au ihnen geſprochen: * ſteht ſchon mitten unter euch, Den 
14 *. 


— 312 — 

ihr nicht kennet, und deſſen Schuhriemen aufzulöfen ich nicht 
werth binz” hatte fie eingeladen, Diefem zu folgen: das war 
die zweite Einladung. Nun war Er Selbft aufgetreten, hatte 
fie drei Jahre hindurch unaufhörlich eingeladen, hatte ihnen 
zugerufen: „Kommet zu Mir, die. ihr muͤhſelig und beladen 
feyd, Sch will euch erquiden! Wen dürfte, komme zu Mir 
und trinke!“ Und nicht mit Worten nur, auch mit Werken 
Ind Er fie ein. Nach Seiner Himmelfahrt ließ Er fie durch 
Petrus und die anderen Apoftel einladen. Das war alfo die 
deitte Einladung, die an das Volk der Juden gefihehen war. 
Aber die Geladenen wollten nicht fommen : - einige gingen . auf 
ihre Landgüter ihren Vergnuͤgungen nach, andere zu ihren Ge- 
fhäften. Ihr irdiſcher Sinn, ihr Sinn für Luft und Vergnuͤ⸗ 
gen, und ihre Anhaͤnglichkeit am Zeitlichen verkehrte ihr Herz, 
daß fie die ihnen dargebotenen, weit beſſeren Güter verachte⸗ 
‘ten. Der h. Ehrifoftomus fagt: „Nicht, weil fie von Ge— 
fchäften verhindert waren, fondern, weil fie’ auß dem Gafl- 
mahle fich nichts machten, weil fie die Tönigliche Gnade ver- 
achteten; deßwegen kamen fie nicht." Wenn die geiſtlichen Ge⸗ 
ſchaͤfte und rufen, fo gibt es Fein nothwendiged Hinderniß. 
Einige unter ihnen gingen noch weiter; fie ergriffen. bie zu ih⸗ 
nen gejenbeten Diener, überhäuften fie: mit Mißhandlungen, 
tödteten fie. Wie der Apoftel Paulus fpricht und: diefe Stelle 
mit Einem Worte audlegt: „Sie haben ben. Herten und bie 
Propheten gemorbet, und auch uns verfolgt.” Roͤm. 11,3. 

„Da der König dad hörte, ward er zornig, ſandte feine 


- Deere. aud, und ließ. tödten diefe Mörder, und ihre Stadt ver: 


brennen.” Weil fie den Vater dadurch beleidiget hatten, daß 
fie dem Sohne nicht geglaubt; fo verhängte er über fie die 
Strafe. Wie fhrediih iſt dieſe Weiſſagung in Erfüllung ge: 
gangen! Die ganze Weltgefchichte hat Fein Beifpiel von. einer 
fo furchtbaren Verwuͤſtung, als es die legte Zerſtoͤrung Ieru- 
ſalems iſt. Und fiehe, - die- fpäteren Nachkommen ber ‚Mörder 
unſeres Heilanded wandeln bis zu unferer Zeit zerftreuet in ber 
ganzen Welt, Fein Volk mehr, und doch fo ‚aneinander han 
‚gend, fich einander fo Ähnlich! Ihr irdifcher Sinn drängt fie 








— 213 — 


unter den größten Mühfeligkeiten und Gefahren in bie furcht- 
barften Gegenden, unter die wilbeften Völker mit einem Eifer 
ber Habfucht, der nur durch den Liebedeifer derjenigen, die das 
Evangelium verfündigen, übertroffen wird. Und fo wandelen - 
fie unter uns umher, als ſtets lebendige Zeugen, welche die 
Wahrheit der Ausfagung unfered Herrn I. 6. wider Wiſſen 
und Willen beftätigen müffen. 

Hiermit fchließt fih nun der erfte Theil unferer Parabel, 
welcher die Verwerfung der Juden zum Gegenflande hat: wir 
kommen nun zu ihrem zweiten Theil, der uns felbft betrifft. 
„Das Hochzeitmahl tft bereitet, aber die Geladenen waren deſſen 
nicht werth;“ fprach "der König zu feinen Knechten. Lange 
Zeit war unterdeſſen vorbeigegangen, - nadhdem der König zum 
erftenmale gefprochen hatte: „Mein Mahl habe ich bereitet.” 
Dad Mahl ift und bleibt immer bereitet, die Einladung an 
Säfte, die deſſen würdig find, währt immer fort. Die Gela- 
denen waren ed nicht werth. Darum fpricht der Apoftel Pau- 
lus zu den Juden: „Zu euch mußte zuerft dad Wort Gottes 
geredet werden; weil ihre aber es von euch floßet, und euch 
felbft ded ewigen Lebens nicht werth achtet; fiehe, fo wenden 
wir und zu den Heiden.” Apoftelgefch. 13, 46. 

„Darum gehet hin,’ ſprach der König zu feinen Dienern, 
„auf die Ausgänge der Straßen: und ladet zum Hochzeitmahl, _ 
wen ihr findet.” Diefe Ausgänge der Straßen find die Schei- 
dewege auf dem Lande. So wie die Stadt Jeruſalem, die h. 
Stadt, das Bild des juͤdiſchen Volks war, fo bedeutet Alles, 

was außerhalb’ der Stadt ift, die Völker der Heiden. 

„Und die Knechte gingen aus auf die Straßen, und brach⸗ 
ten herbei, ‘wen fie fanden, Böfe und Gute; und der hochzeit- 
lihe Saal warb mit Gäften angefüllt.” Unter diefem Bilde 
wird alfo die Berufung der Heiden zum Reiche Gottes darge- 
ſtellt. Was der Herr hier im Bilde fprach, brachte Er in Er⸗ 
fuͤllung, als Er kurz vor Seiner Himmelfahrt Seinen Jüngern 
den Befehl gab: „So gehet denn hin, und lehret alle Völker!” 
Matth. 28, 19. Wurde nicht dad Evangelium ohne Unter- 
Nie Alen verkuͤndiget, wie J. C. Selbſt ſagt: „den Armen 


| — 214 — 


geprediget?“ waren ed nicht dieſe, die Geringeren, die Ungelehrten, 
die ed meiftend am erſten annahmen? weßwegen denn auch hier 


die Schlechten oder die Geringen vor den Guten oder Anfehn- - 


lichen zuerft genannt werden. Iſt ed nicht eine ber größten 
MWohlthaten, die durch dad Evangelium dem ganzen menfdh- 
lichen Geſchlechte zu heil geworben ifl, daß feine Lehren vol 
hoher, bimmlifcher Weisheit nicht das verborgene Eigenthum 


einiger Wenigen ‚geblieben find, wie es bei einigen Meilen des 


Alterthums der Fall war; fondern daß fie über Alle und Jede, 


über die Palläfte der Großen, und über die Hütten der Ge⸗ 


ringſten verbreitet werden; und daß daher der geringfte Knabe 
über die ewigen Dinge weit beflere Einfichten hat, wenigflens 
haben kann, als fie ehedem die größten und vor der Welt be- 
ruͤhmteſten Männer nicht hatten, die in Sachen des Heild voll 
Unwiſſenheit und Aberglauben waren und im Xhale der Fin- 
flerniß, und im Schatten des Todes fagen? — Möge ed uns 
etwas fonberbar vorkommen, daß ber König eine foldhe Einla- 
dung an Alle ohne Unterfchied ergehen ließ: ‚ganz ungewöhnlich 
war aber eine folche Einladung in dem fehr gafifreien Morgen- 
lande nicht; wie wir z. B. aus dem Gaſtmahl erfehen, wel- 
ched der Perfifhe König Ahafuerus für fein ganzes Voll an⸗ 
fiellte. Möge diefe Einladung und auch fonderbar vorkommen; 
das fol fie auch nach dem befondern Zwecke diefer Parabel. 
Wir follen daraus erfennen, wie wunderbar und unbegreiflich 
‚die Liebe ded himmlifchen Vaters gegen und Menfchen ifi, Der 
und, bie wir und zu ben Schlechten, Unwärbigen rechnen mäf- 
fen, auf fo mannigfaltige Art durch Lehre und Beiſpiel, durch 
Freude und Leib zu feinem Mahle einladet, und und einzula- 
den nicht ermüdel, 

Bis zu ber Zeit 3. ©. war die reine und wahre Gottes⸗ 
lehre faſt allein auf das einzige Volk der Juden beſchraͤnkt, 
und war zu Seiner Zeit auch unter dieſem Volke ganz entftellt 
und verdorben. Nach Seinem Tode wurde die heilige Stadt, 
den Voͤlkern der Erde gleichſam verſchloſſen, eroͤffnet; die ganze 
Erde wurde nun ein Jeruſalem, Eine heilige Stadt; die ganze 
Erde Ein heiliger Berg, wozu alle Voͤlker der Erde glaͤubig 


— 218 — 


hinfirömten. Darauf hatten die Palmen und die Propheten 
in mannigfaltigen Bildern fchon bingebeutel; das hat der Herr 
J. C. in unferer Parabel am beftimmtelten audgefprochen. Die 
Berwerfung der Juden und die Berufung der Heiden hat Er 
in Diefer Parabel fo deutlih, als befiimmt gelehrt. Nun fegt 
Er die Parabel noch weiter fort, um ben zulegt Berufenen, 
den Berufenen aud dem Heidenthum, eine: ungemein wichtige, 
eine ganz entfcheidende Lehre zu geben. Diefe Lehre geht zu⸗ 
naͤchſt und ſebſt anz denn wir gehören zu biefen Berufenen aus 
dem Heidenthum. Dem Könige war ed nicht barum zu thun, 
daß feine Tafel mit Gäften, fondern daß fie mit würdigen 
Säften befegt würde. Einladen follten feine Diener ohne Un- 
terfhied Gute und Boͤſe, Würbige und Unwürdige, von ber 
Einladung folte Niemand, auch der. Schlechtefte nicht ausge⸗ 
ſchloſſen feyn; jeder Gelabene follte aber zu einer folhen Aus- 
zeichnung und Ehre, an der Föniglichen Tafel ericheinen zu 
dürfen, fich anftändig vorbereiten, fich deflen würdig machen; 
wer dad verfaumte, und baburd eine große. Verachtung gegen 
feinen Herrn und König bewies, ben wollte er felbft ausſchlie⸗ 
Ben und fchwer beflrafen. Diefe Sefinnung hat nun ber Herr 
in dem Bilde einer anftänbigen Kleidung, eined hochzeitlichen 
Beierkleides. dargeftellt. Im Morgenlande war ed gebräuchlich, 
an diejenigen, bie vor einem Könige zur Audienz zugelaffen, 
oder gar zur Königlichen Tafel gezogen wurden, wenn fie felbft 
fein Feierkleid mitbrachten, vorher Ehrens oder Feierkleider zu 
vertheilen, damit fie mit gebührendem Anftand erfcheinen konn⸗ 
ten; eine Vernachlaͤſſigung dieſes Gebrauchd würde ald eine 
vermeſſene Verachtung gegen ben König angefehen und ſchwer 
beftraft worden feyn. Nun läßt unfer Herr den König ſelbſt 
im Speiſeſaale erſcheinen. „Da ging der Koͤnig hinein, die 
Gaͤſte zu ſehen; und er ſah allda einen Menſchen, der ‚hatte 
kein hochzeitliched Kleid’ an.“ Diefem Menfchen war alfo das 
Feierkleid von den Königlichen Dienern entweder angeboten 
Oder nicht. War es ihm nicht angeboten: jo hatten die Diener 
ihn alfo fir ganz unwuͤrdig erachtet; und ed war ‚offenbar 
eine große Berwegenheit, dieſer Zuruͤckweiſung ungeachtet fich 


— 216 — 


doch zum Mahle einzufchleichen. War es ihm angeboten: p 
hatte er es nicht angenommen, und ſein Betragen war dann 
noch ſtrafbarer, indem ed eine große Verachtung gegen ben Koͤ⸗ 
-.nig und feinen Sohn verrieth. Im jedem Falle verdiente er 
alfo die fchärffte Ahndung, die ihm auch wiberfuhr. 

„Freund!“ fprach der König zu ihm, „wie biſt du herge- 
kommen, und. haft Fein hochzeitliched Kleid an?" Sanft und 


milde nennt der König ihm noch Freund; wäre der Menfch dem 


Könige, um Verzeihung bittend, zu Füßen gefallen: der Kb- 
nig würde ihm verziehen, und feinen Dienern befohlen haben, 


ihm ein Feierkleid zu geben; uber im Bewußtfeyn feined Vers . 


brechend fehlte ed ihm an Wertrauen: er verfiummte, und gab. 
dadurch feine Schuld zu erkennen. Unfer Heiland nannte ja 
den Sudad, felbft im Augenblide des Verraths, noch Freund, 
und fprach zu ihm. die nämlichen Worte: „Freund, wozu bift 
du gefommen?” Auch er wuͤrde noch Gnade gefunden haben, 
wenn er feine Sünde bereuet hätte. 
Da der Menfch fich nicht entſchuldigen konnte, fprach der 
Herr zu feinen Dienern: „Bindet ihm Hände und Füße, und 
werfet ihn hinaus in die Außerfte Finſterniß; da wird ſeyn 
Heulen und Zaͤhnknirſchen.“ ine ſolche Verachtung, ein ſol⸗ 
ches fchwered Verbrechen verdiente eine folche Strafe. 

‚ Der König befhließt fodann fein Urtheil mit den Wor- 
ten: „Viele find berufen, aber Wenige anderwählt.” Man 
wuͤrde diefe Worte .unrichtig verflehen, wenn man daraus her- 
leiten wollte, daß nur Wenige in den Himmel kommen würden: 
man darf dieſe Worte nicht an und für. fihallein, fondern man 
muß fie im Zufammenhange mit der ganzen Parabel nehmen; 


und fo muß man diefelbe fowohl auf die Zuerfigeladenen, die . 


Juden, ald auf die Zuleßtgeladenen, die Heiden, beziehen. Die 
. Einladung war allgemein, „Viele find berufenz” doch wurde 
nicht Ieber zugelaffen, oder auserwählt; dazu wurde ein dem 
hohen Berufe angemeflener Wandel, eine damit übereinflim- 
mende Sefinnung erfordert, fowohl bei den Heiden, als bei 
ven Juden; fehlte es daran auch den Buleßtgelabenen, ‚ben Hei- 
den: fo ſollte ed} ihnen nicht beffer ergehen, als ben Juden, 





— 217 — 
die, indem fie auf bie Einladung gar nicht kamen, das Feier⸗ 
Eleid nicht einmal annehmen wollten. Denn Gott ifl gerecht 
und unpartheiifch, und nimmt Feine Rüdficht auf das Anfehen 
ber Perfon. 

Was follen wir nun unter dem Feierkleide verſtehen? Dar⸗ 
uͤber belehren uns die Apoſtel in allen ihren Ausſpruͤchen, wor⸗ 
in ſie vom Berufe zum Chriſtenthume handeln. So ſchreibt 
der Apoſtel Paulus an die Epheſer: „Ich bitte euch, wandelt 
wuͤrdig des Berufes, wozu ihr berufen ſeyd, mit aller Demuth 
und Sanftmuth, mit Duldſamkeit, ertragend Einer den Ande⸗ 
ren in Liebe, befliſſen, Einigkeit des Geiſtes zu erhalten Durch 
dad‘ Band des Friedens!“ Eph. 4, I—3. CEben fo der 
Apoftel Petrus: „Un befto mehr bemühet euch, ihr Brüder! 
daß ihr durch gute Werke eueren Beruf und euere Erwählung - 
ficher machet!” 2. Petr. 1, 10. Alſo nicht im Glauben allein, 
denn der Glaube ohne die Werke ift ein todter Glaube, und 
ohne allen Werth; nicht im Öffentlichen Gotteödienfte allein, 
nicht im Beten, Kirhengehen, Mefjehören allein, nicht allein 
in der Öfteren Theilnahme an-den h. Geheimniſſen befteht jenes . 
Feier- und Ehrenkleid, welches allein und bed Reiches J. C. 
auf Erden würdig macht und erhält. Es befleht in unferem 
ganzen Wandel nad dem Beifpiele und nach der Lehre I. € 
und der Apoſtel. Es befteht darin, daß unfer Wandel in. Als . 
lem übereinftimmend fey, mögen wir zu Haufe feyn, oder in 
‚der Kirche, in Arbeit oder in Erholung, beim Gebete oder bei 
einer erlaubten. Ergoͤtzlichkeit; daß unſer Wandel in Allem 
Menfchen beweife, die immerdar vor Gott leben, feinen h. Wil- 
len zu vollbringen ſich befireben, Menfchen, die Chriften find, 
und diefen ehrenvollen Namen immer duch die That beflätigen; 
die in ben Fußtapfen ihres göttlichen Herrn und Meifterd wan⸗ 
belen, in Allem-auf Sein Beifpiel fehen, nach Seinen Gebo- \ 
ten fich richten, und auf ſolche Art ihren erhabenen Beruf 
ſicher machen. 

AII. 

unſere Vorfahren, die Heiden waren, haben bie Einla⸗ 

bung zu dem großen Mahle, wovon I. E. in unſerer Parabel 


— 218 — 


foricht, angenenmnen. Diefer Annahme haben wir ed zu ver- 
danken, daß auch wir an bemfelben Theil nehmen bürfen. 
Denn wir find Chriften, und haben Theil an der zu unferem 
ewigen „Haile fhon im alten Bunde getroffenen Anflalt, - die . 
durch 3. €. ift vollendet worden. Um dazu wärbig zu wer- 
den, bat man und, ehe wir noch Bewußtſeyn hatten von ums 
ſelbſt, in der h. Taufe das Feierkleid angelegt. Aber gibt es nicht 
vielleicht Viele, die daſſelbe, wie jener Eine in ber Parabel, wie- 
ber abgelegt ‚haben? Leider, leider gibt es viele Ehriften, die — 
um bei unferem Gleichnifle zu bleiben — ohne bochzeitliches 
Kleid zu fehen find, Sie führen einen Wandel, ber ihres er- 
habenen Berufes ganz unwuͤrdig iſt; fie fcheinen Chriſtum ganz 
auögezogen zu haben, da fie Ihm fogar nidht gleichen. O was 
- würden fie wohl antworten fünnen, wenn auch an fie die Frage 
gefchähe: „Zreunde! mie ſeyd ihr hereingefommen, da ihr boch 
kein hochzeitliche® Kleid traget?“ Würden fie micht antworten 
müflen: „Wir haben ed wohl beim Eintritte und in früherer 
Qugend getragen, aber nachher fanden wir's zu unbequem; es 
hinderte und gar zu fehr an unferem gewohnten Gange, an 
der Befriedigung unferd Willens, unferer Neigungen.” Aber 
wird diefe Entfhuldigung angenommen werden? werben fie deß⸗ 
wegen ein befferes Schidfal zu erwarten haben? „Sie find 
deſto flrafbarer,” fagt der Apoftel, „da fie einmal find. erleuch- 
tet worden, und die himmtifche Gabe gefoftet haben, und theil- 
haftig geworden find des h. Geiftes, doch wieder abgefallen 
find.” Hebr. 6, 4. „Wenn denn Jene,“ fpricht der Apoſtel 
Petrus, „die den Unlauterkeiten der Welt entkommen waren 
durch die Erfenntniß unſers Heren und Heilandes 3. C., hin⸗ 
wiederum darin verftridt und überwimden werben; da ift mit: ih⸗ 
nen das Letzte ärger, als dad Erſte. Denn es wäre ihnen beffer, 
daß fie den Weg der Gerechtigkeit nie gekannt Hätten, ald daß 
fie nach der Erkenntniß wieder abweichen von dem h. Gebote, 
das ihnen gegeben war.” 2. Petr. 2, 20. 21. Wir gehören 
als Chriften nicht nur unter die vielen Berufenen, fondern auch 
unter die wenigen Auserwaͤhlten, bie den Ruf angenommen 
haben. Haben wir nicht: bei der h. Firmung felbft bekräftiget, 








— 15 — 


was bei der 5. Kaufe in unferem Namen war verfprochen wors 


den? Wir müflen dad Ehrenkleid, womit man und zum Gaſt⸗ 


mable, in dad Reich 3. ©. herein führte, fortan treu bewah- 
ren. Unfchulb und chriſtliche Tugend müfle immerfort unfere, 
Zierde feyn. Selig diejenigen, die ed noch nie verloren ha⸗ 
ben, dad Kleid der Unfchuld, das fie in ber h. Taufe em- 
pfingen! Aber wie gering ift deren Anzahl! Haben wir es 
aber durch eigene Schuld, durch Sünde verloren; o dann foll 
es unſere erfle Sorge feyn, daß wir durch wahre Reue und 
Buße 28 wieber erhalten, und wieder würdig befunden werben, 
an dem Mahle unfers Herrn Theil zu nehmen. Vorzüglich 
dann, wenn wir hingehen zu dem h. Abenbmahle, wovon das 


koͤnigliche Gaſtmahl in unferer- Parabel das bebeutendfle Bit 


ift, dann müffen wir, da wir: äußerlich in einem Feierkleide er- 


fcheinen, und wohl prüfen, ob auch das Innere unferer Seele . 


gereiniget und gefchmüdet fey; wohl achten auf das Wort des 
Apoſtels: „Pruͤfe ein Jeder fich ſelbſt! Wer unmirdig von 


dieſem Brode iſſet, und: aus diefem Kelche trinket; der iffet 


und trinket fi felber dad Gericht.” Daun‘ wir muͤſſen beben- 
fen, als wenn der Here Selbſt zu und ſpraͤche: „Freund, wie 


biſt du hergekommen?“ Dann müflen wir wohl beherzigen das 


furchtbare Urtheil: „Werfet ihn in bie aͤußerſte Finſterniß!“ 
Ausgeſchmuͤckt mit innerlicher Reinheit und Tugend muß ber 
Here uns alddann finden, damit wir, wenn wir zu Ihm Toms 
men, auch in Ihm bleiben, in Ihm viel Brucht bringen. Ein 
unbefleckter Wandel, und wahre, «hriftliche Tugend muß be- 
ſtaͤndig unfer Schmuck und unfere Zierde feyn. Dann werben 
wir dereinft zu jener letzten Auserwählung gelangen, welche der 
Here im anderen Leben und bereitet hat, aufgenommen werben 
in dad ewige Reich Gottes, welches von Anbeginn und zubes 
reitet war, durch 3. C, unferen Herin und Heiland, Amen. 





— 20 — 
Sechszehnte Rede 
Erſte Rede am einundzwanzigften Sonntage nad 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


— — — — 





| wert: 
„Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder fehet, fo glaubet 
ihr nicht.” Joh. 4, 48. a | 
. Thema: | 
Ueber hart fheinende Worte unferes Herrn. 


Sn den heiligen Evangelien fommen nur zwei Falle vor, in 
welchen 3. C., unfer Heiland, gegen einen Bittenden anfangs 
hart zu feyn fcheint: in ber Unterrebung mit ber heidniſchen 
Kanandifhen Frau, die Ihn flehentlich bat, ihre Tochter dom 
böfen Geifte zu befreien; und in dieſem Evangelium in Geiner 
Unterredung mit dem’ Eöniglichen Beamten. Beide Falle geben 
und aber die Ueberzeugung,. daß die Liebe eben dann, wenn fie 
hart zu feyn fcheint, in ihrer größten Vollkommenheit als Liebe 
fi). bewährt. - — 
Bei einigem Nachdenken uͤber das vorgeleſene Evangelium 
möchte und bad Betragen des Herrn gegen ben koͤniglichen Be 
amten etwas fonderbar, ja fogar hart vorkommen. Warum, 
möchte man fragen, jedoch ‚mit tieffter Ehrfurcht fragen, warum. 
machte der Heiland dem Manne den Borworf: „Wenn iht 
nicht Zeichen und Wunder fehet, fo glaubet ihr nicht;“ do doch 
diefer Mann ſchon dadurch, daß er zu Ihm Fam und Hülfe 
bei Ihm fuchte, feinen Glauben ‚deutlich genug zu erkennen 
gab? Warum ließ Er den Mann zweimal bitten, che Er ihn 
erhörte? Ferner möchte man noch fragen: warum ging Er nicht 
mit, da Er doch bei einer anderen Gelegenheit, ald nämlich det 
roͤmiſche Hauptmann Ihn bitten ließ, daß Er feinen toͤdtlich 
kranken Knecht heilen möchte, Sich Selbſt erbot, in fein Haus 








_ 21 — 


zu kommen, um den Knecht geſund zu machen? Zuletzt moͤchte 
man noch fragen: Hat es nicht den Schein, als wenn der 
Herr durch jenen Vorwurf: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wun⸗ 
der ſehet: ſo glaubet ihr nicht,“ den Wunderglauben tadelen 
und verwerfen wollte? — Nicht, als ob wir zweifelten, fragen 
wir; mit heiliger Ehrfurcht fragen wir, weil wir wiſſen, daß Du, 
goͤttlicher Heiland! in Allem, was Du ſagſt und thuſt, immer 
und allezeit die Liebe ſelbſt biſt; weil wir vertrauen Deinem 
Worte: „Die Weisheit wird von ihren Kindern gerechtfertiget.“ 
Matth. 11, 19. 

Wahrlich! die Weisheit wird von und vor ihren Kindern 
gerechtfertiget; das wirb und ganz einleuchten, wenn wir die 
Begebenheit ded heutigen Evangeliums mit denjenigen, die kurz 
vorhergingen, in Verbindung betrachten. Der Herr hat dieſes 
Wunder im Anfange Seined Lehramtd gewirkt, und zwar an 
dem nämlichen Orte, zu Kana in Galilda, wo Ex vor einiger 
Zeit auf einer Hochzeit das erfie Wunder gewirkt hatte. Gleich 
nachher war Er mit Seinen Juͤngern auf dad Feſt nach Jeru⸗ 
falem gegangen, hatte dort, indem Er mit unwiderſtehlicher 
Gewalt Seines Anfehens. die Käufer und Verkaͤufer vom Tem⸗ 
pel vertrieb, ald Einer, Der dad Recht und. die Macht habe, 
Sic, offenbaret; hatte dort auch mehrere Wunder gewirkt, wo- 
von Seine Laͤndsleute, die beim Feſte anmefenden Galiläer, die . 
Zeugen gewefen waren. Unterbeflen hatte Er bei den Prieſtern 
und Schriftgelehrten wenig Glauben gefunden: wir hören nur 
von dem einzigen Nikodemus, welcer bei Nacht heimlich: zu 
Ihm Fam, um fich belehren zu laffen. Dann hatte Er den 
„Ruͤckweg durch Samaria genommen, am Jakobsbrunnen bie 
ungemein wichtige Unterredbung mit der Samaritifchen Frau ge⸗ 
halten, und darauf, ohne ein Wunder zu thun, bei den irrgläu- 
bigen Samaritern weit mehr Glauben gefunden, ald bei den 
rechtgläubigen Juden, die Seine Wunder gefehen hatten. 

- Bon dannem begab’ er ſich wieder zurüd nach Galilda, wo 
Er einen ſolchen Glauben, wie bei den Samaritern nicht fand; 
denn Er Selbſt bezeugt, wie der h. Evangelift Sohannes bier 
fagt, „daß ein Prophet in feinem Baterlande nicht in Ehren 


N 


terdruͤken? mußte nicht auch biefer Beamte, ber gewiß oft an 
den benachbarten Hof feines Königs Fam, dieſes ebenfalls wil- 
fen, was im ganzen Lande ruchtbar geworben war! — Unb 
num hatte ſeit einiger Beit nicht fern von da ber Täufer Jo⸗ 
hannes, von dem man an dem Hofe ded Herodes wohl mußte, 
- gewohnt, und Buße geprebiget, und für den Vorläufer des 
Meſſias fich ausgegeben, und hatte vor kurzer Zeit zefprochen, 
der Meſſias Selbſt fey fchon da, fey in ihrer Mitte, und hatte 
Ihn getauft und mit Namen genannt. — "Und eben diefer 
nämlihe Mann war in ber lebten Zeit ganz im der Nachbar⸗ 
ſchaft, in Saliläa, als Lehrer ded Volks fchon aufgetreten, 
hatte mehrere Junger Sich geſammelt, und eine Lehre ber 
Wahrheit und Zugend verkündiget, die Jedermann einleuchtete, 
und einen Jeden anziehen mußte, der für Wahrheit und Zu: 
gend nur einigen Sinn hatte; und bad Wunder, weldes Er 
auf der Dochzeit zu Kana verrichtet hatte, Hatte die Aufmerk⸗ 


ſamkeit auf Seine Perſon und Lehre noch um beflo mehr an: 


geregt. Und dieſer Mann war eben jetzt von. der Feſtreife nach 
Jeruſalem in Galilaͤa wieder zuruͤckgekommen, und der Ruf von 
mehreren Wundern, die Er daſelbſt verrichtet hatte, war Ihm 
ſchon voraudgegangen. Bis bahin aber hatte der koͤnigliche 
Beamte fich gar nicht belümmert weder um die Perfon, noch 
um die Lehre jenes Mannes, Der doch als ein Mann, ausge⸗ 
ruͤſtet mit göftlicher Kraft, unter dem Wolke einherging, und 
durch Seine wohlthätigen Wunder an die Weiffagungen der 
Propheten vom Meffias fo lebhaft erinnerte. Aber diefer Be⸗ 
amte war ein Hofmann, war oft am Hofe eined lafterhaften 
Fürften, der nur dem Namen nach zu dem Judenthume gehörte. 
Unter den Zerſtreuungen des Hofes hatfe dieſer Mann keine 
Zeit und Peine Luft, mit der Perfon bed. Heilandes fich näher 
befannt zu machen; vielleicht auch, daß falfche Scham ihn da⸗ 
von zurüdhalten: mochte. Noch weniger Sinn hatte er gewiß 
für Die Lehre des Heilandes, welche den fündlichen Lüften, die 
an ben Höfen der Großen die Herrſchaft führen, : fo wenig 
fchmeichelte. Gleichgültigkeit gegen den Glauben, Gleichgültig- 
Feit gegen Beflerung und Reinigung des Herzens, Gleichgültig- 


— u — 

keit gegen göttliche Huͤlfe zur Beſſerung ſeines Lebens war alfo 
der herrfchende Zug in der Gefinnung diefed Mannes. Nie und 
nimmer würde alſo biefer Mann zu dem SHellande gefommen 
feyn, wenn ihn nicht bie fchwere Krankheit feines Sohnes zu 
Ihm getrieben hätte Die Krankheit, die Lebensgefahr feines 
Sohnes mußte ihm und feinem Sohne und feinem ganzen 
Haufe zur wahren Genefung, zur Rettung ihrer Seelen dienen, 
mußte fie. Alle zu unferem Heilande 3. C. führen, daß fie in 
Ihm ihr Heil fuchten und fanden. - 

O, m. 3.! wie oft ereignen fich aͤhnliche Zufälle im menſch⸗ 
lihen Leben, drohende Gefahren, Krankheiten, ober andere Uebel, 
die alle in der Hand des Herrn dazu dienen follen, und aufs 
zumeden aus unferm Suͤndenſchlaf, und zum Nachdenken über 
und felbft zu bringen, und wieder zurüdzuführen zu Gott, Den 
wir nur zu ſehr und zu lange verlaffen hatten! Wie wurde 
es und zum wahren Heil, was uns im Anfange. zum größten 
Nachtheil ſchien! Wie Viele müflen es bekennen, daß ber Weg, 
auf dem, fie wanbdelten, fie gewiß zum Verderben würde geführt 
haben, wenn nicht z. B. eine anhaltende Krankheit fie zur aufs 
richtigen „Buße getrieben, und dadurch zu Gott wieder zuruͤck⸗ 
geführt hättel D dag wir in allen ſolchen Vorfällen immer 
nur bedenken möchten, was und zum Frieden fey; dann wärben 
wir am Ende ‚gewiß befennen müflen: . „der Hen bat Alles, 
hat auch Diefed wohl gemacht!“ 

Laſſet uns jetzt zu unſerem Manne im Eoongeliu wieder 
zuruͤckkehren! Als die Lebenögefahr feines Sohnes auf’s böchfte 
gelommen war, als Feine menfchliche Huͤlfe und Rettung mehr 
moͤglich ſchien: da erinnerte entweder er ſich ſelbſt, oder man 
brachte ihm in Erinnerung die vielen wunderthaͤtigen Heilungen 
unſeres Herrn, da lehrte bie Noth ihn beten, da faſſete er Hoff⸗ 
nung, da foffete er den Entſchluß, zu Ihm zu gehen nach Kana, 
wo der Heiland gerade pamals Sich aufhielt. Und er ging, 
bat Ihn, mit ihm hinabzugehen nach Kapharnaum, um ſelnem 
Sohne zu helfen, der dem Tode nahe ſey. Und da gibt ihm 
nun der Heiland die Autwort: „Wenn ihr nicht Zeichen ınb 


Wunder. fehet, fo glaubet ihr nicht,“ Diefe Antwort iſt offen⸗ 
de Thl. aid Aug. 15* 








bar ein Vorwurf. Woruͤber machte der Heiland biefen Bor 
wurf? Sollen wir fagen: darüber, weil der Glaube dieſes 
Mannes noch fo ſchwach war, daß er die perfänliche Gegen- 
wart des Herm für nothwendig erachtete, um feinen Sohn 
heilen zu koͤnnen? Ein folches Beiſpiel aber, auch ohne yer- 
ſoͤnliche Gegenwart auf weit entfernte Kranke heilend zu wir- 
Ten, hatte der Heiland damald noch nicht gegeben. Daß & 
alfo dem Manne an einem folchen hohen Glaubensmuth, wie 
jener römifche Hauptmann fpäterhin ihn bewies, damals noch 
fehlte, Fonnte ihm zur Schuld nicht angerechnet werben; darauf 
deutet auch jener Vorwurf mit keinem einzigen Wort. Gewährt 
ihm doch 3. €. gleich darauf feine Bitte, obſchon er noch fort: 
fährt zu bitten, daß Er mit ihm gehen möge, alfo noch in ber 
Meinung beharret, dag Er ohne yerfönliche Gegenwart nit 
heilen koͤnne. Obſchon der Vorwurf: „Wenn ihr nicht Zeichen 
und Wunder fehet, fo glaubet ihe nicht,” zwar die wunder 
füchtigen Galilaͤer, weldje bloß aus thörichter Eitelkeit immer 


neue Wunder erwarteten, treffen follte: fo wollte der Herr mit 


biefem Ausfpruche doch keineswegs den Wunderglauben tadelen. 
Sprad Er doch Selbft bei einer anderen Gelegenheit: „Wollet 
ihe Meiner Lehre nicht glauben: fo glaubet Meiner Werke wes 


gen an Meine Worte!. .. Wenn Ich die Zeichen und Wunder 
; 


r 


“| 


nicht gethan hätte unter ihnen, die Fein Anderer thun Pann: 
fo hätten fie die Sünde nicht; jetzt haben fie Feine Entfhuls 
digung wegen ihrer Sünde,” nämlich des Unglanbens. Ohne 
Seine Wunder koͤnnten wie ja niemals zu der UWeberzeugung 
gelangen weber von der Göttlichfeit Seiner Sendung, noch 
von der Goͤttlichkeit Seiner Lehre. 

Worauf deutet denn eigentlich jener Vorwurf? Offenbar 
auf die Gleichguͤltigkeit gegen die Perſon und gegen die Lehre 
unſers Herrn J. C., welcher der Mann bis dahin ſich ſchuldig 
gemacht hatte. Er wollte ihm damit fagen: „Schon früher 
hätteft du zu Mir kommen follen, wenn ed dir zu thun gewe⸗ 
fen wäre um Wahrheit, Religion und Zugend, um bie Erwar- 
tung deines‘ Volks, um das Heil deiner Seele; und auch jet! 
Tommft du bewegen nicht zu Dir; du top nur, um zeit⸗ 


| 








. 


‚liche Gürfe zu finden in deiner ritüchen Noth. So ſeyd ihr 
Beltmenfchen: wenn ihr nicht durch Zeichen und Wunder aufs 
geweckt werbet aus euerer Trägheit und Gleichgültigkeit: fo bes 
kuͤmmert ihr euch um Wahrheit, Neligion und Tugend nicht, 
befünmmert euch um das Heil euerer Seele nicht.” Konnte der 
Mann diefen Vorwurf wohl hart finden, da er fühlte, wie fehr 
er benfelben verdient hatte? mußte er ihn nicht anfehen, als 
einen Vorwurf der Liebe, wodurch der Herr ihn zum Glauben 
an Seine Perfon und Lehre Fräftig antreiben wollte? Daß ber 
Mann ihn wirklich fo anfah, beweifet am beflen fein Betragen, 
indem durch jenen Vorwurf fein Vertrauen nicht geringer, ſon⸗ 
dern vielmehr ‚noch größer wurde, weil er noch fortfithe, zu 
bitten! „Here! komm, ehe mein Sohn flirbt!" Obſchon der 
Heiland den glimmenden Docht nicht ausloͤſchte: fo wollte Er 
doch in dem Herzen, welches durch bie Noth, durch die Angft 
der väterlichen Liebe zum Glauben einigermaßen vorbereitet war, 
zuerſt die innerfte Duelle fchlagen, aus welcher allein dad wahre 
lebendige Wafler ded Gtaubend hervorquillt. Deßwegen wollte 
Er zwar den flehenden Vater nicht abweifen, und ohne Hülfe 
von Sich laſſen; ihm aber auch nicht eher feine Bitte gewähren, ° 
als bis er das vechte und treffendfle Wort ihm in das Herz 
geworfen hätte. Wie, wenn ber Heiland ihm ſogleich, ohne 
dieſen warnenden Vorwurf, feine Bitte gewährt hätte? War 
ed nicht von der Gleichgültigkeit und von dem Leichtfinn biefes 
Mannes zu erwarten, daß er, wenn bie Gefahr vorlber war, 
bei einer fo leicht empfangenen Wohlthat nur allzubald feines 
Wohlthaͤters würde vergeflen, noch weniger um Deffen Lehre 
fi) würde befümmert haben? Aber der empfangene Vorwurf, 
der ihn zum Glauben aufforderte, war ein bleibender Stachel 
in feinem Herzen, der ihm feine Ruhe ließ, bis der Glaube ihn 
von biefem fehmerzenden Stachel befreiet hatte. Obſchon ber 
Mann feine Schuld erkannte und fühlte, da ber Hear 3. © 
ihm jenen Vorwurf gemacht hatte:.fo ließ er doch nicht ab, zu 
bitten: „Herr! gebe mit mir hinab, ehe denn mein Sohn 
firbt "Das war ein fchöner Beweis feined Vertrauens, daß 
er, obichon feiner Schuld ſich bewußt, doch von feiner Bitte 
_ ' ' 15 * 


— 28 — 


nicht abließ. D wie unglüdfelig wären wir Menfihen, wenn 
“wir nur dann Vertrauen faffen dürften, went wir feiner Schuld 
"und bewußt wären! Drüdt und nicht immer das Bewußtfeyn 
"unferer Sündenfchuld? Muͤſſen wir nicht an unfere Bruft 
fchlagen und feufzen: „unfere Schuld, unfere große Schuld 1? 
Wenn wir ald Sünder unfere Schuld erkennen und’ bekennen: 
dann dürfen und follen wir das Vertrauen haben, daß mir 
Gnade und Barmherzigkeit ımd Vergebung finden. 

Mie ſehr wurde das Vertrauen des Mannes belohnt, als 
der Herr zu ihm das Wort ſprach: „Gehe hin! dein Sohn 
lebt!“ In dem Augenblicke, als der Mann dieſes Wort hoͤrte, 
verlangte er nichts weiter, verlangte nicht mehr, daß der Herr 
noch mit ihm gehen ſollte; fein Glaube war jest fo ſehr erho⸗ 
ben, daß er die perfönliche Gegenwart des Kern nicht‘ mehr 
für nöthig hielt; er glaubte nicht bloß bem Worte, fondern 
“au dem Wunder, dad durch baffelbe ſchon gewirket war. Zu 
‚Kana wurde nun dieſes Wort ded Herren und der zuverfichtliche 
Glaube diefes5 Mannes befannt, wurde die Aufmerkſamkeit auf 
den Erfolg im höchften Grade angeregt; welch einen Eindrud 
wird es gemacht haben, ald man einige Tage nachher erfuhr, 
was dad Wort ded Herrn gewirkt hatte! Mit getrofter, froher 
Zuverfiht ging der Mann hinweg, und eilte nach Haufe zurüd, 
Wie er am anderen Morgen nicht weit mehr entfernt war, Ta- 
men ihn fchon feine Knechte entgegen, und meldeten ihm mit 

der größten Freude, was er im Glauben ſchon wußte, — ver⸗ 
kuͤndigten ihm und ſprachen: „Dein Sohn lebt!“ Da befragte 
er fie um die Stunde, in welcher ed beffer mit ihm geworden, 
Und fie fagten ihm: „Geftern um die fiebente Stunde,” um 
4 Uhr Nachmittags, „verließ ihn dad Fieber. Da erkannte ber 
Vater, daß ed war biefelbe Stunde, in welcher Jeſus gefagt 
hatte: dein Sohn lebt. Under glaubte, und fein ganzes Haus.“ 
Das war ber große Erfolg diefer Prüfung. Die Heilung 
feines Sohnes war nur bie geringfle Wohlthat, die dieſem 
Manne zu Theil wurde, die Heilung feiner Seele und ber 
Seelen aller feiner Haudgenoffen war die größte Mohlthat, die 
der ‚Herr durch diefe Prüfung ihm bereitet "hatte, eine Wohle 





Dei 





ZZ 229. | U U] 
‘ 


that, die ihm ohne diefe Prüfung. wohl nicht würde zu Theil, 
geworden feyn. Er glaubte, namlich zuerft er felbfl; er glaubte 
jest an 3. C., ald an den verheißenen Meſſias; fonft hatte 
ihm der Evangelift das Zeugniß ded Glaubens nicht geben Fün- 
nen. Seine Gleichgültigkeit gegen den Glauben und gegen 
dad Heil feiner Seele hatte ihm der Herr zum Vorwurf ge 
macht. Da fein Herz mit Iebendigem Glauben und mit dank⸗ 
barer Liebe gegen feinen großen Wohlthäter erfüllet war; fo. 
war ihm jener Vorwurf jetzt der dringendfte Antrieb, von nun 
an ein Eiferer für den Glauben zu werden. Er wurde für 
feinen Sohn und feine Haudlente jeßt der erſte Evangelift, in⸗ 
dem er ihnen erzählte, was ihm begegnet war, und fie dadurch, 
zum Glauben erwedte, und zum Heilande führte. Er glaubte 
mit feinem ganzen Haufe. Der Glaube fommt vom Hören: 
wenn er alfo mit feinem Haufe wahrhaft. glaubte: fo mußten 
fie von jest an die Lehre 3. C. hören, eifrig hören, mußten 
Ihm. folgen. Und das hat er gethan, fonft hätte ihm der Evan . 
gelift „dad Zeugniß ded Glaubens, gewiß eines beharrlichen 
Glaubens, nicht geben koͤnnen; das hat er alfo gethan, ohne 
fi durch das Gefpätt und Höhngelächter des Hofes irre machen 
zu laſſen; hat Feine Rüdficht genommen auf bie Borurtheile 
feines Standed und Ranges, hat keinen Anſtand genommen, 
ein oͤffentlicher Nachfolger eines Mannes zu werden, Der da 
einherging in Armuth und Niedrigkeit, verachtet von der Welt, 
umgeben von Fiſchern und Zoͤllnern und vom gemeinſten Volke; 
hat ſich alſo Öffentlich zur Juͤngerſchaft des am Hofe verachte⸗ 
ten Galilaͤers bekannt. Er glaubte mit ſeinem ganzen Hauſe: 
jo mußte dann fein und feines Hauſes Glaube durch den Wan- 
bei fich bewähren. Wenn ihm alfo der Evangelift das Beug- 
niß des Glaubens gibt; fo hat er eben dadurch beflätiget, daß 
ihr. Glaube, fo wie ihr Wandel, ohne Tadel war, daß ihr Ler 
‚ benswandel nach ‚dem ‚Glauben eingerichtet 'war. Das Alled 
it enthalten in dem Worte: „er glaubte mit ſeinem ganzen 
Hauſe. “u 
Dürfen wir denn jetzt noch fragen: warum J. C. anfangs 
zu dem Manne ſprach: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder 





— 230 — 


ſeht, fo glaubet ihr nicht; warum Er ihn anfangs mit eini⸗ 
ger Härte zu begegnen ſchien? Erfcheint und nicht der Heiland 
“ eben hier, da Er hart fcheint, in der vollen Herrlichleit Sei⸗ 


ner Weisheit und Liebe? Eben dann bewährt ſich die Liebe‘ 


am meiften ald Liebe, wenn fie wehe thut, wo ed nothwendig 
iſt. Das ift Feine Liebe, fondern ſchwache, oft fehr lieblofe 
Meichherzigkeit, wenn Eltern ihre Kinder nicht in ernftliche, 
beftrafende Zucht nehmen koͤnnen, obfchon fie’ einfehen, daß 
ed für fie Noth thut. — Und zuleßt, wie milde und fcho= 
nend war der Vorwurf, den der Heiland dem Manne machte! 
Gewiß mußte er erkennen, daß er einen weit fihärferen ver⸗ 
fhuldet hatte; gewiß hat ihn die milde Schonung in dem nur 
zu gerechten Vorwurfe am meiften gerührt, ihn am dringend⸗ 
Ten angetrieben, mit lebendigem Glauben und treuer Liebe 
Ihm anzuhangen. Wird der Mann ed nicht oft im Herzen 
erwogen haben: wenn ber Herr meine Bitte fogleich gewährt, 
mich begleitet und meinen Sohn geheilet hätte; o dann würbe 
es wohl bei dem bloßen Danke geblieben feyn; dann würbe 
dieſe Begebenheit wenigftens einen ſolchen Eindrud auf mich 
nicht gemacht, zu einer folchen Sinnesänderung, zu einem 
ſolchen Iebendigen, feften Glauben mich nicht geführt haben? 
D wie gut, wie weife und liebevoll haft Du alfo, göttlicher 
Heiland! gegen mich gehandelt, daß Du mic, vorher in ſchaͤr⸗ 
fere Zucht nahmeſt, mir die Augen über mich felbft eröffneteft, 
Damit ih in Dir das Licht finden follte, Welches gefommen 
ift, alle diejenigen zu erleuchten, welche bis dahin noch in ber 
Sinflerniß und im Schatten ded Todes ſaßen! 


II. | 

Auf gleiche Weiſe, wie der Heiland mit dem Löniglichen 
Beamten verfuhre, um ihn zum Glauben vorzubereiten, und 
mit dem Glauben alles Gute, das höchfte Gut ihm geben zu 
koͤnnen; auf gleiche Weife verfährt Er oft auch mit und; feheint 
hart und braucht flrenge Mittel, um und zum Glauben zu fuͤh⸗ 
sen und und durch ben Glauben die höchften, in's Himmelreich 
wirkenden Güter geben zu können. 


3 
⸗ 





— 3 — 


Ihr denket vieleicht: „Wir glauben ia, und beweifen uns 
ſeren Glauben durch unfer Bekenntniß, durch Anhörung bed 
göttlichen Worts und durch Theilnahme an ben h. Sakramenten 
unferer Kirche; wir haben's alſo nicht nothwenbig, zum Glau⸗ 
ben noch vorbereitet, erweckt und geführt zu werben.” O, m.3.! 
ſeyd doch auf eurer Hut, daß ihr euch felbft nicht täufchet! 
Es gibt Viele, die glauben, bie vechtgläubige Tatholifche Chri- 
fin find, die aber doch ihres Glaubens ungeachtet keinesweges 
fiher find vor der fchredlichen Drohung unſers Herrn 3. ©.: 
„Es würden Viele kommen aus dem Abend» und Morgenlande, 
und im Himmelreich mit zu Tiſche figen, während die Kinder 
des Reichs draußen fliehen müßten.” Diefe Drohung trifft alle 
Diejenigen, bie zwar glauben, aber die Kraft und Wirkſam⸗ 
keit des Glaubens aus eigener Schuld an ſich noch nicht 
erfahren haben, . und Feine Mühe fih geben, und nicht mit- 
wirken, um berfelben theilhaftig zu werden. Dazu iſt der 
Glaube und gegeben, daB wir durch denfelben gerecht wer- 
den follen. „Der Gerechte lebt aus dem Glauben.” „Da⸗ 
zu it 3. C. ald Heiland und gegeben, baß wir burch ben 
Glauben an Ihn, an. Seine Lehre und Verheißungen, an 
Seine Alles vermögende Gnade gerecht, das heißt: von ber 
Sünde: gereiniget und befreiet werben follen; daß wir in Ihm 
allein unfer Heil fuchen und finden folen. Denn J. C. iſt 
und gemacht zur. Weisheit und Gerechtigkeit, zur Erlöfung und 
Heiligung. Umſonſt ift daher für und unſer Glaube, umfonft 
it felbft 3. €. für und, umfonft Seine Menfchwerbung, Sein 
Leben und Tod, Seine Auferftehung, umfonft für uns, daß 
Er jeht beim himmlifchen Vater unfer Mittler und Fürfprecher 
ift, für uns Iebt, und Seine Gnaden uns ertheilen will, wenn 
wir nicht aus allen Kräften mitwirken durch Beobachtung Sei⸗ 
ner. Lehre, und durch Vertrauen auf Seine Gnade, um durch 
Ihn- von. der Suͤnde erläfet, gerecht und heilig zu werben; 
wenn wir nicht mit der forgfältigften Wachfamkeit unfere Sünde 
zu erkennen fuchen, und nicht das herzlichfie Verlangen in uns 
unterhalten, von unferer Sünde befreiet zu werben, und wenn 
wir nicht zugleich das feſteſte Vertrauen in und unterhalten, 


U} 233 — 1 


durch Ihn, durch die Alles uͤberwindende Kraft Seiner Gnade 
von der Suͤnde wirklich befreiet zu werden; wenn wir uns 
alſo nicht in beſtaͤndiger, und in der innigſten Verbindung des 
Geiſtes und Herzens mit Ihm zw erhalten ſuchen. O, m. 83.1 
es kann und nicht oft und dringend genug eingefchärft werden, 
wie nothwenbig es für uns ift, daß wir mit allem Ernſt, und 
mit gerechtem Mißtrauen auf uns felbft biefe prüfenden Fragen 
und felber vorlegen und oft wiederholen: „Bin ich auch gewiß, 
dag ich meine Sünden recht erkenne? wende ich auch Ernft und 
Sorgfalt an, bin ih wachſam, um fie vecht zu erfennen? habe 
ich Verlangen, von der Sünde und fünblichen Neigung, die 
ih in mir erfenne, wirklich befreiet zu werden, bin ich ent⸗ 
ſchloſſen, ihrer Luft zu entfagen, damit ich um ihrentwillen 
meinem Gott nicht länger mißfallen möge?” Hier fiche nun 
ſtill, und. prüfe dich forgfältig, wenn dein Gewiſſen dich- be⸗ 
ſchuldiget, wenn du ed nicht leugnen Fannft, daß bu z. B. 
der Unmäßigkeit, der Unkeufchheit, der Ueppigkeit und Ver⸗ 
fhwendung, dem Zornmuth, der Mißgunft und dem Neive, 
der’ Habſucht oder der Eitelkeit noch unterworfen biſt! So 
lange du in einem ſolchen Zuſtande bift,.fo lange du unter der 
ſchmaͤhlichen Herrſchaft auch nur von Einer ſolchen ſuͤndlichen 
Neigung ſteheſt; ſo lange hat dein Glaube dir nicht geholfen. 
Und wenn du dich einer ſolchen ſuͤndlichen Neigung noch un⸗ 
terworfen findeſt, ſo ſprich zu dir ſelbſt: „Mein Herr und mein 
Gott hat ſo lange Sein gerechtes Mißfallen an mir, bis ich 
feſt entſchloſſen bin, meinen freien Willen gegen dieſe Neigung 
zu richten, und mit allen Kraͤften von derſelben abzuſtehen. 
Und dieſes Mißfallen Gottes an mir, — muß ich es nicht als 
das groͤßte aller Uebel anſehen? darf ich ruhig und ſorglos 
fortleben in einem folchen Buftande, an dem mein Herr und 
mein Gott Sein Mißfallen hat, weßwegen Er mich in jebem 
Augenblid vor Sein Gericht ziehen kann? Soll ich denn noch 
laͤnger aufſchieben einen Entihlüß, der einmal gefaflet werben 
muß, wenn ich mein ewige Heil in Sicherheit haben win? 
Und wenn diefer Entfhluß einmal mit allem Ernſt gefaflet iſt/ 
wenn es aus dem Innerflen deines Herzens. einmal, ausgeſpro⸗ 





U] 223. mu x 


hen tft das Wort: „ih wi, — ich will abſtehen von meiner 
Suͤnde;“ o dann baue nicht auf deine eigene Kraft und Treue; 
dann febe dein ganzes Vertrauen auf unfern Heiland 3. C., 
und fey Seiner Hülfe und Gnade ganz gewiß! Wenn bu 


aufrichtigen Herzens gefprochen haft dad Wort: „ih willz” fo" 


ſpricht auch Er: „Ih will: ſey rein!” Dann wirft du es 
erfahren, daß dus durch Ihn von der Herrfchaft dee Sünde biſt 
‚ befreiet worden, daß in Ihm allein das Heil iſt; dann hat 
dein Glaube dir geholfen. - | 

Laffet uns alfo nicht gleichgültig feyn gegen unſer Seit; ' 
fo werden wir auch.nicht gleichgültig feyn gegen unferen Glau⸗ 
ben! Ein Eifer für den Glauben ohne Eifer für das Heil 
ift ein blinder Eifer, der Gott nicht gefällt. Solche Eiferer 
wiſſen nicht einmal recht, wofür fie eiferen. So eiferten bie 
Phariſaͤer für das Gefeb, welches fie durch Ihren täglichen Wan⸗ 
dei mit Süßen traten. Nicht fo fehr durch Worte, und mit 
dem Munde, als vielmehr durch unferen täglichen Wandel, 
durch Reinheit und Demuth, und burch wahre, herzliche Liebe 
laſſet uns eiferen fhr unferen Slauben laſſet es und Durch unfes 
ren täglichen Wandel beweifen, daß unfer Glaube in Wahrheit 
die Kraft hat, rein umd felig zu machen! Gib, o Here! daß 
wir Durch unfere innere Reinigung die Kraft des Glaubens ers 
fahren, damit wit dadurch der Geligkeit des Glaubens chei.· 
haſtig u werden mdgen! Amen. 


au 
3 
” 


GSiebenzehnte Rede 


Zweite Rede am einundzwanzigften Sonntage nach 
dem Seite der h. Dreifaltigkeit. 


Tert: 
„Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder ſchet, ſo glaubet 
ihr nie Joh. &, 48. 


Shema: 
Weber den Bert) unferer Religion. 


Menn i ihr nicht Zeichen und Wunder fehet, fo glaubet ihr 
nicht.“ Joh. 4, 48. Mit diefen. Worten machte unfer Deis 
land 3 C. dem koͤniglichen Beamten einen. Borwurf wegen 
feiner Gteichgültigkeit gegen den Glauben und gegen dad Heil 
feiner Seele. Zwar bewies diefer Mann durch die That ſelbſt 
‚Glauben an Ihn, indem er eine ziemlich lange Reife zu Ihm 
machte von Kapharnaum nach Sana, und Ihn. bat, feinen 
todtkranken Sohn zu heilen. Hätte aber eine zeitliche Noth 
diefen Mann jest nicht gebrungen: fo wuͤrde er auch jetzt noch 
nicht zu Ihm gekommen feyn. In Kapharnaum wohnend, 
mußte er ſchon Vieles von den Lehren und Thaten 3. C. ges 
hört haben; aber ald ein MWeltmann, ber am Hofe und in der 
großen Welt lebte, hatte er fih wenig darum belümmert; und 
auch jest, im Drange feiner Noth, war ed ihm noch nicht um 
die Lehre unferd Erlöferd, nicht um die Wahrheiten des Helle, 
fondern nur um bie Heilung feined Sohnes zu thun. Er hatte 
alfo den Vorwurf, ven der Heiland ihm machte, wahrlich fehr 
‚ wohl verdient. Er mußte es erkennen, daß der Heiland ihm 
damit fagen wollte: „Waͤreſt du nicht jetzt in Noth, wäre es Dir 
jegt nicht um Hülfe in dieſer Noth zu thun: fo wuͤrdeſt du dich 
um Meine Lehre noch wenig befümmern, wuͤrdeſt fie nicht ein- 
mal zu hören verlangen, wuͤrdeſt ihr nicht glauben.” Diefer 





5 — 

Vorwurf belehrte und erleuchtete den Mann über bie Beſchaf⸗ 
fenheit feines inneren Zuſtandes. Als 3. €. dad Wort der 
Almacht. zu ihm fprach: „Geh hin, dein Sohn lebtz“ da glaubte 
- er fhon; und als er bei feiner Ruͤckkehr feinen Sohn gefund 
fand: da wurde fein Glaube ganz befeftiget; da war es feine 
dringendfte Angelegenheit, auch feinen Sohn und alle feine 
Haudgenoffen zu Gläubigen zw machen, wie der Evangelifl 
fagt: „Er glaubte mit feinem ganzen Haufe.” Wie groß vor⸗ 
bin feine Gleichgültigkeit gewefen war, fo groß warb jest ſein 
Eifer, indem er nicht eher ruhete, bis er alle feine Haudgenof- 
fen zu unferem Heilande geführt hatte, daß fie Seine Lehre hoͤr⸗ 
ten, nach Seiner Lehre ihr Leben einrichteten. | 

O Gott! möchte doch dad Andenken an jened ernfle Wort 
unferd Heilandes, und an jenes wohlthätige Wunder auch auf 


uns einen gleichen Eindrud, wie auf jenen Föniglihen Beam- 


ten machen! In diefem koͤniglichen Beamten müflen wir uns 
fer eigenes Bild erfennen. Wenn die Noth und drängt: dann 
nehmen auch wir wohl zu unferem Heilande unfere Zuflucht, 
nämlich fo lange die Noth anhält, um davon befreiet zu wer 
ben. Iſt es aber damit vorbei, drohet oder drüdt uns keine 
befondere Noth: ach, dann find auch wir nur gar zu gleichgülz 
tig gegen Seine Lehre; dann laffen wir's und wenig angelegen 
feyn, unſer Leben nad) derfelben einzurichten. Bei drohender 
ober wirklicher Noth verfprechen wir alles Gute; nachher aber 
gedenken wir unferd Verſprechens nicht weiter; wie der Furcht⸗ 
fame beim Gewitter die heiligften Vorfäge macht, die aber alfos 
bald wieder vergeffen find, fobalb, wie das Spruͤchwort fagt, 
die Steine, die vom Regen feucht waren, nur erſt wieder trok⸗ 
Ten geworben find. Renz nicht bloß, wenn die Roth uns 
treibt, ſondern zu aller und zu jeder Beit follen wir unferen 
Eifer für die Lehre, für die heilbringende Religion 3. €. be 
weifen. Seine Lehre, Seine Religion ift fo -vortrefflih und 
unfhägbar, daß, wer fie nur kennt, auch mit ganzem. Herzen . 
ſich dafür erklären, mit allen Kräften feiner Seele an derfelben 

bangen muß. ‚ Gleichgültigkeit gegen den Glauben, gegen bie 

Tchre des Heild war ed. eigentlich, welches der Here dem koͤnig⸗ 


lichen Beamten zum Vorwurf machte.- ‚Daß. ex: nicht den mins 
deſten Eifer bewiefen. hatte, von der Perfon und Lehre unferes 
Heilandes, in Deffen Wandel und Werken die Weiffagungen 
ber Propheten doc fo deutlich und augenfcheinlich in Erfüllung 
gingen, ſich Kenntniß zu erwerben; dad war es, was der Hei⸗ 
and ihm zum Vorwurf machte. Und fo mag diefer namliche 
Borwurf aud wohl Viele unter und treffen. Viele find in 
ihree Jugend aus eigener Schuld und Gleichguͤltigkeit zu der 
exforderlichen Erkenntniß von der Perſon I. C. zu einer gruͤnd⸗ 
lichen Erkenntniß von unſerer h. Religion nicht gelangt; und 
‚was in ber Jugend fo mangelhaft und dürftig blieb,. das ift 
nachher unter den Sorgen und Berftreuungen des Lebend gewiß 
nicht ergänzt, gar noch mehr verbunfelt worden. Viele wur- 
den. in der Sugend zwar beffer unterrichtet, der Unterricht 
wurde aber mehr bloß mit dem Berftande, ald mit dem Her⸗ 
‚zen aufgefaflet, und wurde nachher durch unvorfichtiged Lefen 
non. allerhand Büchern, durch Umgang und Beifpiel entftellt 
und: in Verwirrung gebracht. Gibt es doch auch Viele, auf 
welche der Unterricht den wohlthätigften Einfluß gehabt hatte. 
zu :einem lebendigen Glauben, zu wahrer Herzensändacht und 
Froͤmmigkeit und zu unhefleckter Reinheit des Wandels, und 
doch in ihren Herzen. ſchon ſobald nachher verdunkelt und in 
Vergeſſenheit gebracht wurde durch den Geiſt der Zeit und die 
verfuͤhreriſchen Reize der Welt. Und ſo kommt es dann, daß 
Viele, mitten unter Chriſten, im Lande der Chriſten, ſelbſt als 
Chriſten geboren, nicht einmal recht wiſſen, in welchem Ver⸗ 
haͤltniß wir mit J. C. ſtehen, was J. C. uns ſeyn ſoll. Und 
den Meiften von und, wenn fie auch im. Herzen ganz glaͤubig 
find, it J. C. wahrhaftig doch nicht, was Er ihnen ſeyn ſollte. 
Mo es aber am rechten, lebendigen Glauben mangelt, da man 
geit ed auch an zuverfichtlicher Hoffnung ; da mangelt es noch 
mehr am berzlicher, treuer Liebe, da mangelt es am meiſten an 


den Fruͤchten wahrer Liebe, an wahrhaft guten Werken und 


Gefinnungen, da mangelt ed an Allem. Vergleichungsweiſe iu 
reden ift der Glaube der Stamm und die Wurzel, alfo das 
erſte Nothwendige; iſt Hoffnung die ſchoͤne Bluͤthe, und Liebe 








— 33 — 

die koͤſtliche, herrliche Frucht. Wie nun Blüthe und Frucht 
ohne Stamm und Wurzel nicht möglich ift: fo auch Feine Hoff: 
nung und Liebe ohne Glauben; wo es alfo am Glauben man- 
gelt, da muß ed nothwendig an Allem mangeln. 

Laffet uns alfo jegt auf die Lehre unferd Glaubens unfer 
‚Nachdenken richten, laffet und biefelbe in ihrer Unentbehrlickeit 
für unfer wahres Heil, in ihrer Schönheit und Vortrefflichkeit 
betrachten, damit wir unſere ſtrafbare Gleichguͤltigkeit gegen dieſe 
Lehre, gegen den Glauben deſto beſſer erkennen, damit wir deſto 
bereitwilliger folgen dem Rufe: „Stehe auf, der du ſchlaͤfſt, 
und J. C. wird dich erleuchten!“ | 


I. 

Laffet und alfo zuerft unfere Aufmerkſamkeit richten auf 
die Wahrheiten, welche unfere h. Religion uns offenbaret, 
welche wir ohne diefe Offenbarung nie und nimmer hätten er⸗ 
Fennen koͤnnen: 

Mas unfere Vernunft über das allerhöchfte Weſen, über 
‘Soft, nie,hätte ergruͤnden koͤnnen, das hat die Lehre I. E. 
und über Ihn geoffenkaret. Daß Bott iſt, daß Gott unfer 
allerhoͤchſter Oberherr um Schöpfer ift, daß Gott: der alleinige 
Urheber der ganzen Welt und aller Gefchöpfe iſt; biefe Wahr: 
beit erkennt unfere Vernunft für fich allein, indem fie aus ber 
geſchaffenen Natur nothwendig auf einen : Schöpfer berfelben 
fhließgen muß. Daß aber biefed große, unerforſchliche Weſen, 
diefer allmächtige Gott, diefer Schöpfer und Here der Welt 
unfer Vater ift, auf eine noch ungleich innigere Art unfer 
Bater ift, ald ein. menfchlicher Vater der Vater feiner Kinder 
iſt; dieſe fo fehr erhebende Wahrheit hätte unfere Vernunft nie 
und nimmer erfennen Fönnen, wäre fie ihe. nicht durch J. @. 
geoffenbaret worden. Wie verwegen wäre br Anmafung, wenn 
der Menfch, biefes ſchwache Geſchoͤpf, diefer- Wurm im Staube, 
Gott feinen Vater nennen wollte! Durch)‘ eine. folde Anma⸗ 
fung wäre feine Vernunft zur Thorheit geworden; -nun aber, 
da Gott Selbft ben’ Menfchen dazu aufgefordert bat, u «8 
feine Anmaßung mehr, ift es Gottes Weisheit. 


J — 35 — 

Waͤre der Menſch bloß feiner Vernunft überlaffen gewe⸗ 
ſen: wie haͤtte er dann über ſich ſelbſt urtheilen muͤſſen? Er 
wuͤrde in ſich ſelbſt ſo viel Hohes und ſo viel Niedriges, ſo 
viel Schoͤnes und fo viel Haͤßliches, fo viel Vortreffliches und 
ſo viel Berwerfliches, fo viel Gutes und fo viel Boͤſes, oder 
vielmehr fo viel Anlage zum höchften Guten und doch zugleich 
eine fo überwiegende Hinneigung zum Boͤſen gefunden haben, 
daß er, von ber einen Seite betrachtet, fich für einen Engel, 
von der anderen aber für einen Teufel hätte halten mögen, daß 
er immer und ewig ſich felber ein Räthfel hätte bleiben muͤſſen. 
Die Lehre 3, C. loͤſet diefes Raͤthſel auf, zerfireuet alle biefe 
Dunkelheit. Noch weit, höher erhebt fie von ber einen Seite 
den Menſchen, als der Menfch bloß nad) feiner Vernunft über 
fi) ſelbſt Hätte denken können. Sie ftelt ihn dar als ein 
Ebenbild Gottes, beftimmt und berufen, Gott Selber gleich zu 
werden, vollfommen zu werben, wie der himmliſche Water volle 
fommen ift, und durch die höchfle Vollkommenheit und reinfte 
-Zugend bereinft mit Gott auf’3 innigfle, vereiniget zu werben; 
und in biefer Vereinigung mit Gott felig zu, werden, wie Gott 
felig iſt. So weit, zu einer ſolchen Höhe und Erhabenheit der 
der Beflimmung hätte die Vernunft ollein ſich nie hinaufſchwin⸗ 
gen können. Bon der anderen Seite aber erniebriget dad Wort 
Gottes, die Lehre 3. C., den Menfchen weit tiefer, ald es bie 
Bernunft allein würde vermocht haben. Sie lehrt ihn, daß der 
Hang zum Böfen dem Menfzen urfprünglic nicht anerfchaffen, 
fondern Durch des erflen Menfchen Schuld in ibn gekommen 
ſey, daß durch feine eigene Schuld. feine innere Natur noch 
mehr verborben ‚und von Grund aus fo zerrüttet fey, daß er 
dieſelbe durch eigene Kräfte wieder herzuftellen nicht im Stande 
fey, daß er durch ſch felbft auch nicht das mindefle Gute ver⸗ 
möge; baß er ohıe höhere Hülfe nicht koͤnne geheilet und ges 
rettet werden. Aber dad Wort Gottes, die Lehre J. C, ernie- 
driget den Menfchen nur deßhalb, um ihn beflo höher wieder 
zu erheben. ‚Sie weiſet ihn darauf hin, wie ihm aus ber Höhe 
diefe Errettung gekommen jey. Sie lehrt ihn, wie der himm⸗ 
liſche Water des gefallenen, - ungehorfamen, fünbigen Menichen 





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Sich erbarmet, und Seinen eingebornen Sohn in Schmach und 


Tod zu befien Errettung dahin gegeben habe. Sie lehrt ihn, 
dag Im Kreuze 3. ©, allein unfer Heil ifl, daB durch den Tod 
& €. unfere verborbene Natur fo wieder hergeftellt ifl, daß wie 
nun burch ernfllichen, aufrichtigen Willen unter dem Beiſtande 
der göttlichen Gnade unfere hohe, erhabene Beflimmung wieder 
erreichen können. Sie lehrt ihn, daß. durch den Tod 3. ©. die 


Gnade des h. Geifted und erworben fey, die befländig zu uns 


ferer Reinigung und Heiligung in und wirkſam fey, fo, baß 
wir nur mitzuwirken brauchen. So wird es und dann ebenfalld 
durch die Lehre 3. ©. begreiflich, wie wir niedrige Menfchen, 
fo geringe Geſchoͤpfe, doch zugleich Kinder Gottes feyn können, 
Indem 3. ©. Menſch geworden ift, und unfere Natur anges 
nommen bat, ift Er unfer Bruder geworden. Indem Er durch 
Seinen Tod unfere verborbene Natur wieder hergeftellet, uns 
von der Sünde erlöfet, und durch die Gnade des h. Geiftes 
wieber gereiniget und 'geheiliget hat: iſt Sein Gott auch unfer 
Bott, Sein Vater auch unfer Bater geworden, find wir durch 
Ihn an Kindesflatt wieder angenommen, find wir wieder Kin⸗ 
der Gottes geworden. Darum ſprach 3. C. ald Er durch Seis 
nen Tod und die Kindichaft Gottes wieder erworben hatte, am 
Zage Seiner Auferfiehung zu den h. Frauen: „Gebet hin und 
faget Meinen Brüdern: Ic, fahre auf zu Meinem Vater und 


euerem Water, zu Meinem und euerem Gott!” So tft es denn - 


bie Lehre 3. C., die und ben großen, allmächtigen Gott als 
Bater, Sohn und h. Geiſt kennen lehrt; die und lehrt, wie 


die h. Dreieinigkeit im jebem biefer Verhältniffe mit uns in ber - 
innigften Verbindung fleht, in jebem biefer Werhältniffe zw 


unſerm Heile immer wirkfam iſt. Das find nun die weſent⸗ 
liden Wahrheiten, die unfere Vernunft allein nicht hätte 
erkennen koͤnnen, bie wir nach der Lehre 3. C. glauben fol 
len. Weberflüffig wäre es, die Vortrefflichkeit biefer erhabenen 
Schren noch zeigen zu wollen, da ihre Vortrefflichkeit fo hell in 
die Augen leuchtet, daß man fie nur zu Tennen braucht, um 
von ihrer Schönhelt, Erhabenpeit und Vorrliqhen ſoglaic 
 Überzeugt zu werden. | 


2 IL. 
Eben biefe nämliche Lehre enthält nun auch Vorſchrif⸗ 


⁊ 


ten, Gebote, die wir erfuͤllen ſollen. Und alle dieſe 


Vorſchriften ſind nun ebenfalls von der groͤßten Schoͤnheit, Er⸗ 
habenheit und Vortrefflichkeit. Sie ſind von einer ſolchen Art, 
daß Derjenige, der ſie treu befolgt, gewiß ein ganz guter, ganz 
tugendhafter, ganz vollkommener und auch wahrhaft gluͤckſeliger 
Menſch werden muß. Was kein menſchlicher Weiſe je von ſei⸗ 
ner Lehre hat behaupten dürfen, das hat J. EC. von Seiner 
Lehre behauptet, hat ed gefagt: „Wer Meine Lehre hat und 
darnach thut, der wird es felbft erfahren, . daß fie aus Gott 
ſey.“ Welche Beruhigung liegt für und in biefer zuverfichtii- 
ben Behauptung! Sun mögen verfchiedene diefer Vorſchriften 
und manchmal noch fo hart und -fchwer ſeyn; wir haben die 
Berficherung, daß fie aud Gott find, daß fie folglich gut und 
wahr, daß fie zu unferem Heile nothwendig find. Mögen nun 
auch diefe Vorfchriften oft eine ſchwere Ueberwindung und Aufs 
dpferung von uns fordern, mögen fie auch eine-befländige Wach- 
famkeit, eine beftändige Vorbereitung zum Kampf von und fürs 
dernz fo willen wir doch, daß Gott diefes von und will, und 
deßwegen will, weil ed zu unferm Heile nothwendig iſt, weil 
wir auf feinem andern Wege zur Zugend und Vollkommenheit, 
fo wie zur wahren Glüdfeligkeit gelangen koͤnnen. Der Weg 
zur Zugend muß für Menfchen, wie wir find, weil wir Sünder 
find, rauh und befchwerlich feyn. Hätte 3. C. und einen an⸗ 
dern Meg gezeigt, ber bequemer und gemächlicher gewefen wäre: 
fo wäre Er ein Irrlehrer geweſen, ver und in bie Irre und 
dadurch in's Werberben geführt hätte Wie herrlich iſt aber 
das Ziel! was iſt der Menſch ohne Zugend, ohne Streben nad) 
Tugend? : das verächtlichfte Gefhöpf auf Erden, weil. es fo 
groͤße, fo herrliche -Anlagen fo ſchaͤndlich mißbraucht. Ein tus 
gendhafter Menfch aber, ein Menfch, der mit dem ganzen Ernſt 
und Eifer ſeines Willend- nad) Rugend und Vollkommenheit 
tingt,. wandelt fchon bier auf Erben, wie ein Gngel . Gottes. 
So erfcheinen und dann auch die Vorſchriften, die wir er 








— Mm — 


füllen ſollen, ſo wie dieſelbe in der Lehre J. C. enthalten 
ſind, in dem herrlichſten Glanze ihrer Sooͤnhen, Erhabenheit 
und Vortrefflichkeit. 


III. 


Freilich wuͤrden dieſe Vorſchriften an und fuͤr ſich allein 
unſerer ſo ſehr geſchwaͤchten, verdorbenen, zerruͤtteten Natur ganz 
und gar nicht angemeſſen ſeyn: aber ſie ſind es, weil ſie mit 
ſo großen Verheißungen verbunden ſind. Die Lehre J. C. 
enthaͤlt auch Verheißungen, auf die wir hoffen ſollen. Was 
it für uns mehr troͤſtlich, erhebend und erfreulich, für uns in 
unſerer Schwachheit und in unferem Elende: ald eine Verhei⸗ 
Bung, die unferer Schwachheit zu Hülfe kommt, und und Be⸗ 
freiung aus unferem Elende zuſichert? So erhebet denn euere 
Häupter und Herzen, und blidet frohen Muths hin auf die 
großen Verheißungen, welche die Lehre 3. C. vor unferen Augen 
enthüfet! Was kann, was foll uns, die wir Sünder vor Gott 
find, mehr am Herzen liegen, als die Beruhigung, daß Gott 
unfere Sünde und vergeben hat? Konnte unfere Vernunft 
allein und darüber jemald eine beruhigende Verficherung geben? 
Wenn die Vernunft uns Gott nur ald den allmächtigen Schöpfer 
Himmels und der Erden, als unfern allerhoͤchſten Oberherrn, 
Gefeggeber und Richter zu erkennen gab, wenn die Vernunft 
und felbft ald Gefchöpfe Gottes, in einem unendlichen Abftande 
von unferem Schöpfer und, zu erkennen gab: fo mußte fi fie die 
Suͤnde ald den ſtrafbarſten Ungehorfam gegen unſern allerhöchs 
ften Schöpfer, Oberherrn und Richter und ‚darftellen, als einen 
Ungehorfam, den wir, um Vergebung zu erhalten, durch nichts 
wieder gut machen fonnten; die Vernunft allein hätte und cher 
in Verzweiflung flürzen müffen, ald daß fie und eine genugs 
thuende Beruhigung hatte geben Fönnen. Die ſchrecklichen 
Suͤhnopfer, wozu die Völker, die bloß ihrer Vernunft überlaffen - 
waren, ihre Zuflucht nahmen, was find Tie anders, ald die Aus⸗ 
brüche, als die entſetzlichſten Beweiſe diefer Verzweiflung? Das - 
it nun das -Evangelium, die wahrhaft frohe Botfchaft, das ift 


das koͤſtliche und alle Beherzigung werthe Wort, daß J. ©. 
ar Thl. 2ie Aufl, 16 


\ 


— 12 — 


vom Himmel gefommen ifl, und Sünder fellg zu machen. Durch 
Seinen Tod hat 3. E. für unfere Sünden gebüßet, durch das 
unendliche Verdienſt Seined Todes hat 3. C. unfere Sünden 
ſchuld getilgt, und für diefelbe eine vollkommene Genugthuung 
geleiftet. Nun bat Er und nad) Seiner Auferfiehung die feier: 
liche Verſicherung gegeben, daß unfere Sünde, wenn wir bie 
ſelbe herzlich bereuen, aufrichtig bekennen, und von derfelben 
abzuſtehen, feft entichloffen find, um Seines Todes willen vor 
Sott vergeben wird. Vergebung der Sünde, das ift die erfle 
koͤſtliche Verheißung, die wir unferer Religion verdanten. 

Was Tann, was fol und mehr auf dem Herzen liegen, 
ald daß wir, wenn wir Vergebung erhalten haben, Kraft und 
Stärke genug haben, um nicht in die Sünde wieder zuruͤck zu 
fallen, um im Guten, in der Tugend befländig zuzunchmen? 
Ihr möchtet wohl gerne gut und tugendhaft ſeyn, möchtet wohl 
gerne die Vorſchriften 3. €. befolgen; denn ihr ſeyd von ihrer 
Vortrefflichkeit ganz durchdrungen: aber ihr findet in euch dad 
Bollbringen nicht; das Wollen des Guten findet ihr in euch 
wohl, das Vollbringen aber nicht. So fand «8 fogar ber 
Mann in fih, der ald das größte Mufter und Beiſpiel der 
Tugend und Heiligkeit und aufgeftellt ift, der große Apoftel 
Paulus, Wo fand er aber dad VBolbringen? Nicht in Ni 
felber, nicht in eigener Kraft, fondern allein in der Gnade Got 
tes. „Durch die Gnade Gottes,” fprach er, „vermag ich Alles.“ 
Und J. C. ſpricht: „Was dem Menſchen nicht möglich iſt;“ 
das heißt: durch eigene Kraft nicht moͤglich iſt; „das iſt ihm 
durch Gott moͤglich.“ „Bleibet in Mir,“ ſpricht Er, „und Ich 
in euch; und ihr werdet in Mir viel Frucht bringen!“ „Ohne 
Mich,” ſpricht Er, „könnt ihr nichts thun.” Er will nur ur 
ſeren Willen, will nur, daß wir unferen Willen, fo ſchwach und 
unvollfommen er feyn mag, Ihm bingeben: denn „in ber 
Schwachheit foll Die Tugend vollendet werben.” Und Er ver: 
heißet und einen folchen, fo kraͤftig wirkſamen Beiftand,. daß, ſo 
fchwer auch Seine Vorfchriften feyn mögen, Derjenige, dem es 
um die Befolgung derfelben nur Ernſt ift, der feinen Willen 
bem Heilande nur hingibt, es felbfi erfahren fol, daß „Sein 


J 





— 243 — 


Joch ſanft, und Seine Buͤrde leicht ſey.“ Moͤge dann auch 
der Weg der Tugend hier auf Erden oft rauh und beſchwerlich 
ſeyn; durch den Beiſtand der goͤttlichen Gnade wird er leicht 
und geebnet. Und wer dieſen Weg treu zu wandeln bemuͤhet 
iſt; der hat freilich manchen Kampf zu beſtehen, manches Lei⸗ 
den zu erdulden; aber wie groß ſeine Kaͤmpfe und Leiden auch 
ſeyn moͤgen, welche Unfaͤlle der Zeit auch uͤber ihn kommen 
moͤgen; die Ruhe und der innere Friede, der ihm zu Theil 
wird, und ihm das Wohlgefallen Gottes verbuͤrgt, gibt ihm 
eine Seligkeit, womit kein Erdengluͤck in Vergleich kommen 
kann. Welche Menſchen haben einen ſchwereren Beruf gehabt, 
und haben mehr erduldet, als die Apoſtel unſeres Herrn I. C.? 
und welche Menſchen ſind ſeliger geweſen, als eben ſie? wie 
waren ſie ſo froh und ſelig bei allen ihren Leiden! mit welcher 
Freudigkeit erfuͤllten ſie die ſchweren Pflichten ihres Berufs! mit 
welcher Sehnſucht ſahen ſie dem Tode entgegen! und wie ſtarben 
ſie den ſchmerzlichſten Tod mit himmliſcher Wonne! Der Tod war 
ihre Hoffnung: denn ſie wußten, daß ſie nicht umſonſt litten 
und kaͤmpften, daß der Herr ſie fuͤr ihre kurze Treue uͤber⸗ 
ſchwenglich und herrlich belohnen werde. 

Und eben dieſe große Verheißung iſt es, welche bie Lehre, 
die Religion 3. C. einem jeden Gläubigen zufichert, welche ihn 
farkt zu gebuldiger Ertragung aller Leiden und Mühfeligkeiten, 
welche ihn ermuntert zum muthigen fiandhaften Kampfe gegen 
alle fündlichen Reize und Verfuchungen. Was konnte die Ber 
nunft allein über unfere Zufunft nach unferem Tode und zu 
erfennen geben? Nicht einmal über die Fortdauer unferes Da- 
ſeyns konnte fie und eine: beruhigende Verficherung geben. Was 
hätte fie und fagen koͤnnen über die Befchaffenheit eines Zuſtan⸗ 
des, worin die Seele vom Leibe getrennt iſt? Auf diefes zeits 
liche Leben ift ihre Wirkſamkeit beſchraͤnkt; was hinter derſelben 
liegt, ift ihr verborgen. Unfer Heiland hat den Vorhang, der 
biefed Leben von dem zukünftigen fiyeidet, aufgezogen, und uns 


lo viel, ald wir zu faflen und zu ertragen vermögen, zu erken⸗ 
nen gegeben. Seine Auferftchung vom Tode verbürgt uns die 


Fortdauer unfered Lebens, und unfere eigene Auferftehung. 
\ , 16 * 





„Seine Exben, Erben Gottes, Miterben 3. €. follen wir feyn. 
Seat find wir Schon Kinder Gottes; es ift und aber noch ver- 
borgen, was wir feyn werden, wir wiflen aber, daß wir, wenn 
Er erfcheinen wird, Ihm gleich feyn werden, weil wir Ihn fe- 
ben werden, wie Er iſt; wir wiflen, daß erhört ift Sein Ge 
bet: „Vater! Ich will, daß die, die Du Mir gegeben, feyn 
werden, wo Ich bin, daß fie in Uns Eins feyen, wie Du Va⸗ 
ter in Mir, und Sch in Dir; daß die Liebe, mit der Du Mid 
geliebet haft, fey in ihnen, und Ich in ihnen.” Zu dieſer Se 
ligkeit der Hoffnung werden wir durch die Offenbatungen un⸗ 
ſerer h. Religion erhoben. J 


Vergebung der Suͤnde, Kraft und Gnade, um immer rei⸗ 
ner und beſſer, immer ſeliger und Gott aͤhnlicher zu werden, 
und das ewige Leben in ewig ſeliger Vereinigung mit dem Va⸗ 
ter, Sohn und h. Geiſt und mit allen Auserwaͤhlten Gottes; 
dieſe find die großen Verheißungen, mit welchen unfere h. Re 
ligion unfer Herz erfüllet, . 


Sehet alſo, m. W.! was die Lehre, was die Religion J. 
C. uns gibt! ſehet, in welcher Erhabenheit und Vortrefflichkeit, 
in welchem Glanze der Schoͤnheit ſie uns erſcheint, moͤgen wir 
achten auf ihre Wahrheiten, die wir glauben, auf ihre 
Vorſchriften, die wir erfuͤllen, oder auf ihre Verhei— 
ßungen, auf die wir hoffen ſollen. Wer daher dieſe Lehre, 
dieſe Religion J. C. einmal erkennt, wer ſein ganzes Herz der⸗ 
ſelben hingibt, wer durch oͤfteres und ernſtliches Betrachten und 
Nachdenken ſie im Innerſten ſeines Gemuͤths aufgefaſſet, wer 
vorzuͤglich durch treue Erfuͤllung ihrer Vorſchriften ihre Goͤtt⸗ 
lichkeit durch eigen? Erfahrung kennen gelernt hat: dem iſt fie 
jener im Acer verborgene Schatz, wovon unfer Heiland, fagt, 
daß man um jeden Preis ihn zu erwerben ſucht; jene koͤſtliche 
Perle, die man auch um ben Werth feines ganzen Vermoͤgens 
zu erhalten fuht. Das fagte aber unfer Heiland nur verglei- 
chungsweiſe, um und ihren großen, unfchäßbaren Werth deſto 
anfchaulicher vor Augen. zu ftellen. Nicht um Geld und Gut 





— 26 — 


laͤßt ſich erwerben, was beſtaͤndig, was ewig iſt. Auch durch 
den Verſtand allein laͤßt ſie ſich nicht erwerben. Lehre und 
Unterricht muß freilich vorhergehen: aber wie Viele gibt es, die 
ordentlich in unſerer Religion unterrichtet ſind, die ihre weſent⸗ 
lichſten Wahrheiten wohl kennen, ohne jedoch ihren inneren 
Werth, ihre unausſprechliche Vortrefflichkeit je in ihrem Leben 
zu koſten! Nicht als eine Wiſſenſchaft, die man bloß erkennen 
ſoll, iſt uns unſere h. Religion gegeben; ſondern als eine An⸗ 
weiſung, den Weg dieſes Lebens ſo zu gehen, daß derſelbe uns 
ſicher zum ewigen Leben fuͤhrt. Es gibt daher nur einen ein⸗ 
zigen Preis, um welchen wir den inneren Werth, die innere 
Vortrefflichkeit unſerer h. Religion gleichſam erkaufen koͤnnen: 
dieſer einzige Preis iſt unſer freie Wille, der auch unſer einzi⸗ 
ges, wahres Eigenthum iſt. Dieſes einzige wahre Eigenthum, 
das wir beſitzen, unſeren freien Willen, ſollen wir ganz hinge⸗ 
ben in dem feſten Entſchluſſe, ihn den Vorſchriften unſerer Re⸗ 
ligion ganz und gar zu unterwerfen. Dieſer Entſchluß muß 
aber ganz unentweglich ſeyn. Nichts in der Welt muß uns 
von demſelben abwendig machen koͤnnen. Je mehr Muͤhe es 
uns koſtet, je beſchwerlicher die Ueberwindung und Aufopferung 
iſt, um demſelben treu zu bleiben; um deſto mehr werben wir 
zur Einficht ded inneren Werthed, der inneren Vortrefflichkeit 
und Göttlichkeit unferer h. Religion gelangen. Dann bedürfen 
wir, um zu glauben, Feiner anderen Zeichen und Wunder mehr, 
als jener, die und gegeben find; dann wiflen wir’! aus eigener 
Erfahrung, was wir an unferer Religion haben; dann ift fie 
und ein Licht in jeber Finſterniß, ein Rath in jeder Verlegen⸗ 
beit, ein Zaum in jeder Verſuchung, ein Sporn in jebem 
Kampfe, in jeder befchwerlichen Pflihterfüllung, ein milder, ers 
quidender Zroft in jedem Leiden, ein: ficherer Wegmweifer dur 
alle Irrgänge dieſes Lebens. Darum fpriht 3. C.: „In euch 
ſelbſt,“ nämlich in euerem Willen, „ift dad Himmelreich.“ Er⸗ 
munternde „Berbeißung! Geben wir unferen Willen ganz bin 
der Lehre 3. C., fo koͤnnen wir das Himmelreich ſchon hier auf 
Erden finden. | | 








⸗ 


Herr, unſer Heiland! nimm gnaͤdig an das Opfer unſeres 
Willens; zuͤnde In und an dad Zeuer Deiner Liebe, damit fie 
unſeren Willen erwärme, und von aller Unlauterfeit reinige, 
damit wir felbft immer mehr erfahren mögen, wie unausſprech⸗ 
lich füß und Liebreich der Herr und Seine Lehre if. Amen. 





Achtzehnte Rede 


Erite Rede am zweiundzwanzigften Sonntage nad 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


.— 








Tert: 
Die Parabel vom Koͤnige, der rechnen wollte. Matth. 
18, 23 — 35. 


& h ema:; 
Ber feinem Bruder nicht vergibt, dem wird 
Gott auch nicht vergeben. 


Ein Pflicht, die von Vielen nicht gehörig erfannt und oft 
mißverflanden wird, eine Pflicht, die zu erfüllen und oft vor: 
fommt, von Vielen aber gar nicht, ober nicht recht erfüllet, und 
oft übertreten wird, die ſchwer zu erflllen iſt; eine Pflicht aber, 
die wir nothwendig ganz und volltommen erfüllen müffen, wenn 
wir Gnade bei Gott finden wollen; es ift die Pflicht der Ver⸗ 
föhnlichkeit, die Pflicht unferem Beleidiger von ganzem Herzen 
zu vergeben, wovon und der Herr 3. ©. in der heutigen Pas 
rabel als in einem anfchaulichen Bilde eine ganz deutliche Er⸗ 
Härung gibt; worin Er und zugleich den Beweggrund mit: 
theilt, aus welchem wir diefe Pflicht erfüllen follen. Wir follen 
unferm Beleidiger von Herzen vergeben; und die barmhberzige 
Liebe, womit Gott und unfere Beleidigungen vergibt, die immer 
weit größer find, als die Beleidigungen, die andere Menfchen 


— 1 — 


und nike, fo groß diefelbe auch feyn mögen, ſoll ber Beweg⸗ 
grund ſeyn, aus welchem wir Anderen ihre Beleidigungen ge⸗ 
gen uns vergeben ſollen. Dieſe iſt die wichtige, uns Alle ſo 
nahe angehende Lehre, die uns der Heiland in der heutigen 
Parabel gibt, und fo dringend an's Herz legt. Wahrhaftig! 
fie geht und Alle fehr nahe an, dieſe Lehre. Denn wie oft 
fallen nicht Beleidigungen vor! wer hat fich nicht an viele vers 
gangene zu erinneren, nicht gegenwärtige zu ertragen, nicht zu: 
Fünftige zu befürchten! Beleidigungen, oft unter ben nächften 
Angehörigen, unter Hausgenoſſen, Nachbaren, bie oft der böfe 
Same unfeliger Zwietracht werden ; anhaltende, fortgefeßte Be⸗ 
leidigungen, die oft in wirkliche Seindfchaft übergehen; Belei⸗ 
digungen von allerlei Art, die unfere Ehre, unfer Vermögen 
angreifen; Beleidigungen, die aus Abficht, oder aus Weberei» 
lung, in leidenfchaftlicher Dige, ober aus -Unbefonnenheit und 
Mißverſtand geſchehen; wie gibt es nicht Beleidigungen allerlei 
Art ohne Zahl und ohne Maaß unter und Chriften, unter be= 
nen nur Friede und Liebe die Herrfchaft. führen ſollte! Nun 
merkt es wohl, meine Zuhoͤrer! die Lehre 3. C., die und ohne 
alle Bedingung, die Beleidigung mag fegn, welche fie wolle, 
zur. Verföhnlichkeit auffordert, macht unter allen Beleidigungen. 
keinen Unterfchieb, weil Gotted Erbarmung auch) unfer unferen 
Beleidigungen, fie mögen fo groß und fo verjährt feyn, wie fie 
wollen, wenn wir mit herzlicher Reue zu Ihm um Vergebung 
fiehen, Beinen Unterfcjied machen will. Keine Ausnahme alfo 
fol Statt finden, die und von der r Pflicht der Berne 
frei hd 


I. 


Das wirv uns noch heller einleuchten, . wenn wir auf die 
Veranloffung zu dieſer Parabel unſer Augenmerk richten. Der 
Heiland hatte unmittelbar vorher zu Seinen Juͤngern von Bes 
leidigungen ‚gefprashen, und dem Beleidigten diefe Vorſchrift ge⸗ 
gegeben: „Wenn dein Bruder gegen dich ſuͤndiget,“ das heißt: 
dich beleidiget, „do gehe hin, und ſtelle ihn zur Rede, zwiſchen 
ihm und die allein! voͤrt er auf dich, ſo haſt du deinen Bru⸗ 


ber gewohnten.” Der Beleidiger hätte dieſes freifich zuerſt thum 
folen; denn er trägt ja die Schuld. Darum gab der Herr im 
der Bergrede dem Beleidiger die VBorfchrift: „Wenn bu deine 
Sabe zum Altare bringfi, und wirft allda eingeden?, daß dein 
Bruder etwas wider dich habe; fo laß allda vor dem Altar 
beine Gabe, und gehe hin, verföhne dich zuvor mit deinem 
Bruder, und dann komm, und opfere deine Gabe!” Matth. 5, 


23—24. Weil der Beleidiger aber, ‚feiner Schuld. fi) bes 


N 


wußt, aus Scham nicht leicht zur Erfüllung dieſer Pflicht 
Zommt, weil ed dem Menfchen natürlich iſt, zu haſſen, ben 
man beleidiget hat, um feine Schuld von fidy felbft abzuwaͤlzen: 
fo wendet: Sich der Herr hin zu dem Beleidigten, daß er thue, 
was der Beleidiger hätte thun follen.: „Gehe hin,” fmiht Er 


zu dem Beleidigten, warte wicht, bis ber Beleibiger feine Schuld 


befenne und abbitte; fondern: : „gehe du ſelbſt bin, und ſtelle 
Ihn zur Rede; betrachte ihn als einen, der vor Bern oder 
Scham noch außer fich, feiner felbft nicht mächtig iſt; betrachte 
ihn ald einen Kranken; der deiner fchnellen Hülfe ſehr bebürfe 
tig iſt, damit feine Krankheit nicht unheilbar werdel Wie hat 
ber Here durch diefen Ausfpruch auf einmal fo ganz zu Boden 
gefchlagen die gewöhnlichen Ausflüchte der Beleidigten: „Wie? 
ich foll der Erſte feyn, foll zu ihm gehen, da Er zu mir Toms 
men müßte?“ Ehret vielmehr dad Vertrauen, welches ber Here 
auf euch feßt, indem er von euch fordert, was ber Beleidiger 
hätte thun follen, was ihr aber Leichter, als er, erfüllen koͤnnet! 
Er hätte euch um Verzeihung bitten muͤſſen; ihr follt ihn num 
zur Rede fielen, ihn an feine Fehler erinneren, ihm vorftellen, 
was ihr gelitten habet, — geſchieht dad, fagt der h. Chriſoſto⸗ 
mus, auf die geziemende Weife: . fo ift es für ihn eine Art 
von Entfchuldigung, und. bad befte Mittel, die Verſoͤhnung zu 
bewirken. Das ift die Gefinnung, die der Herr von dem Bes 
leidigten fordert; er ſoll dem Beleidiger zu Hülfe, fol ihm emt- 
gegen kommen, fol gern ber Geringſte feyn wollen; mit vers 
föhnlichem Herzen fol er zu ihm geben, nicht um ihm feine 


uUnbild mit harten Worten vorzuwerfen, nicht, sum mit ihm zu 


zanfen, ober Senugthuung von ihm zu fordern; feine eigene 








— —— 


— 20 — 


Unbild ſoll er vergeſſen, nur die Wunde in der Seele feines 
Bruders ſoll ihm vor Augen ſchweben, wie ber h. Auguſtin ſagt; 
allein fol er zu ihm geben; alfo mit zarter Schonung, damit 
er fein Ehrgefuͤhl nicht verletze; fol ihn ſo mit Sanftmuth zut 
Rede. ftellen, daß er fein Unrecht erfenne und bereue. Den 
glimpflichften Weg alfo follen wir zuerſt verfuchen, mit Scho⸗ 
nung der Scham und des Anſehens. Diefe Weiſe, den Bru⸗ 
der zurecht zu welfen, ift die angemefienfte und wirkfamfte, ins 
Dem ber Beleidigte durch fein Betragen darthut, er handele 
nicht aus Feindſchaft, aus Rachfucht, nicht um den Beleidiger 
zu. kraͤnken, fonbern für das Beſte deſſelben, aus Liebe gegen 
ihn. Wenn nun der Beleidiger, gerührt durch bein liebevolles 
Benehmen, auf dich höret, feinen Fehler erkennt und bereuet: 
fo vergib es ihm! So fpricht der Herr beim’ Evangeliften Zus 
Lad: „Wofern dein Bruder an dir fündiget: fo verweife es ihm; 
und wenn er es bereuet, fo vergib ihm!” . Luf, 17, 3. Das 
ber Beleidiger alfo den Fehler erkenne und bereue, daß er mit 
Gott und mit dir fich wieder verſoͤhne; das allein fol die Ab⸗ 
ficht' bei dieſer brüberlichen Beſtrafung ſeyn. „Hört er auf 
Dich,” ſpricht der Herr, „To haft bu deinen Bruder gewonnen;” 
Haft ihm für Gott, für ihn felbft, und auch für dich gewon⸗ 
nen; haft gerettet feine Seele, die wegen ber zugefügten Be⸗ 
leidigung in fo großer Gefahr war. Die Seele deines Bru«- 
ders zu retten, dad Größte und Beſte, welches bu vor Gott 
im Himmel thun kannſt, fol dir dei Antrieb feyn, fo gegen 
ihn zu bandelen. Die Liebe fol dich flark machen, das Schwerſte 
zu erfuͤllen, dich ſelbſt zu uͤberwinden. 

O Gott! wenn dieſe Vorſchrift immer von und befolgt 
würde, wenn wir uns nicht fo fehr abhalten Heßen durch Fleiſch 
und Blut, und durch allerhand Ausflüchte, womit wir unfere. 
aufgeregte Leidenfchaft und umfere Unverföhnlichkeit immer zu 
bedecken fuchenz -0 wie würden dann alle und jebe Beleidigun⸗ 
gen ſchon in Ihrem erfien Keime erſtickt werden! wie tief wuͤrde 
unſer auf foldhe Art verföhnter Bruder die ihm bewiefene Liebe 
tn feinen Herzen fühlen, und von nun an um deſto inniger. 
unfer Freund werben! wie fehr würde ber Eindrud biefer Liebe 


| | u WW — 
ton in der Zukunft von alten. Beleidigungen zurüdthalten, ibm 
ein liebreiches, fanftmäthiged, mildes Gerz geben, daß er nun 
auch ein Freund Gottes werde! D, es ifl etwas Großes, «6 
iſt das: Größte, ‚was wir thun können, eine Seele retten und 
für Gott gewinnen. Kein, Opfer muß und zu groß feyn, um 
dieſes Werk. zu Stande zu bringen, wenn Gott uns dazu bie 
Gelegenheit gibt. Gehſt du mit einem verfühnlichen Herzen zu 
Beinen Beleidiger: dann begleiten dich die Enget ded Himmels, 
und der Herr fieht auf di mit Wohlgefallen. Bereit follen 
wir wenigſtens immer feyn, gegen unfern Beleibiger immer fo 
zu handeln, wenn es auch Umflänbe geben kann, die. und noch 
abhalten mögen, dieſe Pflicht buchſtaͤblich zu erfüllen, wenn 
3: B. das Verhältniß, worin du mit. dem. Beleibiger ſtehſt, 
ein ſolches Benehmen gar nicht geflattete, vielleicht gar zum 
Öffentlichen Aergerniß: dienen möchte; oder wenn es böchft. wahr: 
ſcheinlich zu befürchten wäre, Daß der, Beleidiger Dadurch noch 
mehr möchte . enbittert und im Herzen verkärte werben. Nun 
iſt es freilich wahr, in der Borfehrift, die der Her J. C. uns 
gegeben hat, hat Er uns nicht gerade die beſtimmte Handlung, 
die Er nur als Beiſpiel genannt bat, fondern vielmehr die Ges 
finnung, bie Bereitwilligkeit zu jedem Mittel der Werföhnmg 
zur Pflicht gemacht. Bereit follen wir aber feyn, Alles -an- 
zuwenden, im: ben Beleidiger zur Erkenntniß feines Unrechts 
Zu bringen, und dadurch feine Seele zu reiten; der ficherfte 
Beweis, daß wir ihm von Herzen vergeben ‚haben. Darum: 
follen wir, wenn nicht die wichtigfien Sründe und höhere Pflich- 
ten und abhalten, auch in Perfon zu ihm gehen. mit. verföhns 
lihem Herzen; und follen nicht zu leicht Gehör ‚geben dem 
Gedanken: „Es wird doch nichtd helfen, wird dad Uebel. nur 
ärger machen, es if nur Del in's Feuer gießen.” Denn wer 
kann fie berechnen, die Macht der Liebe, die oft eine fo wun- 
berbare Gewalt ausübt über die Herzen: der Menſchen? und 
wie können wir noch weniger berechnen die Macht der Gnade, 
welche denjenigen nicht fehlen wird, ber im Namen des Here 
geht, um in Seinem Dienfte, im Dienfte der Liebe zu wirken? 
In dieſem Geiſte der Licbe wandelte und ‚wirkte -ber. Apoſtel 








Paulus, umb konnte fi) felber das Beugniß geben: „Den 
Schwachen bin ich ſchwach geworden, um bie Schwachen zu 
gewinnen. Allen bin ich Alles geworben, wm. Alle zu retten.“ 
1. &or. 9, 22. 

Wir follen Muth faſſen, und auf den Herrn vertrauen, 
ſollen den Muth nicht verlieren, wenn auch der erfie Verſuch 
mißlingen möchte. Die Lebe, die Beforgniß um bad Seelens 
beil des Bruders fol und antreiben, noch einen zweiten ers 
fisch zu machen. So ſpricht I. C.: „Hoͤret er aber nicht auf 
dich; fo nimm noch Einen ober Zween mit bir, auf daß alles 
Wort beftehe auf zweier oder dreier Zeugen Munde!” Höret 
er nicht auf dich; das geht nicht zu ohne neue Beleidigung: 
er wird bei deinem Anblid von neuem erboßt, will dich nicht 
einmal zu Worte kommen laffen, weiſet dich ab mit Grobheit, 
oder er leugnet bie. Beleidigung geradezu ab, will von Feiner 
Beleidigung vwiflen, ‚genug, er bört nicht auf did, und bu 
mußt ihm mit. noch mehr erbittertem Gemuͤthe verlafien. Wie 
würde uns wohl nım zu Muthe feyn, wenn wir eine ſolche 
neue Unbild hätten erfahren müffen? Wuͤrden nicht. wohl bie 
Meiften ebenfalls mit erbittertem Herzen von ihm gegangen 
ſeyn? wuͤrden fie nicht gedacht haben: „ich babe gethan, was 
er hätte thun follens was brauche ich mehr?” So denkt und: 
handelt aber die Liebe nicht. Je größer die Gefahr ded Bru⸗ 
ders geworben if, deſto größer wird auch ihre Sorgfalt und. 
ihr Bemühen um feine Rettung. 

In diefem Geifte der Liebe gibt Derjenige, Der die Liebe. 
ſelbſt iſt, die Vorſchrift: der Beleidigte ſoll, der neuen erlitte⸗ 
nen Unbild uneingedenk, Einen ober Einige als Zeugen mit: 
nehmen, Männer, die mit ihm von der nämlichen Sefinnung. 
find, aus der nämlichen Abſicht, den Beleidiger zur Erkennts. 
niß zu Bringen, biefen Verſuch machen, damit er, durch Aus⸗ 
fage von Zeugen überführt, nach dem Mofaifchen Geſetze bie. 
Beleidigung nicht -Tänger mehr ableugnen könnte, : damit der 
vereinte Zufpruch diefer Beugen mit defto ‚mehr. Nachdrud auf. 
‚ fein Semüth wirken möchte. So will ber Heiland, daß wir, 
auch nach. fruchtlofer Erinmerung ‚unter vier Augen, das Beil, 





’ 
% 


unſers Beleldigers nicht fobalb hintanſetzen, ſondern deſto eifri- 
ger für daſſelbe und bemühen follen. 

Mißlingt auch biefer ‚zweite Verſuch, fo iſt ed vorauszu⸗ 
fehen, -daß der Weleidiger, well er fo ſtark fich angegriffen 
fühlte, den Beleidigten und feine Zeugen mit noch härteren, 
mit noch mehr beleidigenden Worten werde. abgemiefen haben. 
Ein mißlungener Verfuch macht. dad Uebel inmmer ärger, die 
Gefahr des Seelenheild immer größer. Das foll der Beleidigte 
fi zu Herzen nehmen; der wiederholten Unbilb uneingedenk, 
‚fol feine Liebe noch das letzte Mittel verfuchen. 

Darum gibt der Heiland. die Worfchrift: „Hoͤret er. aud 
biefe'nicht, fo fage es der Kirche!” und deutete mit diefem 
Ausſpruche fchon hin auf die Kirche, die Ex bereinft fiften 
würde, die Er in ihren Vorſtehern, den Apofteln, fchon geflif: 
tet, denen Er die Macht, zu loͤſen und zu binden, ſchon er 
theilt Hatte. Diefe Vorſteher der ‚Kirche, ‚nicht die Gemein: 
ſchaft der. Gläubigen, meinte ber Heiland, als Er ſprach: „far 
get ed der. Kirche!“ Die erſten Verſoͤhnungsverſuche follten ja 
nach Seiner Vorſchrift fo geichehen, daß die Sache, fo vie 
aur immer möglich, im Verborgenen bliebe, das follte fie au 
bei diefem lebten Werfuche bleiben, indem fie folchen Männern 
übergeben würde, welche von Gott dazu angeordnet waren, die 
Seelen zu führen, und durch den h. Geift. erleuchtet ware. 
„Wenn er aber auf die Kirche nicht höret: fo fey er dir wie 
ein Heide und Zöllner.” Das fagte der Heiland, um ben Bes 
leidigten zu tröften, und den Beleidiger zu fchreden. 

. Darum febte Er hinzu, indem Er die ihnen verljehene 
Gewalt beftätigte: „Wahrlich, Ich fage euch: was ihr auf Er 
den binden werdet, das wird auch gebunden feyn im Himmel, 
und was ihr auf Erden Löfen werdet, dad fol auch gelöfet 
feyn im Himmel.’ Was fie binden werben auf Erden, ent 
weder in der Beichte den Bekennenden die Sünden noch vor 
behaltend, oder den Sünder belegend mit dem Ausſpruche der 
Trennung von ber kirchlichen Gemeinfchaftz das wird auch ge 
bunden feyn im Himmel. Er erklärt, wie der h. Hieronymus 
fagt, daß über die, welche von ihnen verurteilt werben, bei 


menſchliche Ausſpruch durch ben göttlichen befräftiget werde, 
Hier ausgefchloffen von der Kirche, von dem Reiche Gottes auf. 
Erden, fo auch dort audgefchloffen von dem Reiche Gottes im 
Himmel: das möge dich erfchütteen, o Beleidiger, wenn bu 
dih mit dem Beleidigten nicht ausföhnen winft! 

Da aber die Kirche auch diejenigen, welche fie von ihrer 
Semeinfchaft ausſchließen muß, von ihrer Liebe nicht ausſchlie⸗ 
Ben fol; ermuntert der Heiland, zwar flr Alle, insbefondere 
aber für die Getrennten zu beten, und gibt und wieberholt bie 
Verheißung: „Wenn Zween unter euch fich vereinigen auf Er⸗ 
den, zu bitten um was es fey: fo wirb es ihnen werben von 
Meinem Vater, Der in dem Himmel ifl. Denn, wo Zween 
ober Drei verfammelt find in Meinem Namen, da bin Ich in. 
ihrer Mitte.” Auf euer gemeinfchaftliched Gebet wird euch die 
Seele des getrennten Bruderd wieder gefchenkt, wird dad Band, 
womit ihr ihn habet binden müffen, wieder gelöfet werden. 

Sehet, das iſt die Stufenfolge der brüberlichen Zurecht⸗ 
weiſung bei foldhen Beleidigungen, bie noch nicht an's Offene 
gekommen, noch nicht zum Öffentlichen Aergerniffe geworben 
find, um ben Beleidiger wieder zu gewinnen. Es ift eine 
Vorſchrift der Liebe, die wir nicht in größerem Maße gegen. 
unferen beften Freund, der und nur mit Wohlthaten überhäuft 
haͤtte, beweifen koͤnnten, eine Vorſchrift, die und auffordert, 
nicht auf die empfangene Unbild, nicht auf unfere eigene Per⸗ 
fon, fondern einzig und allein auf die Gefahr des Beleidigers, 
unfered Bruberd, auf bie Gefahr feined Heild Rüdfiht zu 
nehmen. Es ift eine Vorfchrift der Liebe. Zu welcher Höhe 
der Tugend, ber Liebe erhebt und das Chriftentbum! Zuerſt 
ganz insgeheim fanft und gelaffen den Bruder zurechtweifen,. 
dann durch Zeugen ihn überführen, und mit größerem Nach- 
druck ihm zureden, dann ed den Vorftehern der Kirche, 3. B. 
dem Beichtvater fagen, und ihn nie und nimmer von unferer 
Liebe, von unferem Gebete audfchließen. Seht, m. 3.1 fo 
verföhnlich follen wir nach der ausdrüdlichen Lehre J. C. ges 
gen unfere” Beleidiger gefinnet feyn. Nicht denken follen wir: 
„er trägt die Schuld, .er muß alfo zuerſt zu mir kommen;“ 


— u — 
Theltuahme art feinem Elende, und vorzuͤglich und’ am nmiflen 
dein tägliches und herzliches Gebet! Harre aus im Dulden 
und Beten! Vielleicht ganz unerwartet, vielleicht erft fpat, 
vielleiht erft am Ende ſchenkt dir Gott auf dein Dulden und 
Beten bie Seele deines Bruderd; und bein Cohn m wird groß 
ſeym vor Gott. 
II. 

Alle dieſe Lehren, die der Herr J. C. Seinen Juͤngern 
gegeben hatte, trug Er ihnen zuletzt noch vor in der Parabel 
des heutigen Evangeliums, um ſie ihnen durch dieſes anſchau⸗ 
liche Bild ganz unvergeßlich zu machen. „Damit man nicht 
waͤhnte,“ ſagt der h. Chriſoſtomus, „Er habe etwas Laͤſtiges 
und Beſchwerliches befohlen, fuͤgte Er dieſe Parabel hinzu, um 
zur Erfuͤllung Seines Gebots zu ermuntern, und um zu zei 
gen, daß das Gebot nicht ſchwer, ſondern ſehr leicht ſey. Er 
ſtellte die Liebe Gottes als Beiſpiel auf, damit du ſaͤheſt, daß 
deine Liebe, wenn du auch ſiebenzig ſiebenmal vergibſt, wenn 
du auch immerdar ohne Vorbehalt alle Bedingungen dem Naͤch⸗ 
ſten nachlaͤſſeſt, gegen jene eben fo fich verhalte, wie ein Tro⸗ 
pfen Wafjerd gegen dad unermeßliche Weltmeer! ja noch gerins 
ger iſt deine Liebe gegen die unendliche göttliche Liebe, welche 
bir nötbig if, wenn du vor dem Gerichte wirft erfcheinen müfs 
fen, um Rechenfchaft zu -geben. Keiner erhält Vergebung feis 
ner Sünden von Gott, der nicht feinen Beleidiger von Herzen 
vergibt. Das iſt der Sinn diefer Parabel.” 

Ald der Herr dem Apoflel Petrus jene Antwort ertheilt 
hatte; fuhr Er fogleich unmittelbar darauf fort und ſprach: 
„Darum iſt dad Reich der Himmel zu vergleichen einem Koͤ⸗ 
nige, der mit feinen Knechten“ — mit feinen Verwaltern — 
„Rechnung halten wollte. Und ald er anfing, Rechnung zu: 
halten, ba ward ihm einer vorgeführt, der war ihm zehntau⸗ 
fend Talente fchulbig.”. - Ganz ungeheuer war die Schuld dies 
ſes untreuen Berwalters; fie betrug nad) unferem Gelde wohl 
zwölf, ober. wenigfiens nach dem geringfien Maßftabe 3 Mile 
Lonen Thaler; ſo freventlich hatte der Verwalter die Güter 








-ı — 


feines Seren, ber vielleicht in mehreren Jahren keine Abreche 
nung gehalten hatte, verfchwendet. „Da er aber nicht hatte, 
zu bezahlen, befahl der Derr, zu verkaufen ihn und fein Meib 
und feine Kinder und Alles, was er hatte, und. zu erſtatten.“ 
Dem untreuen Verwalter geſchah, was ihm nad bem Gefeke 
gebührte. „Da warf fih der Knecht fußfaͤllig wor ihm nieder, 
bat und ſprach: habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bes 
zahlen.” In feiney Bedrangniß verfprad er mehr, als er zu 
halten im Stande war. So ſprechen auch wir, wenn einmal 
unfer Gewiſſen über unfere Sünden geängfliget wird, wenn 
wir anfangen, bie göttlichen Gerichte zu fürchten; . wir. bitten 
nur um Auffhub, — nicht um uns zu beffern, fonbern ung 
unfere Buße noch länger aufſchieben zu koͤnnen; wollen Alles 
wieder gut machen, fchreiten aber nicht zur Ausführung und 
machen’d, wenn die Furcht worüber ift, nicht befier, als jener. 
Knecht. „Den Kern aber jammerte dieſes Knechts; er gab 
ihn los, und erließ ihm auch die Schuld.” „Erkennſt du,” 
fagt der h. Ehrifoflomus, „dad Uebermaß der göttlichen Barm⸗ 
herzigkeit? Nur um Aufſchub bat der Knecht. Der Herr aber 
gab ihm mehr, alder verlangte, ſchenkte ihm die ganze Schuld, 
und verzieh ihm. Wie wollten wir gut machen Tünnen, was 
wir durch unfere Sünden verfchuldet haben, wenn nicht Einer 
biefe Schuld für und übernommen und getilgt hatte? Wenn 
wir. im Vertrauen auf Ihn unfere Schuld bereuen und befens 
nen: fo wird und um Seinetwillen unfere ganze Schuld nach 
gelafien. Das ift der erſte Theil diefer Parabel. 

Wir wenden und jebt zu dem zweiten. Bid dahin han- 
deite der Knecht nach feinen Umfländen noch gut: er gefland 
die Schuld ein, verſprach Beflerung , flehete um Vergebung, 
verdammte feine Sünden , erkannte die Größe feiner. Schuld, 
Was er aber that, war, wie ed auch oft bei und der Fall iſt, 
bloß äußerlich, Fam nicht aus einem gebemüthigten, zerknirſch⸗ 
ten Herzen. „Da ging derſelbe Knecht hinaus, und fand einen 
feiner Mitknechte, der war ihm hundert Groſchen — nach une. 
ſerem Gelbe, höchftend zwanzig Thaler — ſchuldig; und er griff 
ihn, faffete ihn bei der Kehle, und ſprach: Vahle, was du 

ar Chl. 2te Aufl. 


ſchuldig biſt!“ Nicht ange nachher; fondern gleich darauf, als 
er von feiner Angft befreiet war; begegnete ihm einer feiner 
Mitknechte, der ihm nur eine folche. Kleinigkeit fchuldig war, 
und gerieth bei deffen Anblid in eine folhe Wuth, und be⸗ 
handelte ihn fo unwuͤrdig. Der Mitknecht fiel ihm zu Füßen, 
bat ihn und ſprach: „Habe Gebuld mit mir, ich will dir Al⸗ 
les bezahlen!” Gerade fo war er felbfi eben vorher feinem 
Ham, dem Könige, zu Füßen gefallen, mit den nämlichen 
Worten hatte er gebeten: „habe Geduld mit mir!” und hatte 
Erhörung gefunden. Er hatte vollkommene Nachlaſſung erhal- 
ten; dieſer aber bat nur um Auffchub, und nicht einmal dies 
fen wollte er ihm geftatten. „Er aber wollte nicht; fondern 
ging hin, und warf ihn in's Gefängniß, — ließ ihn durch 
den Richter in den Schuldthurm- werfen, — bis er die Schuld 
bezahlete.” Wir werden in unferem Innerflen empört, und 
von Unwillen ergriffen über die rohe Härte dieſes Menfchen ; 
und Viele bedenken nicht, daß fie ihr eigenes Urtheil fich ſpre⸗ 
hen. Gibt ed nicht Viele, die noch an dem nämlichen Tage, 
da fie mit unferem SHeilande 3. E. in den h. Sakramenten 
fih verfühnet und vereiniget haben, bei ihrer Ruͤckkehr zu Haufe 
mit der nämlichen Härte wie vorhin, uͤber idre Haudgenoffen 
und Dienftleute berfallen, wegen der unbedeutendflen Kleinig- 
Teiten einen unwürbigen Lärm und Streit erheben; die gerade 
an diefem- Rage oft am fchlimmften fich betragen? Mit Gott 
meinen fie fich verfühnt zu haben, und fie find unverträglich, 
unverſoͤhnlich gegen Jedermann. 

„Als das feine Mitknechte fahen, wurden fie fehr. betrübt, 
kamen und erzählten ihrem Heren Alles, was gefchehen war.” 
Nicht einmal Menfchen gefiel ein folches Betragen; wie viel 
weniger Gott! Nun mußte der Mann wieder vor feinem Koͤ⸗ 
nige, als vor feinem Richter erfcheinen. In diefem Gerichte 
erfennen wir das Vorbild des Gerichtd und Urtheild, welches 
Gott über Alle, die ihren Beleidigern nicht von Herzen verges 

ben wollen, wird ergehen laffen. 
„Da forderte ihn fein Herr vor fih, und fprach zu ihm: 
Du böfer Knecht! alle Schuld erließ ich dir, weil bu mic 





’ 
— 259 — ' 


bateft.” Als er vorbin wegen feiner ungeheueren Schuld ange⸗ 
klagt wurde, nannte ber Here ihn nicht böfe, fehimpfte ihn 
nicht, fondern erbarmte fich feiner. Seht, Da er wegen ber 
Härte gegen feinen Mitknecht angeklagt wurde, fprach der Here ' 
zu ihm: „bu böfer Knecht!” Höret diefes, fagt der b. Chri⸗ 
ſoſtomus, hoͤret dieſes, ihre Hartherzigen! Wenn du dich der 
wider dich verübten Beleidigungen erinnerft, daß du dich eben 
baburch der. wider Gott verübten Beleidigungen erinnerft, daß 
du beine eigenen, nicht des Nächften Beleidigungen berechneft; 
darum ſprach dev Herr: „Mußteft du nicht auch deines Mit⸗ 
knechts dich erbarmen, wie Ich Mich deiner erbarmete ” So 
fol Gottes Erbarmung gegen und? — uns ſtets im lebendigen 
Andenken, und uns ftetd der flärffte Antrieb feyn, unſerem 
Nächften jede Beleidigung zu vergeben. ‚Auf den Verweis folgt 
nun das Urtheil. „Und, voll des Zorns, überantwortete ihn 
fein Herr dem Kerkermeifter, bis daß er bezahlete Alles, was 
er fhuldig war.” Vorhin hatte der Herr ihm die ganze Schuld 
erlaffen, jest nimmt er fein Wort wieder zurüd, und fordert _ 
einen ganz volllommenen Erfah. Sehet da, ein Bild der goͤtt⸗ 
lichen Gerechtigkeit, die dem Sünder feine Vergehungen nur 
unter dem Bedingniß wahrer Beſſerung vergibt! Gott nimmt 
freilich Sein Wort nicht wieder zurüd, Gott bat dem nicht 
vergeben, der feinem Nächften nicht von Herzen vergeben hat. 
Mer mit Groll und Bitterkeit gegen den Nächten auf dem 
Herzen aus dem Beichtftuhle fommt, dem hat Gott noch Feine 
einzige Sünde vergeben; denn wer nur über eine einzige Sünde 
ohne wahre Neue ift, der hat auch Feine wahre Reue über alle 
feine anderen Sünden. 


I. 


Was follen wir nun aus diefer Parabel lernen? Das 
lehrt und 3. ©. Selbit, da Er fpriht: „Alfo wird auch Mein 
bimmlifcher Bater euch thun, wofern ihr nicht vergebet, ein 
Jeglicher feinem Bruder, von ganzem: Herzen.” Matth. IS, 
23-35. Das ift alfo das unwiderrufliche Urtheil, welches 
über einen Jeden wird auögefprochen werden, der nicht: bereit 
17* 





— 20 — 


. if, feinem Bruder von ganzem Herzen zu vergeben. Unfere 
eigenen Fehler follen wir verdammen, und unferem Nächten 
feine Fehler vergeben; nur unter dieſer Bedingung dürfen wir 
auf Vergebung hoffen. Das Uebel, welches der Beleidiger und 
zugefügt bat, ift bei weiten nicht fo groß, als dad Uebel, 
welches du dir felbft zufügefi, wenn du die Beleidigung nicht 
vergibfi, und das verdammende Urtheil Gottes dir zuzieheſt. 
Je größer feine Beleidigungen, deſto mehr Wohlthaten hat er 
dir erwiefen; denn er hat dir Gelegenheit gegeben, eine voll 
tommene Vergebung deiner Sünden zu erlangen. Seine Schuld 
gegen dich, fo groß fie auch feyn mag, kann gar nicht in Vers 
gleich) Fommen mit deiner Schuld gegen Gott, möchteft du auch 
keiner ſchwerern Suͤnde dich ſchuldig wiſſen. Das ift die Lehre, 
welche der Heiland in dieſer Parabel ganz vorzuͤglich herausge⸗ 
hoben und in's helleſte Licht geſtellt hat, damit wir's tief in 
das Innerſte unſers Gemuͤths aufnehmen moͤchten: „Wer ſei⸗ 

nem Bruder nicht vergibt, dem wird Gott auch nicht vergeben.” 
D, m. C.! möchten wir fie doch recht lebendig. erfennen die 
Schuld einer jeden unferer Sünden, die ungeheuere Schuld un: 

ferer Sünden vor Gott! dann würde und wahrhaftig die Ber: 
föhnung nicht ſchwer werden. Gott iſt unfer Schöpfer, von 
Dem wir fogar unfer Dafeyn haben: wel ein ungeheuerer 
Abftand zwilchen dem Schöpfer und Seinem Geſchoͤpfe! Gott it 
unfer allerhoͤchſter Oberherr; die Sünde, ein Ungehorfam ge: 
gen Shn, .ift alfo ein wirkliches Majeftätöverbrechen, weldhe, 
wenn Menfchen daffelbe gegen ihren Fuͤrſten begehen, als dab 
groͤßte angefehen wird. Gott ift unfer heiligſter Geſetzgeber, 
Deſſen Geſetze nur unfer wahres Wohl bezielen; die Sünde, 
eine Webertretung dieſer Geſetze, ift alfo eine freventlihe Ber. 
achtung Seiner Weisheit und Liebe, ein freventlicher Eingriff 

In Seine Weltregierung. Gott ift unfer befler Water und lieb: 
reichſter Wohlthaͤter: die Sünde iſt alfo der ſchaͤndlichſte Uns 
dank gegen Ihn; der um beflo größer iſt, je-größer und zahl: 

lofer die Wohlthaten Seiner Liebe find. Die größte Wohithat 
bat Gott gegen und erwiefen, indem Er Seinen eingeborenen 
Sohn, unferen Heren 3. C., für und dahin gegeben hat zum 








nn u ME ss. EEE de A 


— a — 


Tode am Kreuze zur Vergebung unferer Suͤnden, zus Ausſoͤh⸗ 
nung mit Ihm: die Sünde iſt alfo eine wirkliche Verſchmaͤ⸗ 
bung biefer unfchägbaren Wohlthat, eine Verhaͤrtung bed Her⸗ 
zend gegen bie größte Liebe, eine Verachtung bes einzigen Mits 
tels zur Verföhnung mit Gott, eine Verfpottung bed für uns 
am Kreuze fterbenden Heilande. Und die Schuld einer jeden 
Sünde wird dadurch noch um deſto mehr, und in's Unenbliche 
vergrößert, daß fie unter den Augen Gottes, in Seiner Gegen 
wart, Daß fie, den Tod 3. C. verfehmähend, gleichlam am 
Fuße Seined Kreuzed begangen wird. Sieht und ein Menſch, 
fo unterftehen wir uns nicht, zu fündigen. Vor Gott aber, 
Der und immer. fieht, fcheuen wir und nicht, fondern thun 
und reden Alles, was und beliebt. Kann es nun eine größere: 
Schuld geben, ald unfere Schuld vor Gott, bie wir durch bie: 
Sünde und zuziehen? Kann die Schuld der Beleidigungen, 
die wir von anderen Menfchen erfahren, mögen fie auch noch 
fo fchwer feyn, mit biefer Schuld auch nur in Vergleich ge- 
bracht werden? 

Und wie groß iſt unſere Schuld vor Goit ſchon geworden? 
wie mannigfaltig, wie zahllos ſind die Beleidigungen, die wir 
waͤhrend unſeres ganzen Lebens Gott ſchon zugefuͤgt haben, und 
alle Tage Ihm zuzufuͤgen noch fortfahren? muͤſſen wir nicht 
bekennen, daß unſer Leben ein ſuͤndhaftes Leben iſt, weil es 
ein Leben ohne Liebe, weil es ein undankbares, Gott vergeſſe⸗ 
nes Leben iſt? 

Dieſe Wahrheit wollte uns der Herr J. C. durch unſere 
Parabel auf's dringendſte an's Herz legen, um uns dadurch 
zur Verſoͤhnung bereitwillig zu machen. Der Herr, Der un⸗ 
ſere Herzen und Nieren durchforſcht, der in unſeren Herzen 
lieſt, wußte, daß es oft ſehr ſchwer iſt, Beleidigungen von 
Herzen zu vergeben. Es gibt Beleidigungen, die uns oft tief 
in unſerem Innerſten angreifen, z. B. Beleidigungen, die un⸗ 
ſere Ehre, unſeren guten Namen verletzen, die unſerem Vermoͤ⸗ 
gen, unſerer Geſundheit ſchaden, bie und unfäglichen Verdruß 
und Kummer zuziehen, die uns in der Hitze des Zorns mit 
den empfindlichſten Kraͤnkungen, Schmaͤh⸗ und Scheltworten⸗ 


a 
202 


ober fogar mit Falter Ueberlegung, und unverkennbar aus bos⸗ 
hafter Abficht, ober die von -denen und zugefügt werben, die 
wir mit Wohlthaten überhäuft haben, die und nahe angehen. 
Schwer, fehr Schwer iſt es, folche Beleidigungen von Herzen 
zu vergeben; um deſto ſchwerer, je weniger der Beleidiger fein 
Unrecht erkennt und von Ausfühnung etwas wiffen will; und 
ohne ‚die Gnade Gottes, ohne die Gnade der Liebe ift ed dem 
Menfchen nicht möglich. Das ſah nun der Herr 3. €. aufs 
deutlichfte, wie ſchwer dem Menfchen oft bad Vergeben if, das 


Vergeben von ganzem Herzen. Darum bat Er und in ber 


heutigen Parabel den dringendften Beweggrund, der nur ims 
mer möglich ift, gegeben, um uns zum ergeben aufjumuns 
tern. Gedenk, o Menſch! an deine Schuld, an beine unges 
beuere große Schuld vor Gott; und die empfangene Unbild, 
wie groß fie auch immer feyn möge, wird dir dagegen ganz 
unbedeutend und gleichfam wie nichts vorfommen] Und fey 
eingebenk, wie liebreich und barmherzig Gott gegen dich if, bie 
beine große Schuld zu vergeben, und wie oft Er fie dir fchon 
sergeben hat, wenn du Ihn durch dad Verdienſt 3. C. um 
Bergebung anriefeftz darum fey bereit und -entfchloffen, deinem 
Beleidiger die ungleich geringere Schuld von Herzen zu vers 
geben! 

Sehet, m. 3.1 das ift die Vorfchrift, Die ber Herr uns 
gegeben hatz das ift der Beweggrund, wodurch Er und zur 
Erfüllung diefer Vorfchrift verpflichtet hat; das ift die Regel, 


nad welcher Er bereinft und richten wird. Denn fo hat Er 


gelprochen : „Wenn ihr einander euere Beleidigungen nicht ver⸗ 
gebet: fo wird euch der himmlifche Vater euere Sünden nicht 
vergeben. Wenn ihr aber einander euere Beleidigungen,“ — 
die geringere Schuld, — „vergebet:“ fo wird euch der himm⸗ 
liſche Water euere Sünden,“ — die größte Schuld, — „ver⸗ 
geben.“ Durch die Sünde find wir die größten Schuldner vor 
Sott. Vergeben wir unferen Beleidigern von Herzen: fo hört 
unfere Schuld vor Gott nicht nur gänzlih auf: fondern Gott 
macht Sich Selbſt gegen und zum Schuldner, indem Er durch 
Seine Verheißung Sich Selbft verpflichtet, und unfere Sünden‘ 








⸗ 


nicht nur zu vergeben, ſondern auch unſere Verſoͤhnlichkeit über- 
ſchwenglich zu belohnen. „Vergebet alſo, damit euch vergeben 
werde!“ Herr! wir ſind bereit und entſchloſſen, unſerem Belei⸗ 
diger ohne Anſtand und Aufſchub von Herzen zu vergeben; da⸗ 
rum bitten wir Dich nach Deinem Worte: „Vergib uns unſere 
Schuld, fo wie wir unſeren Schuldnern vergeben!" Amen. 





Keunzehbnte Rede 
Zweite Rebe am zweiundzwanzigftien Sonntage 
nach) dem Felle der h. Dreifaltigkeit, 


Lert: 
Die Parabel von dem Könige, welcher Rechnung halten 
wollte. Matth. 18, 23 — 36. 


Shema: 
Ueber die Pfliht der Verſoͤhnlichkeit, als 
Bortfegung der ahtzehnten Rede. 


Sn der Parabel des heutigen Evangeliums wird und ein König 
vorgeftellt, welcher mit feinen Beamten Rechnung halten wollte. 
Bei diefer Unterfuhung fand fich ein Beamter, der durch unge⸗ 
treue Verwaltung eine ungeheuere Schuld, die er zu bezahlen 
nicht im Stande war, gemacht hatte. Auf feine Bitte um 
Verzeihung, auf fein Verfprechen, die Schuld zu bezahlen, for⸗ 
derte der König nicht einmal die Bezahlung, fondern erließ ihm 
Die ganze Schuld. Da aber diefer nämliche Beamte einen Ans. 
deren feiner Mitbeamten, der ihm nur eine unbedeutende Klei⸗ 
nigfeit fhuldig war, Aufßerft hart behandelte, und ihn, ohne 
ihm auf feine Bitte nur Aufſchub zu gewähren, in’ Gefaͤngniß 
werfen ließ, bis er Alles bezahlt haͤtte: nahm der Koͤnig ſeine 
Begnadigung zuruͤck, und verurtheilte den ungetreuen Beamten 
zu der naͤmlichen Strafe. 


| — 2 — 

In diefer Parabel hat der Herr und zu erkennen gegeben, 
baß wir einander alle, auch Die größten Beleidigungen, vergeben 
follen, wenn wir Vergebung unferer Sünden von Gott erhalten 
wollen, weil alle, auch die größten Beleidigungen anderer Mens 

ſchen gegen und eine nur unbedeutende Schuld feyen im Vers 
‚gleich mit der Schuld, welche wir dur) unfere aud) geringerent 
Sünden gegen Gott und 'zuziehen. Es iſt alfo die Pflicht der 
VerföhnlichFeit, welche der Herr in diefer Parabel und an’s 
Herz gelegt hat. | 2 

Worin befteht nun dieſe Pflicht der Verſoͤhnlichkeit? wie 
weit erſtreckt fich dieſelbe? was fordert fie von und, und was 
nicht? Und dann: was müflen wir thun, welche Mittel muͤſſen 
wir brauchen und anwenden, damit wir diefe Pflicht nach dem 
Willen Gottes recht und vollkommen erfüllen mögen? Auf viefe 
beiden Punkte laſſet und jeßt vor dem Angeficht Gotted unfere 
Aufmerkſamkeit und unfer. Nachdenken richten, mit dem feften 
Vorſatz, Alles, was wir ald Seinen Willen erkennen, ſo ſchwer 
e8 und auch werden möge, mit unverbrüchlicher Treue zu er⸗ 
füllen, damit Gott uns dereinft gnädig und barmherzig ſeyn, 
und uns unſere Suͤnden vergeben moͤge! 


I. 

Bon denjenigen braucht hier Feine Rede zu feyn, die noch’ 
ganz verſtockten, unverfühnlichen Herzens find, die ſich's ſelbſt 
eingeficehen, und es auch durch Die That beweifen, daß fie von 
Feiner Ausfühnung wiſſen wollen, die gegen ihren wirklichen‘ 
oder vermeinten Beleidiger ganz feindfelig fich betragen, ihm 
Fein gutes Wort gönnen, vielmehr Boͤſes von ihm reden, und 
ihm Boͤſes thun, wo fie nur Gelegenheit: dazu haben. Ein 
folcher verbiendeter, hoͤchſt gefährlicher Zuſtand möchte noch eine 
Entfchuldigung haben, wenn derfelbe in der allererften Zeit nach 
der Beleidigung, da das Gemüth noch ganz in Aufruhr ift, ba 
ed noch an Macht fehlt, fich zu beherrfchen, Statt findet. Wenn 
aber diefer Zuftand anhaltend ift, und da dad Gemuͤth wieder 
zur Ruhe gefommen ift, noch fortdauert: o dann handeln ja 

„ diejenigen, die in dieſem unfeligen, Zuſtande fich befinden, ges 


A 





— 285 — 
radezu gegen das ausbrädtiche Gebot Gottes; dann bekennen 

fie durch die That felbft, daß ihre Leidenfihaft Ihe Gebot iſt, 
und nicht das Gebot Gottes; daß fie aus Gott und Seinen‘ 
Geboten wenig oder gar nichts fich machen. Won biefen, bie 
von Feiner Verföhnung wiffen wollen, braucht alfo hier gar 
feine Rede zu feyn, wo wir darlıber nachdenken wollen, worin 
die Pflicht der Verſoͤhnlichkeit beftehe, wie weit ſich diefe Pflicht 
erſtrecke, was fie von und fordere, und nicht fordere: denn Alle 
diefe handeln ja ganz offenbar und geradezu gegen biefe Pflicht, 
wollen von dieſer Pflicht nicht‘ einmal etwas hören. O Gott! 
dag doch Keiner meiner Zuhörer in dieſem unfeligen Zuftande,' 
worüber Gott Sein Verdammungsurtheil geſprochen bat, ſich 
befinden möge! u 
Es gibt aber gar viele Halbverſoͤhnliche oder vielmehr 
nicht in der That, ſondern nur dem Scheine nach Verſoͤhnliche, 
die da meinen, jener Pflicht genug zu thun, da ſie es nicht 
thun, die allerhand Ausfluͤchte brauchen, um uͤber das, was 
dieſe Pflicht weſentlich fordert, ſich hinweg zu ſetzen, und doch 
den Schein haben wollen, als wenn ſie recht verſoͤhnlich waͤren, 
und ihrer Pflicht vollkommen genug gethan haͤtten. Von die⸗ 
ſen muß hier vorzuͤglich die Rede ſeyn: denn eben dieſe machen 
bei weitem die groͤßte Zahl aus, und Viele von dieſen koͤnnen 
leicht in einer ſehr gefaͤhrlichen Taͤuſchung und Verblendung 
dahin leben. Dir, Allwiſſender! Der Du dad Innerſte unſerer 
Herzen fiehft, Die allein iſt es bekannt, ob nicht vielleicht einige‘ 
meiner Zuhörer in biefem höchft gefährlichen Zuſtande fich befins 
ben mögen. Laßt und nun auf einige ihrer gewöhnlichen Aus⸗ 
flüchte achten, wodurch wir zugleich am beften erfennen werben, 
worin diefe Pflicht beflehe, was fie von uns fordere und nicht 
fordere. „Vergeben will’ ich wohl, denn ich muß ed ja; aber 
meinen Beleidiger lieben, eine Zuneigung zu ihm haben und’ 
fühlen, wie ich fie gegen Neltern und Freunde habe und fuͤhle; 
das Tann ich nicht, dad iſt mir unmöglich." Iſt ed mit diefem 
Einwurfe reblich gemeint; dann iſt er bald aufgelöfet. Aber 
ntancheömal legt man mehr in ein Gebot, ald was ed wirklich. 
enthält, wenn man das, was es enthält, nicht gerne erfüllen 


> 





— 2 — 

wid, um mit dem Einen auch bad Andere hinwegzuwerſen. 
Wo iſt es uns denn geboten, daß wir ein Gefühl der Liebe 
haben ſollen? Diefes Gefühl haben wie nicht in unferer Macht : 
aber wenn und auch ein Menfch durch fein Außerliches Beneh⸗ 
men ganz unangenehm und widerlich iſt; fo kann ich ihm doch 
von Herzen gut. feyn, kann ibm Gutes thun, wenn ich bazu 
Gelegenheit habe; kann dad Unangenehme, dad er an ſich hat, 

entweber verfchweigen ober entichuldigen, und das Gute, das. 
. ib von ihm weiß, bei Gelegenheit bekannt machen. Und fo 
Tann ich auch gegen den Beleidiger handelen und gefinnt feyn, 
wenn auch mein natürliches Gefühl fi) noch ganz gegen ihn 
empört. Diefes Gefühl fordert alfo die Pflicht der Verſoͤhn⸗ 
Vichkeit nicht; aber dem Beleidiger Gutes wollen und wünfchen, 
das Boͤſe, das ich von ihm weiß, verfchweigen, wenn nicht eine 
andere Pflicht mich nöthiget, ed zu ſagen; ihm, wenn ich kann, 
Gutes thun, mit Einem Wort: gut, wohlwollend gegen ihn 
gefinnt feyn, das fordert diefe Pflicht. 

„Vergeben will ih; aber mit ihm noch ferner fo, wie 
fonft umgehen, das kann ich nicht, das will ich nicht.” Auch 
das ift ja nicht immer Pflicht. Es gibt Menfchen, die von 
und fo ganz verfchieden find in ihrer Denkungsart und in ihrem 
Temperamente, baß es beffer für fie und für uns ift, näheren 
Umgang mit ihnen zu meiden, weil ein jeder Umgang. gar leicht 
zu einem neuen Verftoße Anlaß gibt. Sf das die Urſache, 
weßwegen du nicht mit ihm umgehen willſt, ifi Liebe zum Frie⸗ 
ben die Urfache; fo haft du Recht, dich von ihm ferne zu hal⸗ 
ten. Wilft du ihn aber dadurch, daß du von ihm dich zu= 
rüdzieheft, Fränfen, wilft du ihn dadurch deine Kränkung recht 
fühlen laffen, ihm auch noch deinen Umgang entziehen, ba er 
ihn fucht, ihm auch dann noch kein freundliches Wort gönnen, 
ihn kaum grüßen, oder feinen Gruß kaum erwiedern: o dann iſt 
beine Entfernung von ihm, dann ift ein folched Betragen gegen 
ihn ein fichered Zeichen, daß du mit ihm von Herzen noch 
nicht verföhnt bifl. „Aber ich thue es deßhalb, ich halte mich 
begwegen von ihm zuruͤck, damit er fein Unrecht einfehe, in 
Zukunft fich beffer in Acht nehme, damit er fich beflere.” O 





— Mm — 


das iſt faſt immer nur Taͤuſchung und Selbſthetrug. Blick in 

dein Inneres und pruͤfe dich, ob dieſes, oder ob nicht vielmehr 
Groll und Bitterkeit die Urſache ſey! eine ſolche Liebe findet 
ſelten ſtatt, wo das Herz von Bitterkeit noch nicht ganz frei 
iſt. Seine Beſſerung uͤberlaß du Gott; und den® du vielmehr 
on das Wort, dad 3. C. zu Petrus ſprach: „nicht nur fleben, 
fondern fiebenzigmal fiebenmal,” überwinde dich felbft, und biete 
ihm die Hand zur Berföhnung an! „aber das iſt eö eben: 
vergeben will ih wohl, will ihm auch von Herzen gut feyn; 
aber zu ibm geben, oder. feinen Beſuch annehmen, und bie 
Hand reihen; nein, das kann ich nicht, dad thue ich nicht.” 
Und doch ift bei weiten in den meiften Fällen eine folche pers 
fönliche Zuſammenkunft und Ausfshnung dad Vefte, ja faft das 
einzigfte Mittel, die verlegte Liebe wieder berzuftellen; unb gar - 
oft kann fie auch firenge Pflicht ſeyn; namlich immer dann 
ganz gewiß, wenn euere Uneinigkeit für euere Nächften ein 
Aergerniß, ein böfed Beiſpiel iſt. Diefes Aergerniß kann dann 
oft nur allein durch eine folche perfönliche Ausföhnung wieder 
gehoben werden. Rur in einigen Fällen ift eine folche auch 
äußerliche Ausföhnung keine Pflicht; nämlich, wenn es hoͤchſt 
wahrfcheintich ifl, daß fie fruchtlos bleibt, nämlich, daß der Bes 
leidiger, wenn er auch zu dieſer Außerlichen Ausfühnung fich 
verftehen möchte, boch im Herzen gram bleiben würde: das 
kann man aber felten auch nur mit einiger Wahrfcheinlichfeit 
vorauöfehen; dad wird meiftend von unferem eigenen Benehmen 
bei der Ausfühnung abhangen; wer Fennt, wie ed auch in ber 
legten Predigt gefagt wurde, die Macht der Liebe? und wer 
kennt die Macht der Gnade, die bei einem Gott fo wohlgefäl- 
Ligen Werke niemald ermangelen wird? Zweitens, wenn es 
mit Mahrfcheinlichkeit zu befürchten ift, dag ein folder Verſuch 
den Groll nur erneueren, die Herzen noch mehr erbitteren 
würde. Haft du das aber nur von bir felber zu befürchtenz 
fo dient es dir nicht zur Entfchuldigung: denn dich felbft haft 
du im. deiner Gewalt, deine Begierde, deine Leidenfchaft ift uns 
ter dir; du kannſt fie beberrfchen. „Aber warum fol ich den 
erſten Schritt thun? er hat mich zuerft beleidiget; laß er auch 


— VE Oo — 

nun der Erſie feyn. A, meine Chriſten! m es nicht ein 
altes wahres Sprüchwort: „wo zwei fi fih zanken, da haben 
beide unrecht?" wer kann immer mit Gewißheit beftinmen, 
wer bei einem Zanke die eigentliche Beleidigung zuerft anges 
fangen babe? Und laß es auch feyn, laß es auch gewiß feyn, 
daß der Andere der erſte eigentliche Beleidiger war; fo gehe 

du doch der Erſte zu ihm, und biete ihm die Werföhnung an! 
der ift Gott dem Herrn gewiß der Liebfle, der gerne der Ge⸗ 
ringfte feyn will, der den erflen Schritt thut und zuerft geht. 
„Wenn du dich erinnerft,” fagt 3. €, „daß bein Bruder eis 
was wider dich hatz fo verfühne dich mit ihm, fo bald es nur 
feyn Tann!" O glaube es nur, ed iſt ein wahres Freudenfeſt 
fuͤr die Engel im Himmel, wenn du dich um 3. €. willen 
felbft aͤberwindeſt, wenn du, der Beleidigung uneingeben?, bit 
gehft zum Beleidiger, und ihm die Hand zur Verſoͤhnung rei: 
cheſt. Wenn zwei Herzen, bie getrennt waren, in Liebe ſich 
wieder vereinigen: dann erfreuen fi die Engel im Himmel 
und 3. C. erneuert Seine Verheißung: „Wenn ihr einander 
vergeben habetz fo will Ich euch vergeben; 

„Vergeben wohl, aber nicht vergeffen; dazu iſt die Belei⸗ 
digung zu groß! wer koͤnnte fie vergefien?” Es iſt freilich ein 
altes Sprüchwort: „vergeben, aber nicht vergeffen;” aber ein 
Spruͤchwort, welches oft fehr gemißbraucht wird, unter dem oft 
mancher Groll und Ingrimm verborgen iſt. Es gibt freilich 
Borfälle von einer folchen Art, die und fo flark ergriffen haben, 
daß man ihr Andenken nie ganz unterbrücden kann. Wer aber 
diefes Andenken felbft gefliffentlich oft erneuert, bei jeder Gele 
genheit in Unterrebung mit Anderen wieder erneuert, und als⸗ 
dann der Bitterfeit feines Herzens freien Lauf läßt: der hat 
‚freilich nicht vergefien, aber auch nicht vergeben. Wer aber 
einmal von Herzen vergeben hat, wen es mit diefer Bergebung 
Ernſt iſt; dem wird jede neue Erinnerung an bie empfangeit 
Beleidigung nur eine Gelegenheit und ein Antrieb feyn, bie 
Bergebung im Stillen vor Gott zu erneueren, und dadurch bad 
Herz fogleich wieder zur Ruhe zu bringen. Wer. von Herzen 
vergeben bat; bem wird: auch eine wohlthätige Vergeſſenheit zu 








— 209 — 


Huͤlſe kommen; daß er ber Beleidigung, fo ſchwer fie auch ſeyn 
möchte, am Ende gar nicht mehr gebentt. 
Sekhet, m. C.! das find nun einige der gewöhnlichen Aus⸗ 
flühte, womit die Halbverföhnlichen, ober nur dem "Scheine 
nach Berföhnlichen fich zu beruhigen pflegen, um ihren innerlis 
Sen Groll und Ingrimm zu verbergen. Und fo gibt es denz 
gar Viele, die durch folche Ausflüchte beruhiget, in einer hoͤchſt 
gefährlichen Werbiendung Wochen, Monate, ja wohl noch laͤn⸗ 
Here Zeit dahin leben. Webrigend befuchen fie fehr fleißig dem 
Sotteödienft, wohnen oft dem h. Meßopfer bei, empfangen. .oft 
die h. Salramente, und, weil fie dad thun, fo meinen fie, Gott 
werde mit ihnen fchon zufrieden ſeyn. O ihre Verblendeten! 
muß man diefen im Namen Gottes zurufen, was thut ihr mit 
euerem Groll in der Kirche? was thut ihr mit euerer Feindfelig- 
Teit bei dem Beichtſtuhle? was thut ihr mit euerer innerlichen 
Rachſucht vor dem h. Tiſche? Hinaus mit euch aus ber Kirche, 
hinweg mit euch von dem Beichtftuhle, fort mit euch von dem hei⸗ 
ligen Tifche! So lange ihr mit euerem Nächten nicht audgeföhnt 
ſeyd von Herzen, fo lange hat Gott an euerem Meffehören, an 
euerem Beichtgehen, an euerem Abenbmahlbalten fein Wohlgefal- 
len. Ber vor Gott in der Kirche würbig erfcheinen, wer bei Gott 
Snade finden will, der muß zuvor allen Groll und Ingrimm, alle 
Bitterkeit und Zeindfeligkeit gegen ben Nächften ganz ablegen. 
Aber es ift doch fo Außerft fehwer, einem Beleidiger, eis 
nem Feinde von ganzem Herzen zu vergeben. “Freilich iſt es 
ſchwer, verzeihen fordert viel, fordert eine gaͤnzliche Ueberwin⸗ 
dung unſerer ſelbſt. Aber was folgt daraus? Iſt denn ber 
Himmel dem Unverſoͤhnlichen verheißen? Iſt dad Gebot, wel⸗ 
ches Beſchwerniſſe mit ſich führt, nicht auch ein Gebot? Aber 
es fordert zu wie. Das fagt ihr, wenn ihr ber Beleidigte 
feyb ; fagt ihr's aber auch, wenn ihr der Beleidiger ſeyd? Im 
der That, fo gelaflen und fanftmüthig ihr auch gefinnt ſeyn 
möget, fo ift doch fehwer zu vermuthen, daß ihr noch niemals 
folltet in dem Kalle geweſen ſeyn, Jemanden beleidiget zu haben. 
Ad! dann verlangt ihr. Vergebung, dann wiſſet ihr es wohl 
au erkennen, daß bad Gebot der Vergebung ein ſehr weiſes 


— 210 — 


Gebot fen, daß der Beleidigte vergeben müfle, fo ſchwer es 


ihm auch ankommen möge. Sollte biefe Beſchwerniß für euch 
allein eine Urfache feyn, um nicht zu vergeben? — „ES fordert 
zu viel,” fagt ihr. Wie? fordert denn die Rache nichts? Der 
brütende Verdacht, die nagende Sorge, bie finflere Unruhe, die 
ungebuldige Begier, find dieſe nicht die unzertrennlichen Gefaͤhr⸗ 
ten jener aufrührerifchen Leidenfchaft? laſſen euch Diefe die ers 
barmliche Luft der Rache nicht theuer genug bezahlen? Welche 
ängftliche Behutfamkeit, wenn man fein ‚Vorhaben befchließet? 
Welche beunruhigende Sorge und Mühe, um feine. geheimen 
Berftändniffe zu verbergen? welche Vorſicht, den Streichen des 
Gegenthéils auszuweichen ober zuvorzulommen? welche Angfl 
wenn ber Anfchlag mißlingt? welche Gewiſſensbiſſe, wenn er 
gelingt? Wer zur Rache fich entichließt,. der hat dem Zrieten 
verloren, der Öffnet fein Herz einem ganzen: Heere wilder Leis 
benfchaften, und fammelt ſich glühende Kohlen auf fein Haupf. 
„Das Berzeihen fordert zu viel,” fagt ihr. Zorderte es denn 
zu viel für einen Joſeph, für einen David, für eine Sufannat 
Was dieſe Fonnten, koͤnnet auch ihr. Sie genoffen noch nidt, 
wie ihr, dad Opfer des Friedens; tranken nicht, wie ihr, dad 
Blut des Verſoͤhners; das Geſetz, welches. der Mache Grenzen 
feßt, fchrieb ihnen nicht mit ſolcher Strenge vor, Beleidigungen 
zu vergeben; fie Fannten das Beiſpiel desjenigen nicht, Der bie 
Liebe und Verföhnung felbft war gegen diejenigen, die Ihn bis 
auf den Tod verfolgten, Der, um uns, bie wir Seine Beleidi⸗ 
der waren, die Vergebung zu erwerben, Blut und Leben für 
and dahin gegeben hat. Und wie Viele find in Seine Buß 
fapfen: getreten? Wie Vieles hatten die heiligen Blutzeugen 
und Belenner zu verzeihen? und wie haben fie verziehen? Wie 
oft fah man fie für ihre Werfolger beten, ihre Hände für dad 
Heil jener Wütherihe gen Himmel erheben, die fich ein grau⸗ 
fames Vergnügen daraus machten, ihre Hände in ihrem Blute 
wafchen zu Finnen? Waren fie weniger Menſchen als ihr? 
gewiß nicht; aber ihr feyb weniger Chriften, als fie waren. 
„Verzeihen fordert zu viel, bie Natur widerſetzt fich,” faget 
ihr. Das iſt wahr, die Natur wiberfegt fih; aber das Vers 





— 21 — 


zeiben ift Tein Werk ber Natur; ſondern es iſt allein das Wert 
der Gnade. Wer dad Gebot und gegeben hat, wird und, um 
es erfüllen zu innen, nie und nimmer an Seiner Gnade es 
fehlen laſſen. Wer des ernfllichen Willens ift, wird es ſelbſt 
erfahren, daß ihm durch Gott möglich war, was ihm durch fich. 
ſelbſt, durch eigene Kraft nicht möglich war, ganz unmöglich 
fchien. 
| I, 
Schwer ift und bleibt es, diefe Pflicht der Werföhnlichkeit 
gefreu zu erfüllen. „Was muß ich dem thun, welche Mittel 
muß ich anwenden, bamit ich fie nach Gottes Willen erfüllet” 
So muß der wahre Chrift fragen; denn er weiß, baß Gott, 
wenn zuweilen auch Schweres, doch nicht Unmögliches, und 
Alles zu feinem Beften ihm auferiggt, und ihn, wenn er bad 
Seinige thut, mit Seiner Gnade unterftügen wird. Die Haupts 
fache, worauf Alles ankommt, was wir zu thun haben, um 
die Pflicht der Werfühnlichkeit recht zu erfüllen, beſteht darin, 
daß wir den aufrichtigen, feft entfchloffenen Willen haben, Alles, 
was dieſe Pflicht von und fordert, nad unferen Kräften zu 
leiftene Und um das zu wiflen, brauchen wir nur unfer eiges 
ned Herz zu fragen: „Iſt dir aufs Aeußerſte daran gelegen, 
einen Vater oder einen Freund und Wohlthäter, den du felbft 
beleidiget haft, wieder zu verföhnen ; nicht wahr, dann gibft du . 
Dir alle nur mögliche Mühe, du bitteft ihn um Verzeihung, du 
ruheſt nicht eher, bis du Verzeihung erhalten, bis bu von feiner 
erneuerten Liebe wieder volllommen verfichert bil. Nun thue 
beögleichen gegen jeden Anderen, möge er auch zuerft dich be 
leidiget haben, ohne zu unterfuchen, wer von euch der Beleidi⸗ 
ger oder der Beleidigte ſey. Möge ed dir auch noch fo fchwer 
fallen, dazu mußt du feft entichloffen feyn. Und um das zu 
koͤnnen, ſuche dich erft innerlich im Herzen mit deinem Belt 
- Diger auszuföhnen! Und deßwegen denke bei dir felbft ruhig 
Darüber nach, ſuche Alled auf, was vernünftiger Weile deinem 
Beleidiger zur Entfihuldigung dienen fann, fo, ald wenn bus 
feine Vertheidigung zu führen hätteft. Denn fehet, bei weiten 


- m — 


E den meiſten Faͤllen haben Beleidigungen nicht ſo ſehr in 


"offenbaren Feindfeligkeiten, oder gar in Bosheit, fondern meis 
ſtens in Mißverfländniffen ihren Grund; man hatte fi) einan- 


der nur nicht recht verflanden, hatte es weit übler genommen, 


ald es gemeint war; das eine Fränfende Wort hatte ein anderes 
noch kraͤnkenderes von felbft herbeigeführt. -D, daß doch ein 
Jeder, der fich beleidiget glaubt, darauf achten möchte; wie 
viel eher würde er wieder zur Ruhe und zum Frieden kommen! 


Hoͤret hier ein Beiſpiel, dad nicht erbichtet, fondern ganz wahr 


Al In einer. entfernten Gegend von Deutichland lebte vor 


etwa 30 Jahren ein Pfarrer, der in feinem Amte mit außer: 


nd 


: orbentlichem Eifer wirkte, den der Segen Gotted ganz fichtbar 
:: bei allen feinen Arbeiten begleitete. Diefer Mann hatte feine 


heimlichen Neider und Feinde, die ihn überall verläumbeten, 


ſeine Rechtgläubigkeit verdächtig machten, ihn zuletzt bei feiner 


Obrigkeit, die fie ſchon zuvor gegen ihn einzunehmen gewußt 


hatten, verflagtn. Obſchon man ihn nicht fchuldig finden 
konnte, mußte er boch manche bittere Mißhandlung. erfahren, 


b | 


und war zuleßt gezwungen, feine geliebte Pfarrgemeinde zu. 
verlaſſen. So lange er lebte, hörte die Verläumdung und Ver⸗ 
folgung gegen ihn nicht auf, bis er zuleht noch in feinen: beften 
Jahren aus Sram und Kummer: farb. Erſt nach feinem Tode 
kam feine Unfchuld volllommen an's Tageslicht. Nach feinem 
Tode fand man unter feinen Schriften ein Papier, worauf er 
die Namen feiner bitterften Feinde und feiner härteften Richter 
berzeichnet und zugleich bemerkt hatte, was jeder berfelben ges 
gen ihn gethan hatte. Und nun fand man bei jedem bie Ent: 
fduldigung, warum biefer oder jener Mann in feiner Lage, in 


-ftinen Umfländen, nach feiner Denkungsart und Erziehung, nad 


feinen Verhaͤliniſſen nicht füglich, anderd hätte handeln koͤnnen: 
wenigftend die Abficht und Meinung eined eben fand man 
bier entfchuldiget, : und das. Verfahren. felbft auf's aͤußerſte ges. 


wiidert, ſo daß Keiner. derfelben in dem Gerichte Gottes einen 


befferen Vertheidiger und Zürfprecher hätte wünfchen und ver- 
langen koͤnnen. O daß dieſes Beifpiel viele Nachahmung finden. 











— — —— 


— 213 — 


moͤchte! wahrlich die Uneinigkeiten wuͤrden ſi ch ſehr vermindern, 
und bald aufhoͤren. 

Mo Uneinigkeiten find, da fehlt es nie an Herumtraͤgern, 
Kiätfchern und Obrenbläfern, die ihre Luft daran haben, das 
Feuer noch mehr anzufhüren. Mit folchen Iaffet euch niemals 
ein, leihet ihnen euer Ohr nicht; vielmehr machet ed euch zur 
Regel, nie, wenn nicht die Pflicht. e8 fordert, gegen eueren 
Beleidiger zu forechen; diberhaupt fo wenig, ald nur immer 
möglich ift, über ihn zu fprechen. Wenn ihr euerer innerli⸗ 
hen Bitterkeit durch Reden Feine Nahrung gebet: fo wird fie 
fi) von felbft bald verlieren. 

Ferner: fehet jede empfangene Beleldigung an ald eine 
Prüfung, .. die Gott zu euerem wahren Beften Über euch vers 
hängt und zugelaffen hat! Se ſchwerer die Prüfung, defto größer 
der Erfolg und das Berdienf, wern fie recht benußt wird; 
deſto größer der Verluſt und Nachtheil, wenn fie nicht nach 
Gottes Abficht gebraucht wird, Wollen wir nicht von Herzen 
vergeben: fo folgt Sünde auf Sünde, fo wird das Herz immer 
mehr und mehr verhärtet, fo wird die Liebe immer mehr und 
mehr erftict, fo hat der Zeufel freies Spiel; denn, wo Unfriebe 
ift, da iſt der Teufel in der Nähe. Vergeben wir von Her- 
zen, fo werben wir geübt in der Geduld, Sanftmuth und in 
wahrer Menfchenliebe; fo haben wir Hoffnung, auch die Seele 
unfered Bruders, der ſich wider und verfündiget, zu retten und 
zu gewinnen. 

Und, was dad Allerwichtiglt iſt: Vergeben wir, ſo wird 
uns vergeben werden. — Deutlicher und beſtimmter haͤtte J. 
C. die Regel, nach welcher in dem Gerichte Gottes wird ge⸗ 
richtet werden, nicht offenbaren koͤnnen, als Er's gethan hat in 
dieſen Worten: „So ihr einander euere Beleidigungen nicht 
vergebet, wird der himmliſche Vater euch euere Suͤnden auch 
nicht vergeben. Wenn ihr aber einander euere Beleidigungen 
vergebet, fo wird ber himmliſche Vater euere Sünden euch auch 
vergeben.” Sind wir auch in dieſem Erdenleben gegen diefe 
Vergebung. oft noch fo gleichgültig; es koͤmmt eine Stunde, und 
iſt vielleicht .fehr nahe, da wir ed nicht. mehr feyn werben, da 

ar Thl. ste Aufl. 18 


| — 21 — 

wir einzig und allein nach Gnade und Barmherzigkeit, nach 
Bergebung, feufzen werden. Wollen wir nun in- jener ernſten 
Stunde Vergebung finden: fo laſſet und jekt ohne Aufſchub 
‚von Herzen vergeben! Vergeben ift fehwer: darum betet von 
Herzen um die Gnade, vergeben zu können; betet von Herzen 
fin, euere Beleidiger! und Gott wird dieſes Gebet gewiß 
erhören. 

Höret noch zum Schluffe ein fürchterlich warnendes Bei⸗ 
foiel aus der Kirchengefchichte, dad aus den ächteften Urkunden 
bewährt ift! Im vierten Jahrhundert, zur Zeit der Verfolgung, 
lebten als innigſte Sreunde ein Priefler Namens Sapritius und 
ein Weltmann, der Nicephorus hieß. Sie wurden veruneinigt 
und gaben lange Zeit Öffentlich. ein ärgerliches Beiſpiel ihrer 
Feindſchaft. Nicephorus erkannte zuaft die Strafwürbigkeit 
dieſes unchriftlichen Benehmens und fchidte vorerſt gemeinichaft- 
liche Freunde an Sapritius, bie in feinem Namen um Verzei⸗ 
bung baten; aber vergebens. Da ging Nicephorus felbft zu 
ihm, fiel ihm zu Süßen, bat um Verzeihung; aber vergebens. 
Bald darauf ward Sapritiud ald Chrift und als SPriefter vor 
den heidnifchen Richter geführt, wo er ein herrliches Bekennt⸗ 
niß des Glaubens ablegte. Nun ward er ſchrecklich gemartert, 
während der Marter rief er zum Richter: „über mein Sleifch 
haft du Gewalt, nicht aber über meine Seele; die hat-nur 3. 
C., Der fie erichaffen hat.” Sapritius wurde zum Rode vers 
urtheilt. Auf dem Wege zum Richtplatze läuft Nicephorus ihm 
entgegen, flehet: „Zeuge Chrifti! vergib mir, wenn ich dich bes 
leidiget habe!’ - Schweigend geht Sapritius ihm vorbei. Nice 
phorus läuft einen anderen Weg, begegnet ihm noch ein Mal, 
bittet noch herzlicher um Vergebung; aber Sapritius würbiget 
ihn Feines Worts. Die Henker wundern fi über des Nice- 

phorus Thorheit. Diefer aber fpricht: „ihre wiflet nicht, was 
ich vom Bekenner Chrifti begehre; Gott weiß es.“ Noch auf 
dem Richtplatz erinnert ihn Nicephorus an 3. C. Wort; aber 
noch vergebend. Jetzt gebieten die Henker dem Sapritius, nie 
derzufnieen. „Barum?“ fragt er. „Weil du nach des Kaifers 
Befehl den Göttern nicht opfern wolltefl." „So haltet ein,” 





— 228 — 


antwortete er, „ich will opfern.” Da bittet Nicephorus ihn 


aufs flehentlichfte, die Suͤnde nicht zu begeben, und die Krone 
nicht zu verlieren. Aber Sapritius fält Ab, opfert den Gögen, 
und Nicephorus wird flatt feiner hingerichtet. 

O möge euch, die ihr noch unverföhnlich im Herzen feyb, 
dieſes Beiſpiel zur Warnung dienen! laſſet und ohne Aufſchub 
vergeben von Herzen, bamit Gott auch und vergeben möge! Amen. 





Zwanzigſte Rebe. 


| Erfte Rede am drei und zwanzigften Sonntage nach 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


Ti ert: 
Das Evangelium vom Bindgrofchen. Matth. 22, 1 
22. Mit. 12, 13—17. euk. 20, 20- 26. 


Ihema: 
„Gebet dem Kaifer, was des Kaifers ift, und 
Gott, was Gottes ifl.” 


Als unſer Heiland J. C. Seinen feierlichen Einzug in Jeru⸗ 
ſalem ſchon gehalten hatte, alſo in den letzten Tagen Seine$ 
Gehramt3 war ed, da die Pharifaer und Schriftgelehrten Ihm 
durch eine aͤußerſt verfaͤngliche Frage einen Fallſtrick zu legen 
ſuchten. Wollte der Heiland Seiner Lehre Eingang verſchaffen; 


ſo mußte Er nothwendig ſchon vom Anfange Seines Lehrgamtz 


an gegen fie auftreten, weil ihre Sittenlehre ganz das Gegen⸗— 
theil Seiner Lehre und hoͤchſt verderblich, und weil ihr Einfluß 
auf das Volk ungemein groß war. Deßwegen waren fie vom 
Anfange Seines Lehramts am die erflärteften ‚Gegner gegen 
Seine Lehre und die erbittertfien Seinde gegen Seine Perlog 
geweſen. Man hafte zu heimlichen Berabredungen ſich verfangr 


J 


melt und allerhand Entwuͤrfe erſonnen, um Ihn beim Volke 
verhaſſet und bei der Regierung verdaͤchtig zu machen. Nicht 
bloß dann, wenn Er zu den Feſten nach Jeruſalem kam, be⸗ 
obachteten fie Ihn aufs ſchaͤrfſte, ſondern fie ſchickten Ihm auch) 
überall nach Salilda hin Boten nach, die aufs genauefte auf 
Seine Reden und auf Seine Thaten Acht geben mußten... Um 
Ihn beim Volke verhaßt zu machen, fuchten fie Ihn als einen 
Sabbatfchänder darzuftelen. Als fie einft bemerften, wie Er 
Seinen Züngern an einem Sabbat geftattete, Aehren abzurau= 
fen und zu efien, fprachen fie zu Ihm: „Siehe, deine Sünger 
thun, was nicht erlaubt ift zu thun am Sabbat.“ Matth. 
122, 2. Als Er an einem Sabbat in eine Synagoge Fam, 
"worin auch ein Mann mit einer verborreten Hand fich befand, 
fragten fie Ihn: „Iſt's erlaubt, am Sabbat zu heilen? auf 
daß” — wie der Evangelift fagt — „fie Ihn anklagen moͤch⸗ 
ten.” Matth. 12, 10. Und wie oft nahmen fie Aergerniß 
daran, wenn Er an einem Sabbat mit Einem Worte oder 
bloß mit Berührung der Hand Kranke gefund machte. Da fie 
fo viel-auf die fogenannten Veberlieferungen, auf die von ihnen 
ſelbſt willkürlich erfonnenen Zufäge zum Gefeße hielten, wo⸗ 
durch fie den Geiſt des Gefeßes tödteten: fragten Ihn einſt 
folhe audgefandte Boten: „Warum übertreten Deine Juͤnger 
die Veberlieferungen der Aelteften? denn fie wafrhen ihre Hände 
nicht, wenn fie dad Brod eſſen;“ worauf Er. ihnen die Ant⸗ 
‚wort gab: „Warum übertretet ihr dad Gebot Gotted um euerer 
Meberlieferungen willen?” Matt. 15, 1-3. Da Er vor: 
züglich Seiner Wunder wegen beim Volke in fo großem An⸗ 
fehen fland: fo waren es auch vorzüglich Seine Wunder, auf 
welche fie ihre Angriffe richteten, um fie beim Wolke verdächtig 
zu machen, inbem fie theild folhe Wunder, bie fie nicht leug⸗ 
nen Tonnten, dem Werke des Teufels zufchrieben, Matth. 12, 
24., theils Wunder von Ihm forderten, bie, wie fie meinten, 
über Seine Macht gingen, Zeichen am Himmel von Ihm for- 
derten. Matth. 16, 1—4. Seinen Wandel, Sein Beifpiel 
fuchten fie dem Volke verbäcdhtig zu machen, indem fie Ihm, 
weil Er mit Öffentlichen Sundern umging und zu Tiſche faß, 





— m — 


fuͤr einen Weintrinker und Vollſaufer, fuͤr einen Geſellen der 
Zoͤllner und Sünder verſchrieen. Matth. 11, 19. Auch Seine 
Lehre fuchten fie verdächtig zu machen, und ald mit dem Ge 
fege im Widerfpruch. darzuftellen. Es betraf bie Lehre von der 
Eheſcheidung, weil fie gehört hatten, daß Er biefelbe nicht ge- 
flatte, da. doch das Gefeß in verfchiedenen Fällen fie zuließ. 
Matth. 19, 1—9. Den gefährlichfien Fallſtrick fuchten fie 
Ihm dadurch zu legen, indem fie Ihm eine Antwort abnöthi- 
gen wollten, wodurch Er, wie fie hofften, entweder mit den 
fehr uͤbertriebenen Eiferern für das Gefeß und für die Rechte 
des Volks, oder mit der römifchen Obrigkeit es verderben würde. 
Darum flelten fie einft eine im Ehebruch ertappte Frau vor 
Ihm bin; und fragten Ihn um Seine Meinung, da nach dem 
Geſetze auf ein folches Werbrechen die Strafe der Steinigung 
ftand. Entſchied Er nun mit Milde und Schonung: fo hatte 
Gr die Eiferer für das Gefeh wider Sich, und wurbe dem 
Volke verdächtig; entfchied Er für die Vollziehung der Strafe, 
fo Eonnten fie Ihn bei der Römifchen Obrigkeit anklagen, wels 
che ‚den Juden daß Recht, über Leben und Tod zu entfcheiben, 
genommen hatte. Darum fagt der Evangelift Sohannes: „Das 
fprachen fie aber, Ihn zu verfuchen, damit fie Ihn anklagen . 
konnten⸗ ” 8 3—6. 
L, 

Bon der nämlihen Art war nun auch ber Fall, den das 
heutige Evangelium uns erzählt. Weil der feierliche Einzug 
3. €. in bie Stadt und Sein Benehmen am Tempel, von 
welchem Er zum zweiten Mal mit unmiderftehlicher Kraft die 
Käufer und Verkäufer vertrieben hatte, fo viel Auffehen gemacht 
hatte: fo fand ber hohe Rath dadurch fich veranlaffet, eine 
feierliche Geſandtſchaft an Ihn zu fchiden, um Ihn fragen zu 
laſſen: „Aus welcher Macht thuſt Du das?“ Nicht genug, 
daß der Herr eine ausweichende, fie aber befehämende Antwort 
barauf gab; Er erzählte ihnen auch zwei Parabeln, die eine 
von ben ungetreuen Pächtern eined Weinbergs, die den zu ih- 

nen gefandten Sohn ihres Herrn ausgefioßen und ermordet hats 


i 


28 — 


te; die andere von ben zu einem Hochzeltmahl geladenen Goͤ— 
fien, wozu diefelben nicht Fommen wollten; und that den Auss 
ſpruch: das Reich Gottes würde den Juden genommen-und ben 
Heiden fibergeben werden. Die Pharifäer, die Hohenprieſter 
und Schriftgelehrten, die zu diefer Geſandtſchaft vom hohen 
Rathe gehörten, verflanden wohl, daß Er von ihnen tedete, 
und wurden daher aufs aͤußerſte gegen Ihn erbitter. Gern 
hätten fie, wie der Evangelift Lukas erzählt, ſchon jegt In bie 
ſer Stunde Hand an Ihn gelegt, fie fürchteten aber das Volt 
bei. welchem Er im größten Anfehen fand. Das Volk fürd: 
teten biefe buch Leidenfchaft verbiendeten Menſchen, Gott aber 
fürchteten fie nicht, da fie doch, Seinem heiligen Gefege zuwi⸗ 
der, Mordanfchläge im Herzen begten. 
Da nun biefe böfen Menfchen fahen, daß fie durch dieſe 
feierliche glänzende Geſandiſchaft, von welcher fie fo Vieles ſih 
‚verfprochen hatten, nichts bei Ihm außrichteten, und Feine Ge⸗ 
walt brauchen durften: ſo ſannen ſie jetzt auf Liſt und Trug, 
erſannen eine hoͤchſt verfaͤngliche Frage, in der abichenlihen 
Hoffnung, Ihm eine Antwort abzulocken, wegen welcher fie 
Ihn beim vömifchen Landpfleger anlagen Könnten. In der That 
hätte die Frage nicht verfänglicher angelegt werden koͤnnen. PH 
dem größten Unwillen ertrugen die Suden damals die Hertſchaft 
der Roͤmer, die ſie als eine widerrechtliche, mit Gewalt ihnen 
aufgedrungene Fremdherrſchaft anſahen, indem ſie nach ihrem 
Gecſetze Gott allein als ihren wahren Koͤnig, und ihre Koͤnige 
nur als Deſſen Stellvertreter anſahen. Durch den Drud bet 
Abgaben, welche die Römer ihhen auflegten, wurde Ihr Ha 
gegen diefelbe noch fehr vergrößert, da fie ald ein freie Volk 
an keine andere Abgabe, als nur an die Tempelſteuer gewohnt 
waren. Deßwegen hatte ſchon ſechs und zwanzig Jahre vorher 
ein gewiſſer Judas feine Landsleute in Galtläa der Feigheit Be 
fehuldiget, weil ſie, dem Geſetze zumider, den Roͤmern Steuer 
bezahlten, und außer Gott Herrſcher bulbeten, die nut ſterb⸗ 
liche Menſchen waͤren, und hatte ſie zu einem Aufruhr verlel 
tet, der aber mit feinem Tode und vielem Blutvergießen deen⸗ 
diget hatte. Obſchon der Aufruhr umterbrüct wär, fo war 


_ 9 -- 
doch der Haß, der im Stillen brütete, und nur auf eine neue 
Gelegenheit wartete, deflo mehr angeregt... Am meiften hegten 
diefen Haß die Pharifser ald Eiferer für das Gefeh, und bie 
Hofparthei des von den Römern fo fehr herabgewürbigten He⸗ 
rodes, obſchon dieſer im-Aeußerlichen es mit den Römern zu 
balten fchien und beim Kaifer in Gnaden fand. Deßwegen 
war zu jener Zeit die Sehnſucht nach dem Meſſias fo flark ge⸗ 
worden, weil man in demfelben einen Befreier von ber verhaf- 
feten Herrſchaft dek Römer erwartete. Sehet alfo, wie abſcheu⸗ 
lich die Arglift war, womit man dem SHeilande eine fo ver- 
fängliche Frage vorlegte! Gab Er eine bejahende Antwort, man 
folle die Steuer entrichten, fo hatte man Anlaß genug, Ihn, 
Der Sich für den Meſſias ausgab, beim Wolke verächtlich zu 
machen, und man brauchte dann das Volk nicht mehr zu fürdh- 
ten. Gab Er aber, wie fie erwarteten, eine verneinende Ant: 
wort: fo war e8 eben, was man fuchte; fo hatte man den ger 
gründetften Anlaß, Ihn ald einen Rebellen vor dem römifchen 
Statthalter anzuflagen: eine Anklage, die um beflo leichter 
würde Gehör gefunden haben, da ber Heiland, wie fie mein 
ten, ein Landsmann jenes Judas, deffen Aufruhr noch im fri⸗ 
ſchen Andenken und weil die Galilaͤer zum Aufruhr ſo geneigt 
waren. Sehet, ſo argliſtig war der Fallſtrick angelegt, worin 
man den Herrn zu fangen gedachte. | 

Vorher wurde Rath gehalten, um mit defto mehr Vorſicht 
und Sicherheit zu Werke zu geben; und hier wurde nun die 
Frage, Die man dem Herrn vorlegen wollte, erfonnen und auf’s 
genauefte beflimmt, eben fo, wie die fehmeichlerifche Anrede, 
welche zu der Frage vorbereiten ſollte. Die Vorſteher unter 
den Pharifaern, die Meifter, gingen nicht feibft, fondern fchida 
ten, um deflo weniger Auffehen und Verdacht zu erregen, ihre 
Schüler ald Ausfpäher, die ſich anftellen follten als Gerechte, 
ald fireng Gewiſſenhafte, wie der Evangelift Lukas fagt. 
Schändliher Auftrag, den man ihnen gab! Was ift häßli- 
her, ald einem Menſchen auflauern, um ihn in Gefahr und 
Unglüd zu bringen? Zugleich wurde dafür geforgt, fich des 
. Mannes fehnell zu bemächtigen, wenn er eine Antwort geben 


— 0 — 
follte, wie fie diefelbe erwarteten, nämlich eine Antwort für 
das Gefeh, gegen die Römer. Deßwegen gab man den Ge- 
fendeten einige von den Leuten mit, die, in des Herodes Dien- 
fen flanden. Dem Heroded hatten die Römer die Aufficht 
über den Tempel übergeben, weßwegen er, wenn er zum Feſte 
nach Serufalem Fam, mehrere Dienftleute ald Wache bei ſich 
hatte. Die Phariſaͤer Eonnten auf den Beiſtand diefer Leute 
ſicher rechnen, wenn der Herr gegen die Römer unguͤnſtig Sich 
erklären follte, weil ihrem Herrn an der Sunft der Römer 
Alles gelegen war, Die Pharifaer haffeten übrigens bie Hero: 
dianer ald Freidenker im Glauben und als erflärte Anhänger 
der Römer. Jetzt aber, da ed einem gemeinfchaftlichen Feinde 
galt, machten fie gemeinfchaftliche Sache mit ihnen, fühnten 
fih, dem Scheine nach, mit einander aus, wie einige Tage 
nachher Herodes felbft und. Pilatus. Die Herodianer ließen 
fi dazu um deſto williger finden, weil die Frage, die man 
dem Herrn vorlegte, fie felbft, ihr eigenes Anfehen ganz nahe 
anging, und weil der Herr ſchon mehrmalß gar. nachdruͤcklich 
gegen fie gefprochen hatte. 
Da Tommen- nun diefe Schüler der Pharifuͤer, begleitet von 
Dienſtleuten des Herodes, zu dem Herrn, Der von vielem 
Volke umgeben war, und ſprachen zu Ihm im Angeſichte des 
Volkes zuerſt glatte, gleißneriſche Worte. Wer mit frommer, 
ehrlicher Miene an einem rechtſchaffenen Menſchen eine Frage 
thut, nicht, um ſich oder Andere zu belehren, ſondern um ihr 
in's Garn zu loden, um ihn in Verlegenheit zu fegen, um eine 
Antwort von ihm zu erfchleichen, die ihm zum Verderben ges 
reichen fol: ber ift ein Schalt, ein Böfewicht und ein Heuch⸗ 
ler in Einer Perſon; das verächtlichfte Gefchöpf, das man fich 
denken Tann. Sündern aller Art. begegnet der Heiland mit 
‚milder Schonung; bie Heuchler fährt Er hart an mit erſchuͤt⸗ 
ternder Verachtung. Bedenke dad ein Seder, der von einer fols 
chen Geſinnung fich nicht frei weiß! Bedenke ed auch du, der 
du vielleicht Mißtrauen gegen deinen Nächften hegſt, und ihn 
nun mit ragen auf Fragen fo Überhäufeft. und in die Enge 
treibft, bis du durch feine von ihm herausgepreßten Antworten 





— BB — 


deiner vorgeſaßten Meinung gewiß zu ſeyn glaubſt! Was mit 
der Liebe, die offen und aufrichtig iſt, nicht uͤbereinſtimmt, das 
fuͤhrt zum Boͤſen, und iſt der Weg zur Falſchheit und Verſtel⸗ 
lung. Da ſteht nun unſer lieber Heiland, umgeben von einer 
großen Menge Volks; Worte der Wahrheit und Liebe fließen 
von Seinen Lippen; da ſteht Er, in Dem kein Falſch war, in 
dem milden Glanze Seiner Aufrichtigkeit und Seiner Menſchen⸗ 
freundlichkeitz dad Volk haͤngt an Seinen Lippen, und faſſet 
jedes Seiner Worte. auf mit aller Aufmerkſamkeit. Da Toms. 
men num die Abgeſandtenz Menſchen, die man fonft nie bei 
einander ſah, find hier bei einander, einige Schüler der Phas 
riſaͤer, noch keine erflärte Anhaͤnger; bewegen ift ihre Verei⸗ 
nigung mit Herodianern nicht auffallend. Jene treten — nicht, 
wie ihre Meiſter, mit verachtendem Stolz und Hohn, — ſon⸗ 
dern ganz beſcheiden und demuͤthig zu Ihm hin, beweiſen Ihm 
auf alle Art mit Mienen und Gebehrden ihre Hochachtung und 
Ehrfurcht, und ſprechen zu Ihm: „Meiſter! wir wiſſen, daß 
Du wahrhaft biſt, und lehreſt den Weg Gottes nach der 
Wahrheit, und kuͤmmerſt Dich um Niemand; denn Du achteſi 
nicht auf das Anſehen der Perſon.“ Ein jedes ihrer Worte iſt 
zwar die reinſte, ausgemachteſte Wahrheit, aber in ihrem Munde 
"war 'e& Falſchheit und Tuͤcke. „Wir wiſſen, daß Du wahr— 

haftig biſt,“ ſprachen Jene, die Ihn kurz zuvor, und wie oft, 
einen Luͤgner genannt hatten; „wir wiſſen, daß Du den Weg 
Gottes nach der Wahrheit lehreſt,“ ſprachen Jene, die Ihn 
immer beſchuldiget hatten, daß Er das Geſetz aufheben wollte, 
daß Er ein Sabbatsſchaͤnder, daß Er und Seine Lehre nicht 
von Gott, ſondern aus dem Teufel ſey. Wie wird ihnen, und 
Allen, die ihnen gleichen, bereinft zu Muthe feyn, wenn fie 
Das Wort hören werben: „Ich will dich aus deinem eigenen 
Munde richten!” „Wir willen,” fprachen fie ferner, „daß Du, 
Dich nicht irre machen. Iäßt, nicht auf die -Perfon achtefl.’ 
Das fagten fie der Herobianer wegen, um Ihn aufzumuntern,, 
am, wie fie meinten, Seinen Ehrgeiz anzuregen, Sich an bie 
- Gegenwart diefer nicht zu. fidren, und ohne Scheu mit Muth 
Die Wahrheit zu fagen. Welch’ ein hexrliches Zeugniß für bie. 


on ge _ 


292 
! 


Gefinnung und gewöhnliche Handlungsweiſe unferd Herrn J. C. 
aus dem Munde Seiner aͤrgſten und erbittertfien Seinde! Und 
fo war in der That immer Sein Wanbel geweien. Ex hatte- 
wahrlich nicht auf dad Anfehen irgend einer Perfon geachtet, 
init. keiner befondern Parthei zugehalten, hatte Jedermann, er 
mochte aus dem Volke oder aus den Bomehmern, mochte Pha⸗ 
tifäer oder Sadducaͤer oder Herobianer feyn, immer die Wahr: 
heit gefagt. Und wie hätte Ex, der Gottmenſch, in Dem fein 
Makel und Fein Falſch war, auch wohl ander handeln koͤn⸗ 
nen? Und in unferen Tagen haben Menfchen fich erbreiftet, 
zu behaupten, Er hätte, um Seine Abficht deſto beffer zu er- 
reichen, nach den Irrthuͤmern und Vorurtheilen des Volks Sich 


bequemet, damit Er deflo mehr Anfehen und Vertrauen gewin⸗ 


nen möthte. So wüßte man dann nicht länger mehr, wann 
Er reine Wahrheit, und wann Er, dem Volke zu gefallen, 
Ferthum gelehrt habe. Und man iſt vermeſſen genug geweſen, 
Ihn wegen einer ſolchen Klugheit in Seinem Betragen noch 
ſogar zu ruͤhmen, freilich nur dem Scheine nach zu ruͤhmen, 
in der That aber, Ihn zu einem gewoͤhnlichen, aber recht 
ſchlauen Menſchen herabzuwuͤrdigen, da Er bei einer ſolchen 
verſchmitzten Weltklugheit nicht einmal ein ehrlicher, redlicher, 
aufrichtiger Mann mehr haͤtte bleiben koͤnnen. Und es hat lei⸗ 
der fo Viele gegeben, die ſich durch ſolche ſchaͤndliche Behaup⸗ 
tungen haben verblenden und bethoͤren, an der Perſon J. C. 
fich haben irre machen laſſen. Ein ſolches Aergerniß an der 
Sittlichkeit und Heiligkeit Seiner Perſon war vorzüglich unſe⸗ 
rem Beitalter aufbehalten; fo weit war man noch nie gegangen, 
ſelbſt die Sittlichkeit Seiner Gefinnung und Handlungsweife 
in Verdacht zu ziehen. Aber folche Menfchen, die, indem fie 
Ihn auf eine ſchaͤndliche Art ruͤhmen, noch ald Seine Freunde 
wollen angefehen feyn, werden durch den Mund Seiner aͤrgſten 
Feinde Lügen geftraft, Die gezwungener Weife Ihm das Zeug: 
nig geben muͤſſen, daß Er auf das Anfehen der Perfon nicht 
achte. Heiligfter! Der Du von Dir Selber fprichft: „Ich bin 
der Weg, die Wahrheit und dad Leben: — Dazu bin Ich in 
die Welt gefommen, daß Ich ber Wahrheit Beugniß gebe 5” 





. . 
= 293 - 


Du hätteft, um Menfchen zu ‚gefallen, Irtthlimer begänffigen 
und verbreiten koͤnnen? Vergib ihnen, denn fie wiſſen nicht, 
was ſie ſagen. Zu 0 


nt 2 IL - | 4 
Kehren wir jetzt zu unferer Begebenheit wieber zuchdt 
Nachdem bie pharifäifchen Abgeordneten Ihn durch ihre niebrige 
Schmeichelei glaubten gewonnen zu haben, legten fie Ihm bie 
Stage vor: „Sage uns, iſt es erlaubt, dem Kaifer Steuer zu 
geben, ober nicht?” Als ob ihre zarte Geiviffenhaftigkeit mit 
en Ausſpruch ihrer Lehrer und Meifter fich nicht ganz beru⸗ 
higen koͤnne, legen fie Ihm die Frage vor ald eine Geroiffende 
frage, die eigentlich heißen foll:. „Verfündigen wir und nicht, 
‘wenn wir, das freie Volk Gottes, einem heibnifchen Regenten 
durch Entrichtung der Steuer und unterwärfig bekennen ?“ 
Der Afwiffende erkannte die Falſchheit und Züde in ihrem 
Hetzen, wie Er fie in dem Herzen eines Jeden erfennt, der, 
glatte Wörte auf der Zunge, Bosheit und Nachſtellung im 
Dergen vbruͤtet. Mit großem Ernſt ſprach Er zu den Phari⸗ 
faͤern: „She Heuihler, was verfuchet ihr Mich?“ So weniä 
ſuchet Er fie zu gewinnen. Der Huldreichfte iſt immer hulblos 
gegen argliſtige Heuchler. Er ſchont aller Schwachen, nur der 
Falſchen und Heuchler fhont Er nit. Er weiß, wen Er vor 
Sich bat. So bewies Er's ihnen durch die That felbft, daß 
Er. Sich nicht irre machen ließ, und bie verborgenften Heim⸗ 
lichkeiten ihres” Innern aufs genauefte kannte. „Beiget Mir 
die Steuermuͤnze,“ ſprach Er; man zeigte ſie Ihm. Auf die 
Muͤnze hinweiſend, fragte Er: „weſſen iſt dieſes Bild und die 
Ueberſchrift?“ Das Bildniß des Kaiſers mit dem umher ges 
ſchriebenen Titel war "auf die Münze geprägt. Ban mußte 
alfo anfworten: „des Kaiſers.“ Und nun gab Er die ewig 
denkwuͤrdige, aber auch noch in unſeren Tagen zum Hohne 
und zur Verachtung der Kirche fo oft gemißbrauchte Antwort» 
„So gebet dann dem Kaifer, was des Kaiſers iff, und Gott, 
was Gottes ifl.“ Dad heißt: „Die Antwort, die Ich euch ge⸗ 
ben kann, iſt auf der Münze ſchon geprägt: Gebet dent Kaifer; 


! 


was des Kaiſers iten was von PR herkommt; was fein Bild 
trägt; um euexer Sünde willen hat Gott euch. jetzt einer frem⸗ 
den Herefchaft unterworfen, wie Mofes und bie Propheten es 
euch vorher verkuͤndiget haben; es iſt alſo Gottes Gericht, daß 
ihr jetzt der fremden Herrſchaft unterworfen ſeyd; „und gebet 
Ent, was Gottes ift,” was Gottes Namen und Bild traͤgt. 
Die Abgabe an euere jetzige Obrigkeit hindert euch nicht, ‚bie 
Priäten, die ihr Gott ſchuldig feyd, zu erfüllen.” 
Erkennet zuerft aus dieſer Antwort, wie fehr unfer Hm 
bayon entfernt war, in die obrigkfeitliche Macht und das Anfes 
ben ber Regenten den mindeften Eingriff zu thun! Auch in 
bjefem Sinn erfüllte Er alle Gerechtigkeit. Er ehrte, um Got: 
fes Willen, dad Anſehen menfchlicher Obrigkeiten. Der alfo 
iſt ficherlich Bein guter Chrift, der Kein guter Unterthan feiner 
Obrigkeit ift, wenn biefe Obrigkeit auch nicht des nämlichen 
Glaubens, ja wenn fie auch nicht einmal des chriftlichen Glau⸗ 
hend wäre. Der Chrift lernt von Chriſtus, nicht bloß des 
HZwanges, fordern ded Gewiffend wegen, der Obrigkeit zu ge= 
ben, was ihr gebühret. Er hört den Geift 3. C. in ben Apo⸗ 
Bein ſprechen: „Jeglicher Menſch fey der obrigkeitlichen Sewalt 
unterthan; denn es ift Feine Obrigkeit, ald nur von Gott; Wels 
be da find, Die find von Gott geordnet. Darum, wer ber 
Obrigkeit widerſtrebt, der widerſetzt fich der Anordnung Gottes ; 
bie ſich aber widerfegen, laden fich felber dad Gericht auf. 
So feyb dann unterthänig aus Nothwendigkeit, nicht allein ber 
Strafe wegen, ſondern auch ded Gewiſſens wegen! Gebet alfo 
Jedem, was ihm zufommt; wem Steuer, dem Steuer; wen 
Boll, dem Zoll; wen Ehrfurcht, dem Ehrfurcht; wen Achtung, 
dem Achtung! Röm. 13, 1— 9. Seyd daher unterthan jeder 
menfcplihen Ordnung um Gottes wegen dem Könige, dem 
Oberherrſcher; oder dem Statthalter ald benen, "die von ihm 
geſandt find zur Beſtrafung der Uebelthäter, zum Preife aber 
der Suten. Denn es iſt der Wille Gottes, daß ihr durch euere 
guten Werke verfiummen machet den Unverftand der thörichten 
Dienfchen. Ermeifet Jedem Ehre; liebet die Brüder 5; fürchtet 
Gott, ehret den König!" 1. Petr. 2, 13 — 14. Das. find 


ausbrüdtiche Ausfprfiche des p. Geiſtes Kurth bie Apoſtel; Aus⸗ 
fie, nach denen wir einft werben gerichtet werben. 


II, 


Was follen wir aber dem großen Gott geben? Himmel 
und Erde, und Alles, was auf Erden ifl, iſt Sein Eigenthums 
Alles, was wir im Befige haben, was wir das Unferige nen⸗ 
nen, ift von Ihm, iſt Sein Eigenthum: unfer Leib und unfere 
Seele mit allen ihren Kräften, unfer Verftand, unfer Gedaͤcht⸗ 
niß find Sein Eigentbum. Nur Eind haben wir, das wir 
im eigentlichen, wahren Sinne des Worts unfer Eigenthun 
nennen dürfen; das iſt unfer freier Wille. Wir haben bie 
Macht, gegen die Reize der Sinnlichkeit, gegen die Anloduns 
gen und Berfuchungen zum Boͤſen Dad, was recht und gus 
iſt, was Gott will, zu wollen und zu thun, unb haben bie 
Macht, ed auch zu laſſen, das Gegentheil zu wollen und zu 
thun, und der böfen, fündlichen Begierde zu folgen. Gottes 
iſt nur das, was recht und gut ift, nur das ift Sein Wille, 
der heilig und gut if, Wir geben alfo Gott, was Gottes iſt, 
wenn wir nicht dad, wozu die fündliche Begierde und reizt; 
wollen und thun, fondern immer nur das, wad recht und gut 
ift, wenn wir nur wollen und thun, wad Er will, Das Opfer 
unſers freien Willens ift alfo das einzige, wahre Opfer, wels 
ches wir Ihm bringen koͤnnen. Und wenn nicht jedes andere 
Opfer, das wir Ihm bringen, jede Gabe, die wir zu einem 
ſonſt an fich guten Zwecke hingeben, mit diefem Opfer unferes 
freim Willens verbunden iſtz dann hat ed für Ihm nicht ben 
mindeften Werth, und wird als Opfer von Ihm gar nicht ans - 
genommen. Möge auch Iemand zur Beförberung des Gottes⸗ 
dienſtes ober zum Beſten der Armen fehr reichlich und fo viel 
nur immer in feinen Kräften iſt, beitragen; -will er aber feinen 
Stolz nicht unterdräden, feine Rachfucht gegen einen Beleidi⸗ 
ger nicht im ‚Baume halten, einen fündlichen Umgang nicht aufs 
geben, mit Einem Worte: will er feinen Willen nicht in Allem 
bem göttlichen Willen unterwerfen; dann hat feine ganze Gabe, 
To viel Nugen ſie übrigens auch fliften mag, vor Gott nicht 


h 
' — REED 


ben minbeflen Werth, dann iſt fie nur wie ein toͤnendes 
und wie eine Elingenbe Schelle. Darum fpricht der Herr durch 
ben Propheten Iſaias: „Ich will euere Opfer nicht; fie find 
Mir zum Abſcheu geworden. Und wenn ihr auch bei denfelben 
euere Hände zu Mir auöfitedetz fo werde Ich Meine Augen 
pon euch wenden; und wenn ihr auch eure Gebete vervielfältis 
get, fo werde Ich euch nicht erhören: denn euere Herzen find 
gerunreiniget. Reiniget euch, leget euere böfe Gefinnung ab 
vor Meinen Augen, ftehet. ab vom Böfen, und lernet recht 
thun, und Werke der Liebe üben: und dann kommt, und haltet 
es Mir vor; und wenn aud euere Sünden blutroth wären, fo 
follen fie wie Schnee gereiniget werben, und wenn fie auch 
wären wie Purpur, fo follen fie wie weiße Wolle werden.” 
Iſ. 1. Sehet ihr, wie Feines unferer Opfer Gott gefallen Tann, 
wenn ed nicht mit der Aufopferung unfered freien Willend in 
Entſagung von unſeren ſuͤndlichen Begierden verbunden iſt! Und 
im gleichen Sinne beißt ed im 3gften Palme: „Brand: unb 
Suͤndopfer haft Du nicht gefordert. Darum ‚habe Ich geſpro⸗ 
chen: Siehe, Ich komme, Deinen Willen, o Gott! zu thun, 
babe Ich gewolltz in Meinem Innern wohnt Dein Gefeg.“ 
Pſ. 39. Sehet ihr, wie die Aufopferung unfered Willend, die 
Unterwerfung unſeres Willens unter den Willen Gottes das 
einzige Opfer iſt, was Gott gefällt, was allen anderen Opfern 
ihren Werth gibt, woburd allein unfere Sünde vor Gott ges 
tilget werden kann! Und wenn wir nun dieſes Einzige, was 
wir unſer wahres Eigenthum nennen koͤnnen, wenn wir unſe⸗ 
gen freien Willen aus gehorfamer, dankbarer Liebe gegen Gott 
gern und bereitwillig zum Opfer bringen; dann werben wir, in 
Wahrheit frei. Denn je mehr mir nicht dem Willen Gottes, 
fonbern ber fünblichen Begierde folgen, deſto mehr nimmt fie 
zu; je mehr wir fie befriedigen, befto unerfättlicher wird fie; 
des Menfchen Herz, nämlic feine Begierde wird ganz unbäns 
Dig, und beherrſcht ung ganz; darum nennen wir fie Leiden⸗ 
fehaft, weil wir in der That unter ihrer barten Herrſchaft fehr 
‚leiden, ihre Knete, ihre Sclaven werden. Wenn wir aber 
das Letzte und Einzige, was wir haben, unjeren freien Willen, 


237 | | " 
3 ED 


zum Opfer bringen, und alfo dann nichts Eigenes mehr haben, 
Alles verloren zu haben fcheinenz; dann gewinnen wir Alles, 
wir gewinnen ben göttlichen Frieden; mit ihm ehrt Ruhe und 
Friede und alle wahre Seligkeit ein in unfer Herz, unb nimmt 
bavon Beſitz. Seine Herrſchaft ift fanft und milde uyd übers 
aus lieblich: nur unter der Herrfchaft des göttlichen Willens 
ftehen, heißt ſelbſt herrſchen. So wollen wir dann aud vollem 
Herzen mit einftimmen In dad Wort des Föniglichen Propheten z 
„Sch Tomme, ich bin bereit; Deinen Willen, o Gott! zu thun, 
babe ich gewollt; in meinem Innern wohnt Dein Gefek.” Aus 
vollem Herzen wollen wir beten dad Gebet des h. Auguflinus, 
der, Durchdrungen von der füßen Herrſchaft des göttlichen Wil⸗ 
lend, entflammt. vom Zeuer ‚heiliger Liebe, muthig ausrief: 
„Herr! gib mir immer zu tun, was Du gebieteft, unb dann 
fordere von mir, wad Du willſt!“ Amen. 





Ein und zwanzigfte Rede, 
Zweite Rebe am breiundzwanzigften Sonntage 
nach) dem Feſte der h. Dreifaltigkeit, 


wert:s.. ' 
„Be Gott, was Gottes if!" Matth. 22, 21. 
.shbem a: 
Bon der Freiheit unferes Willens. 


„So geben, was Gottes if" — Wie ift es uns Mens 
fhen möglih, Gott Etwas geben zu innen? Wer Etwas 
gibt, muß das, was er gibt, als fein Eigenthum wirklich im 
Befig haben; und —— dem es gegeben wird, muß es 
nicht beſitzen. Da aber J. C. ſagt: „Gott geben, was Gottes 
iſtz fo muß ber Ausdruck: „was Gottes iſt,“ nothwendig hei⸗ 


fen: „ed gebührt Gott, es kommt Ihm zu, Gott hat das Recht, 
Dasjenige, was wir Ihm geben ſollen, von und zu: fordern.“ 
Mad befigen wir denn als. wirkliches Eigenthum, welches Gott 
nicht befigt, aber von und zu fordern das Recht hat? Iſt nicht 
alles, was auf Erden ift, im eigentlihften, flrengfien Sinn 
Gottes Eigentbum? AM unfer Hab’ und Gut, das wir zwar 
unfer Eigentbum zm nennen pflegen, ift es denn wohl. unfer 
wahres, wirkliches Eigentbum? Won Gott haben wir ed em= 
pfangen, und zwar nicht zum Befiß, fondern nur zur Verwals 
tung und zum Gebrauche, und zwar nur auf eine kurze Zeit, 
und nur nach ſolchen Vorfchriften und Regeln, wie Er fie uns 
gegeben hat. Sobald Er will, wird ed gariz oder zum Theile 
wieder von und genommen: fobald Er und ruft, werden wir 
felbft von alle Dem, wad wir unfer Eigenthum nannten, bins 
weggenommen, und wir müflen ed Alles, ohne das Mindefte 
mit hinüber nehmen zu koͤnnen, hier auf Erden zuruͤcklaſſen. 
Wir fagen zwar: unfere Kinder, unfere Angehörigen; aber nur 
deßwegen, weil ſie in ſo naher Verbindung mit uns ſtehen, 
koͤnnen wir fie unſer nennen. Gott hat fie und gegeben, hat 
das Band geknüpft: fobald Er will, wird diefe Verbindung 
wieder. aufgehoben, das Band wieber zerrifjen. Und was haben 
wir dann an unferer eigenen Perfon, -welches „wir mit vollem 
Hecht unfer Eigentum nennen können? Iſt es etwa unfer 
Leib? Ach! wie manchen Zufällen, Krankheiten und Schmer- 
zen, bie wir gar nicht in unferer Gewalt haben, ift berfelbe 
unterworfen! wie wenig haben wir ihn in unferer Gewalt! wir 
vermögen, wie der Herr fpricht, zu feiner Größe nicht um Ei⸗ 
nen Daumenbreit hinzuzufegen, fein Leben nicht um Einen 
Augenblick zu verlängeren; muͤſſen ihn, fobald Gott will, wieder 
ablegen. Mit unferem Leibe haben wir auch unfere unfterblihe 
Seele von Gott empfangen; fie bleibt uns zwar in Ewigkeit, 
denn fie iſt unfterblich: ſobald aber Gott fie abforbert, kann fie 
in ihrem gegenwärtigen Zuftande, mit dem Leibe vereiniget, 
nicht länger bleiben. '„Aber die Kräfte umferer Seele, z. B. 
unfer Verftand, unfere Vernunft, unfer Gedaͤchtniß, — biefe 
find doch wohl unfer Eigenthum zu nennen, da wir ja fo Vieles 


zu ihrer Ausbildung beitragen Töymen, biele Werbefferung und 
Ausbildung doch großen Theils die Frucht unferer eigenen Mühe 
und Anftrengung ift?” Das ift fie; .aber doch nur zum Theil, zum 
größten Theile hängt diefe Ausbildung ab von Verbindungen und 
Umfländen, die ganz und gar nicht in unferer Gewalt find, die 
Gott fo angeordnet hat. Wie mancher Verftand bleibt roh und 
unaudgebildet, weil es an Gelegenheiten un® Umftänden fehlte! 
Und dann dürfen wir ed nicht unbemerkt laflen, daß wir nur 
Dasjenige unfer wahres Eigenthum nennen Finnen, worliber 
wir nach unferem Gutdünfen und Belieben, als unumfchräntte 
Herren ſchalten und walten können, womit wir machen koͤnnen, 
was wir wollen. So verhält es fich aber mit jenen Kräften 
unfered Geifted ganz und gar nicht, Gott hat biefelben fo eins 
gerichtet, daß fie gewiffen Regeln und Gefeken, die Er ihnen 
gegeben hat, gänzlih unterworfen find. Nach diefen Gefegen 
müffen wir nothwendig erkennen, denken, urtheilen, fließen; 
wir koͤnnen unferem Verftande, unferer Vernunft, unferem Eins 
bildungs⸗ und Erinnerungdvermögen durchaus gar nicht gebies 
ten, nach anderen Geſetzen zu verfahren. Was ich ald gewiß 
wahr erdenne, kann ich nicht zu gleicher Zeit als falfch erken⸗ 
nen. Es iſt mir z. B. nicht. möglich, dad Lügen, Stehlen, 
Rauben, die Verſtellung, die Unkeufchheit, Unmäßigfeit als gut 
und fittlich. zu erkennen; durch die Gelege, die meiner. Vernunft 
gegeben find, bin ich gezwungen, folche Sefinnungen und Hands 
lungen ‚zu verwerfen und zu verbammen. In dem Gebrauche 
und in der Anwendung biefer Kräfte unferes Geiſtes find wir 
alfo wieder ganz und gar von Gott abhängig, koͤnnen alfo auch 
mit diefen Kräften, an und für ſich allein genommen, Gott 
nicht Etwas geben, das auöfchließend unfer Sigentbum wäre, 


J. 


Wie ſollen wir dann Gott geben, was Gottes iſt? Es 

muß doch möglich feyn, es muß ſogar unfere Pflicht feyn, de: 

3. €, die ewige Wahrheit, ed uns gelehrt und vorgefchrieben 

bat. Was haben wir denn, welches wir im eigentlichen Sinne 

und mit vollem Rechte unfer wahres Eigenthum nennen koͤn⸗ 
ar hl. ate Aufl 19 





on - 20 — . 
nen? Nur Eines ift noch übrig, nur noch eine Kraft unferes 
Geiſtes; es iſt unfer freier Wille; es iſt jene Kraft unferes 
Geiſtes, womit wir begehren oder verabſcheuen, wollen oder 
nicht wollen, womit wir uns entſchließen und handeln. Dieſe 
allein iſt unſer wahres Eigenthum. Freilich haben wir unſeren 
Willen mit ſeiner ganzen Einrichtung auch von Gott empfan⸗ 
gen, und in ſofern iſt er ebenfalls unſer Eigenthum nicht; aber 
ſein Gebrauch und ſeine Anwendung iſt frei, iſt nicht, wie 
Verſtand und Vernunft, ſolchen Geſetzen unterworfen, die ihn 
mit Nothwendigkeit zwingen, daß er nicht anders ſollte begeh⸗ 
ren, fich entfchließen koͤnnen. Freilich hat der Wille auch An- 
triebe, die ihn anreizen oder abichreden; das Angenehme reizt 
ihn, das Unangenehme hält ihn zuruͤck, oder ſchreckt ihn ab, | 
treibt ihn an, ed abzuwehren. Bin ich denn aber nothwendig | 
gezwungen, eine vor mir ftehende Speife, die ich als wohl- 
ſchmeckend Eenne, deßwegen zu genießen? habe ich nicht die 
Gewalt, mir ihren Genuß zu verfagen? bin ich gezwungen, eine 
bittere Arzenei nothwendig zuruͤckzuweiſen? habe ich's nicht in 
meiner Gewalt, felbe, ungeachtet ihre. Bitterkeit mir. befannt 
iſt, doch zu nehmen? Antreiben und Abtreiben kann zwar das 
Angenehme und Unangenehme unferen Willen; ihn aber zwin⸗ 
gen, kann ed nicht. Aber unfere Vernunft ift ed doch, die dem 
- Willen Vorſchriften gibt, die ihm gebietet? Sie fpricht zu 
ihm: „Das ifl echt, das folft du. Du ſollſt z. B. deinen 
Eltern und Oberen gehorfam ſeyn; Diefes und Das folft dur 
nicht; du ſollſt dich nicht vergreifen an deines Nächften Hab’ 
und Gut, nicht an feiner Ehre, an feinem guten Namen, folft 
ihn nicht beleidigen; fie fordert ihn oft auf, dem Reize des An⸗ 
genehmen zu-entfagen, und zu wollen, und zu thun, wa3 un= 
‚angenehm ifl.” Das ift Alles wahr; aber ift denn der Wille. 
nothwendig gezwungen, zu wollen und zu thun, was die Ver⸗ 
niunft ihm fo vorfchreibt? thut, handelt er denn etwa immer 
nach diefer Vorſchrift? Er follte es freilich: aber er thut es 
nicht immer, weil er frei ifl, weil Feine Gewalt dhn eigentlich 
‚ zwingen kann. Und wenn auch Bott Selbſt foriht: „Das 
fonft du, Das fonft du nichtz” iſt dann der Wille nothwendig 








s ‘ un 201 ——— — 


gezwungen, zu gehorhen? Er follte das freilich, thut ed aber 
feider gar oft nicht, thut oft das Gegentheil von dem, was, 
Gott gebietet; das heißt: er ſuͤndiget; benn ber Wille ift es 
allein, der da ſuͤndiget; die Vernunft kann wohl irren, fündi- 
gen aber nicht; nur mit dem Willen fündigen wir. So wun⸗ 
derbar hat Gott unferen Willen erfchaffen und eingerichtet, daß 
feine Gewalt ihn eigentlich fol zwingen können. Darum heißt 
es: „Bott hat den Menfchen frei erſchaffen;“ und wir wiflen 
ja, welchen Mißbrauch fchon der erſte Menſch von feiner Frei⸗ 
beit gemacht bat. 

In biefer Freiheit bed Willen beſteht nun des Menſchen 
Hoheit und Wuͤrde, beſteht ſeine Aehnlichkeit mit Gott. Wie 
Gott ganz unumſchraͤnkt frei iſt, daß Er thut, was Er will: 
fo iſt auch der Menfch frei erfchaffen, zu thun nach feinem 
Willen. _ Keine Gewalt Fann ihn zwingen; der Menfch kann 
fi felbft beflimmen, zu thun nad feinem Willen. In der 
Anwendung, in dem Gebrauche diefer Freiheit beſteht des Mens 
hen Werdienft und Schuld, befteht feine Tugend, wie feine 
Sünde und Bosheit. Wäre der Menſch nicht frei; muͤßte er 
nothwendig dem Reize des Angenehnien folgen: ſo koͤnnte es 
Ähm nicht zur Schuld angerechnet werden, wenn er dieſem 
Reize ‚folgte, fo wäre Unkeufchheit, Unmäßigkeit, Rachſucht, 
Zornmuth Fein Lafter, Fein Verbrechen, fondern Zwang feiner 
Natur, wenn nämlich die Natur des Menfchen fo eingerichtet 
wäre, daß er nothwendig dem Reize ded Angenehmen folgen 
müßte, ohne die Kraft zu haben, demfelben zu widerſtehen. 
Auf gleiche Art verhält ed ſich mit ben Audfprüchen der Wer 
nunft, und felbft mit den Geboten und Verboten Gottes. Wäre 
bie Natur des Menfchen fo eingerichtet, daß er der Bernunft 
und dem göttlichen. Gebote nothwendig gehorchen ‚müßte, dem⸗ 
felben nicht widerftehen koͤnnte: fo wäre fein Gehorfam Fein - 
Verdienſt, ſein Ungehorſam keine Schuld. Kann es ja doch 
dem Schwachen nicht zum Verdienſt und nicht zur Schuld an⸗ 
gerechnet werben, wenn er, überwunden von, einem Starken, 
Mächtigen, demfelben notwendig folgen muß! Nicht. wahr, ſo 
wird ed und dann ganz helle und deutlich: wäre der Menſch 


- m - 

nicht frei erfchaffen: fo gäbe es Fein Verdienſt und Feine Schuld; 
Feine Tugend und Fein Lafter, Feine Belohnung und Feine Strafe; 
mit Einem Worte: fo hörte der Menfh auf, Menfch zu feyn? 
Das ift es, wodurch der Menfch von dem Thiere fi) unter: 
ſcheidet; dad Thier folgt feinem blinden Triebe, muß ihm fol- 

gen; der Menſch wird auch durch feinen finnlichen Trieb ge- 
trieben, kann aber demſelben widerſtehen. Der Menfch ift von 


= Gott mit einem freien Willen begabt. Er kann dem Reize des 


Angenebmen folgen, Tann ſich ihm auch widerfeßen; er. ann 
der Vernunft und dem göttlichen Gebote folgen, kann ſich auch 
widerſetzen; er Tann das Gute wollen und thun, kann ed auch. 
verwerfen; er Tann das Boͤſe wollen und thun, Tann ed auch 
abweifen. - | 
Wenn aber der Menfch gegen die Neize der Sinnlichkeit 
mit freiem Willen dad Gute wählt und thut, dem Gebote fich 
unterwirft: fo ift diefe Mahl und Uebung ded Guten, fo tft 
diefer Gehorfam freilich fein Werk und fein Verdienſt, weil es 
ein Merk feines. freien Willens, fein Eigenthum iſt; aber es 
iſt doch nur zum Theil fein Merl. Denn nach der Lehre des 
Glaubens Tann der Menfch auch nicht das minbefte Gute ohne 
ben Beifland der göttlichen Gnade zu Stande bringen, nicht 
einmal anfangen, nicht einmal denken; da ſchon der erfte Ge⸗ 
danke des Guten eine Wirkung der göttlichen Gnade if. Die 
Gnade ift ed, welche ihm fchon ben erflen Gedanken des Gu⸗ 
ten eingibt, welche ihm daſſelbe als wohlgefällig vor Gott, als 
Wille Gottes darftellt, welche ihn zum Thun beffelben antreibt, 
im wirklichen Thun ihn ſtaͤrkt, welche gegen die Neize bes 
Boͤſen in ihm kaͤmpft, welche ihm beifteht bis zur Vollendung, 
welche ben Sieg in ihm vollendet. Was bleibt dann nun in 
ber Uebung des Guten, in der Erfüllung der Pflicht des Men- 
fchen Eigenthum und Verdienſt? Daß er der Gnade, welcher 
ee fich widerfegen Tonnte, fich nicht widerfeßt; daß er fie un⸗ 
gebraucht und ungenußt laſſen konnte, und von berfelben Ge- 
brauch macht; daß er mit ver Gnade mitwirkt, wie ber Apo⸗ 
fiel Paulus fagt: „micht ich, ſondern die Gnade Gottes mit 
mir;“ daß alfo, wenn wir bie Macht der Gnade mit ber 








ms — 


menfchlihen Schwachheit zufammen halten, bed Menſchen An⸗ 
theil am Guten fehr gering feyn muß. An dem Boͤſen aber, 

an der Sünde, hat die Gnade keinen Antheil; dad Boͤſe, die 
Sünde, iſt ganz allein des Menfchen Eigenthum und Schulb, 
weil fie ganz allein dad Werk feines freien Willend iſt; Die 
Sünde ift um deſto mehr feine Schuld, weil ed ihm an ber 
Gnade, fie zu überwinden, nicht mangelte, - 


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Was Tann und aber dazu vermögen und bewegen, baß 
wir das einzige Eigenthum, welches wir. befigen, baß wir uns 
fere Sreiheit auf folhe Art wieder aufgeben? — Die Wahr⸗ 
beit und die Liebe. Was wir als gut erkennen, bad muͤſſen 
wir, ‚wollen wie unſere Vernunft nicht verleugnen, ſchaͤtzen 


und achten; und eben fo dad, was wir ald böfe erkennen, vers 


achten. Müfjen wir denn nicht ein Wefen, welches nur das 
Gute will, und dad Böfe verabfcheuet, über Alles ſchaͤtzen und 
hochachten? Ein folches MWefen, welched nur dad Gute will, 
und das Boͤſe verabfcheuet, iſt ein heiliges Wefen. Gott ift 
das allerheiligfte Weſen, ift die Heiligkeit ſelbſt. Wahre. Liebe 
kann nicht gegen dad Böfe, kann nur gegen dad Gute gehegt 
werden. Darum ift Gott dad. allerheiligfte Weſen, die Liebe 
feibft, weil Gott nur das Gute liebt, dad Boͤſe verabfcheuet. 
Und biefes allerheiligfie Wefen, Welches. die Liebe ſelbſt if, 
umfaffet und Menfchen mit einer folchen Liebe, wovon wir uns 


keinen Begriff machen Fönnen, mit der uneigennübigften, barın- 


berzigften, wohlwollendſten Liebe; hat einen Rathſchluß der 
Liebe über und gefaffet und audgeführet, wovon, wäre uns 
derfelbe nicht durch Offenbarung mitgetheilt worben,. Tein Ges 
danke in eined Menfchen Herzen hätte auffleigen Fünnen. Da 
wahre Liebe nur durch wahre Liebe errungen werden Tann: fo 
ift fie ohne allen Zwang der flärkfle Antrieb zur Gegenliebe, Aus 
dem Innerſten unferer Natur ift daher der Ausſpruch des Juͤn⸗ 
gers der Liebe: „Laſſet uns Ihn lieben; denn Er hat uns zu⸗ 
erſt geliebt!“ Dem Liebenden, Der es ſo gut mit uns meint, 
Der uns zum Guten, zum wahren Heile fuͤhren will, geben 


N 


wir und gerne ganz hin, ‚geben wir unferen Willen, unfere 
Freiheit hin, weil wir beruhiget und überzeugt find, daß wir 
nur bei Ihm ficher find, nur in Seinem Dienfte, Seinem 
Willen folgend, unfere Freiheit nicht mißbrauchen werben. Was 
Er und gibt, nehmen wir an mit Dank, und brauchen ed nach 
Seiner Abfiht; was Er und nimmt, geben wir Ihm willig 
bin, überzeugt, daß ed uns nicht länger gut feyn würde. Was 
Er und gebietet, thun wir ohne Anftand, obfchon e8 in unſe⸗ 
rer Macht ſteht, ed zu unterlafien; wad Er und verbietet, un= 
serlaffen wir, obfchon ed und nicht an Macht fehlt, ed zu thun. 
So ift e& denn bie Liebe allein, die e8 über und vermag, daß 
wir Dem, Der bie Liebe ſelbſt ift, mit freier Wahl uniere 
Freiheit gern bingeben und unterwerfen. Dad hat und ber 
Herr zu erkennen gegeben, da Er ſprach: „Gebet Gott, was 
Gottes iſt!“ Was können, was follen wir Ihm geben, als 
unfer einziged Eigenthum, unferen freien Willen? Nur mit 
unferem Willen koͤnnen wir Ihm geben, Ihm opfern. - Aus Liebe 
zu unferem Heil und Beten fordert Er diefed Opfer; aus Liebe 
bringen wir Ihm dieſes Opfer dar. 

Und vermöge biefer Freiheit unferes MWillend Tönnen und 
follen wir auch mit Allem, was wir haben, und was wir 
find, Ihm ein Opfer bringen; mit Allem, was wir haben, und 
was wir find, „Gott geben, was Gottes iſt.“ Was wir un⸗ 
fer Hab’ und Gut nennen, iſt freilich im eigentlichen Sinne 
unſer Eigenthbum nicht, iſt und nur anvertrauet zur Verwal 
tung nach den Vorfchriften, die Gott und darüber gegeben hat. 
Wenn wir nun nad) unferen Berhältniffen einen vernünftigen, 
guten Gebrauch davon machen, einen Gebrauch, der mit unfes 
ren Pflichten beftehen Farin, einen Gebrauch, den bie Liebe ein= 
gibt und leitet; dann geben wir mit unferem Hab’ und Gut 
„Sott, was Gottes iſt:“ denn es ift Sein; nach Seiner Abe 
fiht, nad Seinem Willen follen wir e8 anwenden. Wenn eb 
fi) fügt, daß wir an unferem Hab’ und Gut einen Verlufl 
erleiden: fo lehrt und der Glaube, daß diefes Schidfal Seine 
Fuͤgung ift, daß Er es von und fordert, zu unferem. Beten 
von und ſordert, daß der langere Beſitz und nicht zum Guten 








s 
> 205 XXV 
[4 


würbe geweſen ſeyn; ſollen es alfo gern unb willig Ihm bin- 
geben; Thn geben, was Sein ift, wenn Er ed. von und fors 
dert. In wahrer, unentmweglicher Freiheit. und Ruhe befigen 
wir daher mit einer folhen Gefinnung unfer Hab’ und Gut; 
„Laufend find wir, als kauften wir nicht; beſitzend, als befäßen 
wir nicht;“ veich find wir in Armuth, und freiwillig arm im 
Reichthum. 

Mit Banden der Liebe hat Gott Selbſt mit Freunden und 
Angehoͤrigen uns verbunden; hat Gott Selbſt Eltern mit Kin⸗ 
dern, und Kinder mit Eltern, hat Eheleute, hat Bruͤder und 
Schweſtern, hat Freunde und Verwandte mit einander verbun⸗ 
den. Seine Liebe iſt die Quelle ihrer Liebe; Seine Liebe iſt 
es, die in dem Liebenden und Geliebten lebt und wirkt. Gott 
hat ſie einander gegeben, daß ſie einander vorzuͤglich ſich lieben, 
ſich einander zum Guten ſeyn, ſich einander zu Gott, dem 
Urquell aller Liebe, fuͤhren und fuͤhren laſſen ſollen. Wenn 
fie ihre Verbindung nun dazu gebrauchen, wenn Jeder, 
feine Sreiheit im Dienfte der Liebe hingebend, nur für des 
Andern Wohl beforgt iſt; wenn der Geliebte dieſe fürforgende 
Liebe mit‘ dankbarer Liebe erwiedert; dann wird auch burch 
dieſe Verbindung der Ausfpruh 3. C. erfüllt: „Gebet Gott, 
was Gottes iſt!“ Wenn aber z. B. Perfonen verfchiedenen 
Geſchlechts einander zwar die größte Liebe filh verfichern, aber 
einander durch Fleiſchesluſt und Unkeufchheit fich verführen und 
verderben: dann ift nicht dev Eine für des Andern wahres Wohl 
beforgt; bringt vielmehr des Andern wahres Wohl feiner Leis 
benfchaft zum Opfer; dann hegen fie Feine wahre Liebe, find 
ſich vielmehr die aͤrgſten Feinde; „geben nicht Gott, was Got⸗ 
tes iſt;“ fondern vielmehr dem Teufel, was bed Teufels ift, 
nämlich Sünde und Verberben. 

Mit Banden heiliger Liebe hat Gott alle Menfchen unter 
einander verbunden; Alle find Kinder Eines und des nämlichen 
Vaters, des Vater unferd Herrn 3. C., der Aller Bruder ges 
worden iſt; Alle durch Sein Blut gereiniget, durch Seinen‘ 
Tod erlöfet hat, Alle follen durch Ihn in: heiliger Liebe uns 
ter einander Eins feyn, wie Er mit. dem Bater Eins ifl. 


% a 











Wenn wir nun, befeelt von ber Wahrheit, daß wir durch 
3. C. und in Ihm fo innig mit einander verbunden find, 
feinen Zwieſpalt, Feine Trennung unter und aufkommen laffen; 
‘wenn wir Ungerechtigkeit, Eigennug, Zornmuth, Härte, Ta⸗ 
beifucht und jebe ber Liebe entgegengelehte Neigung unter und 
unterdruͤcken und verbannen, wenn Jeder ſich angelegen feyn 
läßt, fo viel es Verhaͤltniſſe und Umftände ihm zulaffen, auf 
des Andern wahres Wohl bedacht zu feyn; wenn wir. mit Eis 
nem Worte einander wahrhaft lieben: ‚dann geben wir „Gott, 
was Gottes iſt.“ 


| Und wenn nach Gottes Willen Jene, die und fehr werth 
und theuer find, wenn ein naher Verwandter, ein inniger 
Freund von und genommen werben: dann trauern wir zwar 
in gerechtem Schmerz über unfern Verluſt, beruhigen und 
aber über des Herrn Anordnung, unterwerfen und Seinem 
‚heiligen Willen, geben Ihm wieder mit freier Unterwerfung 
unfered Willend, was Er und gegeben hat; geben „Gott, was 
“Gottes if.” Sie find Sein, die eine Zeitlang auch unfer 
waren; bei Ihm hoffen wir fie wieder zu finden, dann wer⸗ 
den ſie auch wieder unſer ſeyn in alle Ewigkeit. 


| Wenn wir bie Kräfte unſeres Werftandes, die Gott uns 

gegeben, dazu gebrauchen, um Das, was und das Allerwich⸗ 
tigfte ift, um Gott und 3. €, und Seine h. Religion, und 
um und felbft immer befler Tennen zu lernen, und andere für 
unſeren Beruf und nüßliche Kenntnifje zu erwerben, unferen 
Geiſt befier auszubilden: dann geben wir auch mit ben Kräfs 
ten unferes Verſtandes „Bott, was Gottes iſt.“ | 


Alles alfo, was gut ober böfe fl, was und zum Ver⸗ 
dienft, ober zur Schuld ift, hängt allein ab von bem Gebrauch 
ober Mißbrauch unſeres freien Willens; haͤngt allein davon 
ab, daß wir unſeren freien Willen nach der Anordnung Got⸗ 
tes anwenden, unſeren Willen dem Willen Gottes unterwer⸗ 
fen und hingeben. In dieſer Unterwerfung wird, wie J. E. 
ſagt, die Wahrheit uns frei machen, und die wahre Freiheit 
geben. 





— m — 

Darum bewährt ſich denn der freie Wille in fefler, ſtand⸗ 
bafter Entfchlofienheit gegen alle Sünde, gegen allen Reiz, 
gegen alle Verfuhung zur Sünde. „Das will. Gott, daß. 
will Sott nicht; was Sott will, will auch ich; was Gott 
nicht will, will auch ich nicht;“ dieſes ift ihm felne unwans 
delbare Regel und Richtſchnur in allen feinen Entichließungen, 
Begierden, Wünfchen und Gefinnungen. Nur in einer füls 
hen Entichloffenheit des Willens. hat wahre Ruhe und wahre 
Tugend ihren feften Grund; erfährt ed ein Jeder, was I. C. 
fagt, daß „dad Reich Gottes, dad Himmelreich in uns ſey.“ 
Nur eine foldhe Sefinnung gibt fichere Vorbereitung zum Tode, 
gibt ruhige Erwartung des Todes, gibt Ruhe im Tode. Auch 
unſer Leben ift des Herrn, wie Alles, was wir unfer nennen. 
Wenn dann bereinft der Herr unfer Leben von und fordert: 
dann geben wir’s Ihm hin mit freier Unterwerfung unſeres 
Willens, wie 3. €. Sein Leben freiwillig bahin gab; dann 
koͤnnen wir mit dem Apoftel Paulus fagen: „Lebe ich, fo lebe 
ich dem Herrn; flerbe ich, ſo flerbe ich dem Herrn; lebe ich 
oder ſterbe ich, ſo bin jo bes Herrn.“ Amen. 


. 
D 


Zwei und zwanzigſte Rede, 
Erſte Rede am vier und zwanzigften Sonntage 
nach dem Zelte der h. Dreifaltigkeit, 





Lert: 

Die Berufung des Matthäus: bie Auferweckung der 
Tochter des Jairus. — Watth. 9, 9-26. Mark. 
2, 14—22. Mail. 5, 22 — 43. euk. 5, — 
30. ul, 8, 41—56. 


Shema: 
Bom Vertrauen auf Sefum chrittun. 


| Di großen, wundervollen Begebenheiten des heutigen Evan- 
geliums flehen in Verbindung mit einer anderen, welche ben- 
ſelben unmittelbar vorherging, auf welche wir daher zuerſt un- 
fere Aufmerkſamkeit richten wollen. Es ift die Berufung des 
Evangeliſten Matthäus zur Nachfolge, zur Süngerfchaft, welche 
dem. Herrn die Veranlaflung gab, bei einem Gaftmahl, zu 
welchem der Neuberufene Ihn einlud, Iehrreiche Ausfprüche zu 
thun, wichtige Lehren zu geben. Matthäus feheint Einer ber 
letztberufenen Jünger geweſen zu feyn, weil wir bei feinem 
Gaſtmahl andere Jünger mit zu Tifche finden. Der Herr bes 
rief einen Jeden zur rechten Beit, nämlich) zu der Zeit, da Er 
wußte, daß fie Ihm folgen würden. Und damit die göttliche 
Macht Seined Rufs defto mehr offenbar würde, berief Er die 
jenigen, deren Berufung und befannt geworden ift, "gerade zu 
der Zeit, da fie mit ihrem zeitlichen Gewerbe befchäftiget wa- 
ren; die Fifcher berief Er beim Sifchen, den Matthäus von der 
Zollbank; den Paulus berief Er in Mitte feiner Verfolgung 
der Gläubigen. Bid dahin hatte er bloß Männer aus dem 
gemeinften Stande, die eine zwar geringe, aber doch ehrliche, - 
wenigftend nicht verhafjete Handthierung getrieben, berufen ; 





einen Zöllner aber gab es noch nicht unter der Juͤngerſchaft. 
Die Zöllner flanden bei den Juden in allgemeiner Verachtung, 
weit fie bloß zeitlichen Gewinnſtes wegen fo weit fi) wegge 
worfen hatten, mit den beibnifchen Römern in nahe Verbin⸗ 
dung zu treten, von felben bie Zölle gepachtet, und die Steu⸗ 
ern beizutreiben hatten, deren Entrichtung fchon gewiffermaßen 
als geſetzwidrig angefehen wurbe, durch Umgang mit Heiden 
allerhand gefeßwidrige Verunreinigungen befländig fich zuzogen, 
deren Gewerbe felbft zu allerhand Bedruͤckungen und Ungerech⸗ 
tigkeiten befländig Anlaß.gab; fo, daß eben deßwegen ihr Ges 
werbe als ehrlos angefehen wurde, und Zöllner und öffentliche 
Sünder für gleichbedeutend gehalten wurden. Aus einer folchen 
verachteten Menfchenktaffe wählte Sich der Herr einen Jünger, 
einen Apoftel, einen Evangeliften. Aus biefer verachteten Men: 
ſchenklaſſe Iernen wir zwei Männer kennen, die durch eine Ge= - 
_ finnung, ‘welche der herrfchenden Geſinnung ihre Gewerbes 

gerade entgegen gefekt war, durch Neblichkeit und durch Unei⸗ 
gennügigkeit ſich auszeichnen, lernen wir ben Matthäus und 
Zachaͤus kennen, lernen wir in ihnen bie fiegreiche Macht des 
göttlihen Worts kennen. Das fol und lehren, Niemanben, 
weß Standes und Gewerbes er feyn möge, zu verachten, über 
Niemanden ein vworeiliges, hartes Urtheil zu fällen; "das foll 
und antreiben, dem göttlichen Worte, welches eine folhe Macht 
beweiſet auch über die Herzen derjenigen, die am meiſten ents 
fernt zu feyn fcheinen, mit deſto mehr Vertrauen und hinzuges 
ben, und jebem Rufe des Herm mit befto mehr Bereitwilligkeit 
zu folgen. 


L | 
Matthäus hatte, um an ben Herm und an Seine Lehre 

zu glauben, feines zeitlichen Gewerbed wegen weit mehrere 
Dinderniffe, ald die anderen Ilinger, deren einige ald Jünger 
bed Sohanned fchon mehr vorbereitet waren, zu uͤberwinden. 
Darum geſchah ed, daß der Herr ihn erft fpater berief, ba ber 

Ruf von Seinen Wundern und Lehren dem Zöllner, der mit 

ſo vielen Menfchen täglich im Verkehr fand, gewiß nicht un⸗ 


| — 30 — 
bekannt geblieben wer, So war er zum Glauben ſchon vorbe⸗ 
zeitet, und getrauete fich wahrfcheintich nicht, feined verachteten 
Gewerbes wegen, dem Heren ſich zu. nähern, vor Dem felbfl 
die fo fehr geachteten Pharifäer nicht zein genug waren. Der: 
jenige, Dee die Herzen durchforſcht, und in die Geheimniſſe 
eines Jeden ſiehet, wußte, was in feinem Herzen war, und 
berief ihn. Mit ganz einfachen Worten erzählt er ſelbſt dieſen 
Kuf. „Und ba Jeſus von da weiter ging, ſah Er einen Men⸗ 
ſchen figen im Bollhaufe, der Matthäus hieß. Und Er fprach 
zu ihm: Folge Mir nah! Und er fland auf, und folgte Ihm.“ 
Matth. 9, 9 „Richt ihr habet Mic erwählet, fprach ber He, 
: fondern Ich babe euch erwählet. Wer aus der Wahrheit iſt, der 
böret Deine Stimme.” Die früher berufenen Fiſcher kehrten 
:anfangs nach ihrem Gewerbe zuruͤck, weil daflelbe ein für bie 
Sitten nicht gefährliches, weil es ein ehrliches Gewerbe war. 
„Matthäus verließ alſobald und für immer Zollhaus und Ges 
winn, weil er wohl einfah, daß fein Gewerbe, welches ihn ben’ 
ganzen Ta 08 an die Zollbank feflelte,. mit ber Nachfolge bed 
Herrn um: deſto weniger verträglich war, ba bad Gewerbe felbft 
feinen Sinn nur auf dad Zeitliche richtete, und zu manden 
Ungerechtigkeiten Anlaß gab. Matthäus folgte nach, zu Allem 
bereit, alfobald von allem Irdiſchen Losgeriffen, und legte durch 
‚feinen vollfummenen Gehorfam an den Tag, daß 3. E. ihn 
zur vechten Zeit berufen hatte. Died ift ber Mann, dem wir 
das erſte unferer heiligen Evangelien verdanken. 

O wie oft vernehmen auch wir in der Stunde ber Prü- 
fung oder der Berfuchung in unferem Gewifien die Stimme 
des Herm: „Bolge Mir nach!" Wenn Unteufchheit uns lodt, 
wenn wir nach erlittener Beleidigung zur Rache und gereizt 
fühlen, wenn eine Gelegenheit fich barbietet, insgeheim und 
ohne Gefahr, aber auf unrechtmäßige Weife und einen Gewinn 
zu verfchaffen; dann fpricht im unferem Gewiſſen Seine 
Stimme: „Wiberftche dem Boͤſen! Folge Mir nah!” O daß 
"wir dann immer fo entfchloffen, wie Matthäus, alfobald von 
Allem, wozu die fündliche Begierde uns auffordert, und losrei⸗ 
Ben und Ihm nachfolgen möchten! 





— BO — 
Matthäus hätte den Ruf zur Juͤngerſchaft des Herrn ges 


wiß.nicht erwartet, Hocherfrent uͤber denfelben wollte er, ehe _ 
er von feinem Hausweſen und von feinem Gewerbe gänzlich 


und auf immer fehied, dem Herrn ein großes Gaſtmahl anflels 
len, zu welchem er auch mehrere von feinen befreundeten Zolls 
beamten einlud. Aus Beſcheidenheit nennt ee fich felbit nicht, 
da er erzählt: „Und ed begab fi, da der Herr im Haufe zu 
Tiſche faß, fiehe, da Fanien viele Zöllner und Sünder, und fie 
faßen mit Ihm zu Tiſche und mit Seinen Iüngern.” Offen 
und aufrihtig nennt der Evangelift ſich und feine Gefährten 
Zöllner und Sünderz und wer kann die innere Ruͤhrung vere 
Tennen in ben Worten: „und fie — die Sünder — faßen mit 
Ihm zu Tiſche und mit Seinen Süngern.” So gültig war 
der Herr, daß Er ihre Gemeinfhaft nicht verfehmähete. Unter 


Sündern — ba iſt der Heiland recht an Seinem Orte, Der da ' 
gekommen ift, bie Sünder zu ſuchen und fellg zu machen... 


Markus und Lukas fagen ausdruͤcklich, Matthäus ſelbſt fey 
es gewefen, der dem Herrn dieſes große Gaſtmahl veranftaltet habe, 

Wo der Heiland war, waren auflauernde Pharifäer und 
Schriftgelehrte gewöhnlich in der Nähe. Diefe hielten es für 
einen Volkslehrer unanftändig, ja fogar verunreinigend, mit fols 


chen allgemein verachteten Menfchen zu fpeifen, mit foldhen vers 


rufenen Menſchen vertraulichen Umgang zu pflegen. Darum 
fprachen fie zu Seinen Züngern, bie etwa bei oder.nacd der 
. Mahlzeit abs und zugehen mochten: „Warum iffet euer Mei⸗ 
ſter mit Zoͤllnern und Sündern? Jeſus hörte das und fprach 


zu ihnen: Die Gefunden bedürfen des Arztes nicht, fondern - 


die Kranken. Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zur Buße 
zu berufen, fondern die Sünder” Die Sünde if Ihm 
Krankheit. Die verrufenften, größten Sünber find von dem 


Augenblid an, da fie zu Ihm fich wenden, von Ihm fich wols 


Ien heilen laffen, Seine-Zreunde, gehören zu Seinen Schafen, 


für welche Er vorzüglihe und befondere Sorge trägt. Er - 


nimmt ihre Krankheiten auf Sich und heilet ihre Gebrechen, 


Um ihretwillen ift Er in die Welt gekommen. „Es iſt ein - 


theures, koͤſtliches Wort, dag J. ©, in die Welt gekommen ift, 


— ⸗ 5302 ” — 


die Sünder fellg zu machen.” „Wendet euch,” ſpricht ber 
Prophet Iſaias, wendet euch zu Ihm von allen Enden ber 
Erde; und euch wird geholfen werben!” I. 45, 22. „Da 
wir Alle,” wie der Apoftel Paulus fagt, „gefündiget haben, 
und der Gnade Gottes bedürfen; Roͤm. 3, 23., fo waren bie 
Gerechten dem Rufe zur Buße ſchon gefolgt, durch die Gnade’ 
Gottes ſchon gerechtfertiget worden; um der Sünde willen ift 
J. €. gekommen, nicht, daß fie Sünder blieben, fondern bekehrt 
und gerettet würden. 

" ‚Mit großem, nachdruckvollem Ernſt ſprach der Herr noch 
zu den Phariſaͤern: „Gehet aber hin, und lernet, was das 
heißt: Ich will Barmherzigkeit und nicht Opfer.“ „Gehet hin, 
und lernet!“ ſprach Er zu denen, die ſich Meiſter in Iſrael zu 
ſeyn duͤnkten: ihr ſeyd noch Schüler und verſteht die Schrift 
nicht; lernet alfo aus diefem göttlichen Ausfpruche ded Pros 
„ pheten Hoſea's, daß Gott ‘an den Außerlihen Gaben fein Wohl 
gefallen habe, wenn fle nicht aus der Liebe. hervorgehen, daß 
die innerliche Liebe allein dad Außerliche Opfer heilige und. Gott 
wohlgefälig mache, daß alfo bamiherzige Liebe gegen Sünder, 
um fie zur Erfenntniß. zu bringen, und auf den Weg bed 
Held zurhdzuführen, wahrer Gottesdienſt ſey. Das hätte auch 
‚der 39fte Pfalm fie.Ichren follen, worin ed heißt: „Schlacht 
und Speifeopfer liebt Du nidt, fo offenbartel Du Mir; 
Brands und Sündopfer begehrt Du nicht. Darum fprach 
Sch: ſiehe! Ich komme; Deinen Willen, o Gott zu thun, iſt 
Meine Luft, Dein Gefeh wohnt in Meinem Herzen.” Pf. 39. 
Nicht fo leicht aber ließen die Pharifäer fich abmeifen, fie 
gefelleten fich zu einigen da ſtehenden Juͤngern ded Johannes, 
die in fo fern mit den Pharifäern einige Aehnlichkeit hatten, 
daß auch fie nach der Anweifung ihres Meifters fehr viel auf 
Außerliche Bußuͤbungen, auf flrenges Faſten hielten, jedoch dar⸗ 
in ſich unterfchleden, daß fie-dad wirklich übten, was fie lehrten; 
da die Pharifäer hingegen, wie 3. €, ihnen den Vorwurf 
macht, den Menfchen unerträgliche Buͤrden auflegten, bie fie 
feibft mit Feinem Finger berührten. Diefe ſtrengen Büßer, bie 
Johannesjuͤnger, fahen nun zu ihrem großen Nergerniß den 





. — 
— 308 — 


Herrn mit Seinen Juimgern bei einem großen Gaſtmahl im 
Haufe eined Zölinerd in Mitte mehrerer öffentlihen Sünder. 
Leicht: Ließen ſich alfo diefe von den Pharifaern zu der Frage 
verleiten: „Warum faften wir und die Pharifäer jo viel (naͤm⸗ 
‚ ch fo oft außer den geſetzlichen Fafttagen), Deine Sünger aber 
faften nicht?" oder, wie ed beim Evangeliften Lukas heißt: 
„Deine Juͤnger effen und trinken?“ Die Pharifäer, von denen 
diefe Frage eigentlich berrührte, hatten gewiß erwartet, ber 
Here würde, um Seiner fo eben gegebenen Antwort nicht zu 
widerfprechen, die Lehren und Vorſchriften des Johannes vers 
werfen, und dann wuͤrde Er, da Er den Johannes fo hoch ers 
hoben hatte, mit Sich Selber in Widerfpruch und beim Volke 
in Verdacht kommen. Es war alfo eine fehr verfängliche Frage, 
die fie an Ihn flellen ließen. Der Here gab aber eine Ants 
wort, die fie gar nicht” erwarten Tonnten, eine Antwort voll 
Weisheit und Liebe, auch für und. — Faften war ein Beichen 
ber. Trauer, insbefondere der Bußtrauer. Der Herr gab die 
Antwort: „Können die Genoſſen ded Bräutigamd Leid tragen, 
fo lange der Bräutigam bei ihnen iſt?“ So Iange bie Hochs 
zeit dauerte, waren bie Gäfte auch nicht einmal an bad geſetz⸗ 
liche Faſten gebunden. Die Iohannesjünger mußten fi an bie 
Worte erinnern, die ihr Meifter, auf den Herrn deutend, ches 
mals gefprochen hatte: „Wer die Braut hat, der iſt der Bräus 
tigamz der Freund aber ded Braͤutigams ſteht und hört ihm 
zu, und er freuet fich hoch über des Bräutigam Stimme.” 
Joh. 8, 29. „Wenn euer Meifter fo hoch fich erfreuefe, wenn 
er nur Meine Stimme hörte; follten dann Jene fi) nicht ers 
freuen, die befländig bei Mir find, Meine Worte hören, Meine 
Werke fehen, Meine Liebe erfahren? Laſſet fie jetzt, da Ich 
bei ihnen bin, ſich noch erfreuen! „Es werben aber die Tage 
kommen, da ber Bräutigam von ihnen genommen wird; ald- 


dann werben fie faflen,” trauen. So beutete Er fchon jeßt, 


im Anfange Seined Lehramts, bin auf Seinen Tod. „Seht, 
da ſie bei Mir, da fie beftändig unter Meiner Aufficht find, 
bedürfen fie-ded Faſtens und der ſtrengen Bußübungen nicht; 
‚jest mögen fie ſich erfreuen der GSeligfeit Meines Umgangs ; 





. 908 — 

es werden noch die ſchwerſten Beibendtage über fie Tonimen, da 
wird Trauern und Faſten auch an fie kommen.“ Ach, theuers 
fler Heiland! wir haben auch wohl die Seligkeit Deiner Ges 
genwart erfahren in Betrachtung, in Gebet, in der Anbetung, 
in der Empfahung des h. Sakraments; durch eigene Schuld 
verlieren wir biefe Seligfeit fo bald wieder, weil wir unfere 
Freude und Seligkeit in anderen nichtigen Dingen fuchenz fu 
chen unfere Freude in der Entfernung von Dir, da unfer Herz 
doch fo eingerichtet iſt, daß es nur in Dir Ruhe und Freude 
findet. 

Die Johannesjůnger meinten es gut und redlich mit Gott 
und ihrem Gewiſſen, und ſcheueten um ihres ewigen Heils wil⸗ 
‚Yen keine Mühe und Anſtrengung, führten eine ſehr ſtrenge Les 
bendweife: deßwegen gab ihnen der Herr in einigen Gleichniffen 
noch einige wichtige Zebensregein, die ebenfalls für uns, für 
. unfere fittliche Bildung fehr heilſam find. Laffet und Daher 
wohl auf diefe Gleichniffe merken! 

„Niemand flidet auf ein altes Kleid einen Lappen von 
neuem Tuch; denn die Ausbeſſerung reißet mit ſich hin von 
dem Kleide, und der Riß wird aͤrger.“ „Das Stuͤck vom 
neuen ſchicket ſich nicht zu dem alten,” wie der Evangeliſt Lu⸗ 
kas hinzuſetzt. Das alte Kleid iſt abgenutzt, abgetragen, am 
meiſten dort, wo es einer Ausbeſſerung bedarf; wird dazu ein 
Lappen von neuem Tuch gebraucht, welches noch ſteif und dick 
iſt; ſo wird bei dieſer Zuſammenfuͤgung mit dem alten, abge⸗ 
nutzten der Riß nur noch groͤßer werden. Das alte Kleid iſt 
der alte, durch Suͤnde und ſuͤndliche Neigungen abgeſchwaͤchte, 
fuͤr die hoͤhere Tugend abgeſchwaͤchte Menſch. Der Flicken vom 
neuen, ſtarken Tuche ſind ſolche Vorſchriften, welche ſchon auf 
die hoͤhere Tugend und Vollkommenheit abzielen. „Noch,“ 
wollte der Herr ſagen, „noch ſind Meine Juͤnger nicht ſtark 
genug, noch beduͤrfen ſie, die erſt Anfaͤnger ſind auf dem Wege 
des Heils, vieler Nachſicht und Schonung: die ſo beſchaffen 
ſind, darf man im Anfange nicht zu beſchwerliche Gebote auf⸗ 
legen, damit ſie nicht abgeſchreckt und muthlos werden.“ So 
ſprach Derjenige, ſagt der h. Chriſoſtomus, Der Seinen Juͤngern 








« 
Cr 205. rm 
eu. 


Geſetze und Regeln vorfchrieb, damit fie, wenn fie bereinft alle 
Erbbewohner zu Züngern ‚machen würben, diefelben mit Schos 
nung und Nachficht behandeln möchten. So hatte Er den Phas 
tifäern geantwortet, welche auf dad Faſten und auf die äußers 
lichen Bußübungen einen fo hohen Werth ſetzten. 

Dann ſprach Er das zweite Gleihniß: „Man gießet. auch 
nicht jungen Wein in alte Schläuche, fonft zerreißen die Schläus 
che, und der Wein wird verfchättet, und die Schläuche verders 
ben; fondern man gießet jungen Wein in neue Schläude; ſo 
werben beide erhalten.” - Im Morgenlande bediente man fih 
zur Aufbewahrung ded Weins lederner, inmendig verpichter . 
Schläuche, find dieſe Schläuche alt und abgenugt worden, fo 
muͤſſen fie, wenn junger Wein, der noch in Gaͤhrung ift, bins. 
eingefchüttet wird, nothwendig zerreißenz und der Wein geht mit . 
den Schläuchen verloren. Beim Evangeliften Lukas fest ber 
Herr noch hinzu: „Auch ift Niemand, der vom alten Wein. 
trinkt, und wolle bald den neuen; denn er fpricht: der alte ift 
beſſer.“ Der alte Wein ift bier. die alte, fündliche Gewohnheit. E 
- Die Memichen wollen lieber, wie es im Spruͤchwort beißt, 
beim Alten, bei ihrer Gewohnheit bleiben, und laſſen fich nicht 
ſo leicht zur plößlichen Abänderung bewegen; man muß fie 
langlam dazu vorbereiten. „Ich will,“ wollte ber Heiland mit 
diefen .Gleichniffen fagen, „an Meinen Juͤngern nicht fliden, 
nicht an die alten phariſaͤiſchen Grundfähe, die ihnen noch an« 
kleben, Deine. neue göttliche Lehre anfliden. Zuerſt will Ich 
neue ‚Gefäße aus ihnen machen, ehe Ich den neuen Wein hin⸗ 
eingieße: will ſie von Grund aus allmaͤlig reinigen und aus⸗ 
bilden, und fie zur. Empfahung des h. Geifles, duch Welchen, 
ihre ‚Reinigung und Heiligung fol vollendet werben, vorbereiten 
und. fähig machen. 

Sp liegt denn in dieſen Gleichniffen, weiche der. Hear aus 
dem gemeinften häuslichen. Leben, nahm, eine. tiefe Weis heit 
verborgen. Willſt du zur Tugend und Vollkommenheit gelan⸗ 
gen, und Andere dahin fuͤhrenz ſo fange nicht an mit dem 
Hoͤchſten und Schwerſten, ſondern gehe allmaͤlig vom Leichten 
zum Schwerern, vom Niedrigen Sun Höhern, ‚von der Furcht 
RE RHl. ae Aufl. 20 — 





Gottes zu der Hoftnung, von der Hoffnung zur dankbaren 
Liebe, von ber dankbaren Liebe zu ber hoͤchſten, reinen Liebe 
Gottes um Seiner Selbft willen! Erſt muß im Innern des 
Menſchen ein Beduͤrfniß nach beſſerem Sinn und nach göttlis 
cher Hülfe angeregt werben, bamit bie Seele für die Einwir⸗ 
kung ber göttlichen Gnabe empfänglich werde. Es iſt fehr ver- 
derblich, auf ein altes, fündliches Herz einige Aeußerlichkeiten 
von Froͤmmigkeit gleichſam auffieben. Durch bloß aͤußerliche 
Uebungen, die man übernimmt, gleichſam wie ein Kleid, wie 
einen Mantel fi) umhaͤngt, wird der innere Menfch nicht ges 
beilet und gebeſſert. Wenn nicht ba3 ganze Herz des Sünberd 
umgekehrt, von. der Sünde weg zu Gott gewendet iſt; fo if 
das. fcheinbarfte Gute oft nur eitel Flickwerk. Eine neue Krea⸗ 
dus muß ber Menfch werben, ganz umgefchaffen muß der Sinn 
des Suͤnders werden: das ift Lehre und’ Kraft und Geift deö 
Ehriſtenthums. Es gibt Menfchen, die zu gewifier Beit befons 
dere. Gebete: verrichten, zu gewiflen Zeiten eine beſchwerliche 
Wallfahrt übernehmen, zu gewifien Zeiten einer flrengen Faſten 
ſich unterziehen, oder Almoſen geben, und dann glauben, für 
eine Zeitlang genug gethan zu. haben, um in ihrem alten, irdi⸗ 
ſchen Sinne beflo ruhiger fortleben zu koͤnnen, jemehr fie ihr 
Gewiſſen mit dem Geräufche folcher Uebungen übertäubt haben. 
So lange der Grund des Herzens nicht umgefchaffen ift; fo 
bange bie herzliche Liebe Gottes und des Nächten nicht. in das 
Herz gekommen ift; fo Tange iſt alles Faſten, Beten und Als 
mofengeben gar oft nur ein neues Tuch, auf bad Kleid. der 
alten Sünde nur aufgeflickt, wodurch wicht felten mehr verberbt, 
als gut gemacht, des Ri nur noch größer wird. Der Helland 
wollte freilich nicht lehren, daß wir biefe Heilsuͤbungen: Beten, 
Zaſten und Almofengeben, fo lange, bis wir erſt gebeffert feyen, 
ganz unterlaffen follten, ba Er Selbſt ja eben biefe Uebungen 
als. bie wirkſamſten Heilsmittel vorgefchrieben, zu benfelben fo 
oft und. fo dringend ermuntert hat. Recht Beten, recht Faſten, 
recht Almsſengeben, bad ift Fein Flickwerk. Aber nach der 
Weile der Phariſaͤer beten, faflen und Almofengeben, um ihre 
Suͤnden vor den Augen bed Bolts und, wo möglich, vor dem 





— BT — 

Blide ihres eigenen Gewiſſens zu verbergen, das iſt ein Flick 
werk, welches den Riß nur noch groͤßer macht. Wemn du 
auch nicht, wie die Phariſaͤer, bloß aus Verſtellung und Heu⸗ 
chelei ſolche Uebungen verrichteſt: wenn du dir nur bei deinem 
ungeheſſerten Herzen auf ſolche Uebungen etwas einbitdeſt dich 
damit beruhigeſt, genug gethan zu haben glaubſt, dich deßwe⸗ 
gen ſchon für gut haͤltſt: dann find ſolche Uebungen nur eitel 
Flickwerk, find nicht zu deinem Heil, ſondern zu deinem noch 
größeren Verderben. Der Rn wird durch ſolche bebenden © nur 
noch arite. W ... 


UVU. nn 
De Here war in Ertheilung dieſer Lehren ber Weisheit 


und Liebe noch begriffen, als die wunderbar Begebenheitan; - 


die und im heutigen Evangelium erzählt werben, ſich ereigheten. 

Der Evangelift Matthäus, der fo eben berufen. war, . er⸗ 
zählt: „Indem Gr folches zu ihnen redete; fiehe, Aa fan. cin 
Borfteher hinzu, betete Ihn an, und fprach: Herr! meine Toch⸗ 
ter ſtirbt ſchon; komm! lege ihr Deine Hand auf, und ſie wird 
leben.“ Ron bem Evangeliftien Markus wiſſen wir,, daß. dies 
fer Vorficher der Synagoge Jairus bieß; ‚und vom Eyamgelts 
ften Lukas, daß dieſe Tochter feine. einzige, ein Kind von sim: 
zwölf Jahren war. Dieler Jairus war zu. Kapharnaum Vor⸗ 
ſteher der Synagoge, wozu oft Prieſter, wenn fie in der Ges 
gend waren, gewählt wurden. Zu einem foldgn Prieſtar in 
Kapharnaum, welchen Markus ſogar Hoheprieſter nennt, hatte 
der Herr einſt einen geheilten Ausſaͤtzigen geſchickt, um ſich als 
rein erklaͤren zu. laſſen. Marl. 4, 41... Wenn dieſer Prie⸗ 
ſter, wie wahrſcheinlich iſt, der naͤmliche Jairus war:. fo hafte 
des Anblid des Geheilten ihn zum. Glauben ‚nad Pertraus 
auf ben Heiland ſchon vorbereitet. | 

‚Sehne fland auf, und Er folgte ibm. und Sein —X 
Eine große Menge Volks folgte Ihm nach; und. fie ‚Ardmgsen- 
Ihn.“ Aber des Herr wollte den Glauben- dieſes Manneg- er 
noch pruͤfen, um ihn deſis mehr zu befeſtigen; wollte «3 ihm 
durch die That ſelbſt zeigen, daß. Ex nicht.ume die Macht habe, 
20* 





— 08° 


Kranke zu hellen, fondern auch fehon Geſtorbene zum Schen zu 
erweden, um ihn zu dem. Glauben zu führen, daß Er ber ver⸗ 
heißene, von Gott gefandte Meffiad und Sohn Gottes Selbft 
fey. AS fie auf dem Wege find, entfteht ein Aufenthalt. Der 
Heiland fteht ſtill, und frägt mit einigem Ernft: „Wer hat 
Mein Gewand angeruͤhrt?“ Befremdet und verwundert uͤber 
dieſe dem Anſcheine nach ſonderbare Frage, ſprach Petrus und 
die bei ihm waren: „Meiſter! das Volk drängt und druͤckt 
Di, und Du ſprichſt: Wer hat Mich angeruͤhrt?“ Wir fes 
ben hieraus, wie vertraulich man mit unferm Heilande, mit 
dem Schöpfer Himmeld und der Erbe, umgehen durfte, - wie 
DaB ungeftüme Bolt fo gar Feine Rüdfiht auf Ihn nahm, umd 
Ihm einen jeden Schritt Weges erfchwerte, und wie Er das 
Alles mit der größten Geduld ertrug, um nicht nur Jene, fons 
bern auch und Alle, die das hören oder leſen würben, burch 
Liebe an Sich zu ziehen. Da lernen wir in Wahrheit von 
Ihm Geduld und Sanftmutd, und die Macht der. Sich Selbft 
aufopfernbern- Liche. Der Heiland hatte fchon zuvor die Ges 
danken der Franken Frau, die Sein Kleid berührt hatte, ver⸗ 
nommen, ohne daß fie zu den Worten wurden: „wenn ih nur 
Sein Gewand anrühre, werde ich geheilt;“ hatte in ihrem Her⸗ 
zen das Vertrauen gelefen, womit fie durch dad Volk zu Ihm 
ſich hindurchgedraͤngt hatte, hatte gefehen, wie fie hinter Sei- 
nem Rüden Sein Kleid berührte, und ed war Ihm nicht ver⸗ 
borgen, daß. Er durch bloße Aeußerung Seine Willens bie 
Frau geheilt, ihr Vertrauen belohnt hatte. . So ift Ihm nichts 

verborgen, was auch nur in unferm Herzen vorgeht, und eine 
rede Regung unferd Herzens zu Ihm hinauf wird von Ihm 
mit Liebe aufgenommen. Freilich hatten,, wie Petrus fprach, 
Viele Ihn berührt; aber nur Eine hatte Ihn berührt im Vers 
trauen; dieſes Vertrauen fah und belohnte Er mit Seiner 
Gnade. So berühren Ihn Alle, die Ihn im h. Sakrament 
enpfangens aber nur diejenigen, die Ihn berühren im Ver⸗ 
trauen, bürfen auf Seine Gnabe hoffen. Aus natürlicher 
Schüchternheit hatte die Frau fich gefcheuet, Öffentlich vor Ihr 
binpuireten, und ihre heimliche Sientheit vor ſo vielem Volk 





ı 
u ’ 209 LU) 
. 


bekannt ‘zu machen, und zwar um befto mehr, weil ihre Krank⸗ 
heit zu den unreinen gerechnet wurde, fo daß ein Jeder, ber 
eine ſolche Kranke berührte, gefelich verunreiniget wurde. Ihr 
Vertrauen war fo groß, daß fie glaubte, eine mündliche Bitte 
fey nicht einmal nothwendig, und dad Beruͤhren Seined Kleis 
bed fey fchon hinlänglich, um ihre Gefundheit wieder zu erhal- 
ten. Und ihe Vertrauen wurbe belohnt; in dem Yugenblid, 
ba fie von hinten her ganz Teile mit dem Singer nur ben Aus 
Berften Saum Seined Kleides berührt hatte, fühlte fie fich ger 
heilt. Daß fie in ihrem Herzen alfobalb ihrem Wohlthaͤter 
wird gedankt haben: wer koͤnnte daran zweifeln? Deffentlich 
dem Herrn zu danken, mochte die Scham wegen ihrer verun⸗ 
reinigenden Krankheit, worin fie den Herrn berührt hatte, fie 
zurüdhalten. Sie mochte bei fich felbft denken: „Der mein 
verborgened Gebet gehört und erhört, hat, wird auch meinen 
ſtillen, herzlichen Danf verfichen umd gnadig annehmen.” Es 
war aber des Herın Wille, daß bdiefe wunderbare Heilung, 
welche Er ohne alles Außerliche Zeichen gewirkt, nicht verbor- 
gen bleiben follfe, damit ihr Glaube und ihr Vertrauen Allen, 
befonderd dem Jairus, und auch und zur Ermunterung dienen 
folte. WS der Here nun jene Frage that: „Wer hat Mid) 
angeruͤhrt?“ und Petrus mit ben ZJüngern jene Antwort gab, 
und ald die Frau, die noch, hinter dem Ruͤcken des Herrn ftand, 
ſah, wie ber Herr umbherfchauete, die zu ſehen, welche es ges 
than, welche Ihn berührt hatte: da fürchtete fich die Frau und 
zitterte, fie wußte, was an ihr gefchehen war; und fie Fam, 
fiel vor Ihm nieder, und fagte Ihm die ganze - Wahrheit. 
Diefe Furcht iſt dem Menfchen ganz natürlih, auch bei dem 
Anbli der. wohlthätigen Wunder; diefe Furcht entfleht aus der 
Erfenntniß einer übernatürlichen Kraft, bie fih bier fo wirf- 
fam zeigt, aus der Erkenntniß der Nähe und durch die That 
fi) Außernden Gegenwart des Sohnes Gottes, und der Größe 
Seiner Macht. Wo Gott fo nahe und fo mächtig Sich zeigt, 
und der Menkh fo klein und fo abhängig. fich fühlt: da iſt 
durcht und Zittern ganz natuͤrlich. Zu den. Fuͤßen J. C. er⸗ 

zaͤhlt nun die Frau es, n was ſie während ihrer zofiäbrigen 





30 — 


Runde 6 hatte leiden mirffen, wie fie, um ihre Geſundheit 
wieder zu erhalten, ihr ganzes Vermoͤgen den Aerzten hingege⸗ 
ben hatte, wie fie von Ihm gehört, Vertrauen auf Seine hoͤ⸗ 
here Hülfe gefaffet, und was fie beim Hingehen bei ſich felbft 
gedacht und geiprochen hatte. Cine fo gute Seele, die fo voll 
Einfalt und Bertrauen war, wollte der Helland nicht ohne ein 
tröftendes Wort entlaffen. Liebreich blidte Er fie an, und ſprach 
zu ihr: „Sey getroſt, meine Tochter! dein Glaube hat dir ge⸗ 
holfen; gehe hin im Frieden, und ſey geſund von deiner Pla⸗ 
ge!“ Dieſer freundliche Blick, dieſes troͤſtende Wort waren ihr 
wohl noch mehr, als die Wohlthat ſelbſt. Jetzt erſt ging ſie 
vollkommen erfreut und getroͤſtet nach Hauſe. Haͤtte dieſe Frau 
nicht geachtet auf die wohlthaͤtigen Wunder J. C., haͤtte ſie 
dieſelben bloß als natuͤrliche Ereigniſſe angeſehen; hatte ſie, wie 
bei Seinem Anblick der Gedanke, bei Ihm Hälfe zu ſuchen, in 
ihr rege wurde, in vernünftelnder Selbſtklugheit bei fich bes 
dacht: „Du Thoͤrinn! was wird dir die Berührung Geines 
Kleided heifen Finnen? gib dad nur auf und ertrage mit Ges 
buld, was nicht zu ändern iſt!“ Diefed Selbſtgeſpraͤch wuͤrde 
fie wahrlich nicht zu 3. C. geführt, ihr Feine Hülfe verſchafft 
haben. Ihr Vertrauen auf Ihn war von höherer Art, war 
von Ihm Selbft angeregt, unb würbe von Ihm belohnt: ihr 
Vertrauen wankte nicht und täufchte nicht, war für uns ein 
hoͤchſt ermunterndes Beiſpiel zum Vertrauen. D wie viele taus 
fend und taufend Kranke und Leidende hat bad Vertrauen Dies 
fer Frau zu 3. €. geführt! wie Vielen hat es bie wirkliche 
Heilung verfihafft! wie Vielen bat ed eine flärfende und lin⸗ 
dernde Gnade in geduldiger Ertragung der Leiden erworben, 
und ihnen dadurch dieſe Leiden zum Verdienſte gemacht! wie 
Biele taufend und taufende an der. Seele kranke Sünder hat 
ed zu 3. ©. geführt, und ihnen Vergebung und Gnade und 
Rettung und Heiligung erworben! Und diefe Hülfe ift für 
‚und noch immer da, der von Ihm audgehende Strom Seiner 
Heilkraft, ber. in ber unverfiegbaren Quelfe Seiner Wunden 
eröffnet iſt, fließt noch immer, und verfi iegt nimmer. Wer im 
Vertrauen zu Ihm kommt, findet ganz gewiß Hülfe, und zwar 


- 


jene Hülfe, die für ihn bie befte if, Keine Noth IR für ben 
Heiland zu groß, aus welcher Er nicht reiten kann und will, 
bad bat und bie Heilung biefer Frau gelehrt, das lehrt uns 
noch mehr die Erweckung der Tochter des Jairus vom Tode. 
Wir kehren jetzt zu dieſem bekuͤmmerten Vater zuruͤck! 


III. 

In welche peinliche Beklemmung mußte dieſer Mann, dem 
nichts fo ſehr am Herzen lag, als die ſchleunigſte Eile, gera⸗ 
then, ald 3. C. durch das Ereigniß mit jener Frau eine ges 
wiß nicht geringe Zeit aufgehalten wurde! aber wie mußte doch 
der Anblick dieſes neuen Wunder fein Vertrauen heben, und 
ihm den Troſt geben: „Wer diefe feit 12 Jahren unheilbare 
Kranke fo. leicht und ſchnell heilen konnte, wird auch meine 
12jährige Franke Zochter noth heilen koͤnnen!“ Aber fein Vers 
trauen follte, che es belohnt wurde, vorher noch durch eine. 
viel ſchwerere Prüfung befeftiget werben. Noch war ber Hei⸗ 
land im Gefpräche mit der Frau begriffen, als einige von bet 
Dienerichaft. des Jairus durch das Gebränge herbei kommen, 
und zu ihm fprechen: „Deine Tochter iſt ſchon geflorben: was 
beſchwerſt du ferner den Meiſter?“ Diefe Worte waren wie 
ein Donnerfchlag für den befümmerten Vater. Ganz betäubt 
ftand er da, ohne Troſt und ohne Hoffnung, weil ber Heiland’ 
von Seiner Macht, Zodte zu erweden, noch Fein Beilpiel ge= 
geben hatte. Wie wurde er aber getröftet und im Vertrauen 
geftärkt, als der Heiland mit Zuverficht zu ihm ſprach: „Fuͤrchte 
dich nicht; glaube nur! und ſie wird gerettet werben,” unb 
Sich num eilends mit ihm auf den Weg machte! So verzage 
denn nicht, o Chriſt! bei deinen äußeren oder inneren Leiden 
und Nöthen, wenn dein Vertrauen nicht fogleich belohnt wird, 
wenn auch alle Hülfe gänzlich zu entſchwinden ſcheint! Wo 
die Noth am größten if, und alle Hülfe am. entfernteften 
Scheint, da iſt Gottes Hülfe oft am nächften. 

Der Heiland nahm nur Seine brei vertrauteften Juͤnger, 
Petrus, Johannes und Jakobus mit Sich, und fie famen in 
dad Haus des Jairus, worin ed fhon ganz, wie in einem , 


" Yu. 
U) v m 


Sterbehauſe ausſahe. Schon würben nach jüdifcher Sitte” bie 
Trauerfloͤten geblafen, und die Klageweiber fangen ihre Tod⸗ 
tenlieder, und dad Haus war mit Menfchen angefüllet, die laut 
weinten ımd heulten. Der Heiland gebot Stille und. ſprach: 
„Bad lärmet und weinet ihr? das Kind, ift nicht geftorben, 


8 fhläft nur.” Und fie verlachfen Ihn, da fie ficher wußten, 


daß das Kind wirklich todt ſey, und den hohen Sinn Seined 
Woortes nicht verflanden. Mit Ernft und Würde gebot Er 
dieſen Leuten, ſich zw entfernen, und ging dann mit den El⸗ 
tern bed Kinded und den drei Jüngern in die Kammer, worin 
die Leiche lag. M. 3.1 ihr habet wohl: ſchon den Leichnam 
eures eigenen Kindes geſehen, das noch vor Kurzem ſo ſchoͤn 
bluͤhete. Noch koͤnnt ihr's euch ganz lebhaft vorſtellen, wie der 
Leichnam ſo blaß ausſah, wie ſtill und ſtumm er da lag, und 
wie es euch dabei ſo ſchauerlich wurde. Ihr koͤnnt es alſo 
euch leicht vorſtellen, wie es euch in dieſer ſtillen Todtenkam⸗ 
mer wuͤrde zu Muthe geweſen ſeyn, koͤnnt unſeren Heiland 
leicht in Gedanken dahin begleiten. Er tritt hin zu dem Leich⸗ 
nam: Vater und Mutter ſtehen Ihm zur Seite, und bliden 
mit zerriffenem Herzen dann auf ihr todtes Kind, dann 
auf Ihn, können kaum noch hoffen; "eben fo bliden die Juͤn⸗ 
ger. voll. Erwartung bald auf ihren Meiſter, bald auf den 
Leichnam. 

„Und Er. nimmt das Maͤgdlein bei der Hand, und ſpricht 
zu ihr: Talithaſ kumi! das heißt in unferer Sprache: Maͤgd⸗ 
lein! Ich ſage dir: Stehe auf! Und ihr Geiſt kehrte zuruͤck, 
und ſie ſtand alſobald auf, und wandelte. Und ſie erſtaunten 
gewaltig.” Aeltern, Vaͤter, Mütter, die ihr ſchon mit ſchwe⸗ 
rem Herzen bei dem Sterbebette eines geliebten Kindes flans 
bet, : bei jedem ſchweren Athemzug des Eleinen mit dem Tode 
ringenden Lieblings eine unbefchreibliche Angft empfandet, bis 
endlich der letzte Fam, und die Angſt in einem Herz zerreißens 
ben Schmerz verwandelte: ihr Fönnt am Iebhafteften den Schrei 
Ten euch vorftellen, der Alle überfiel, ald das Kind fich regte, 
aufftand, umherging, am tiefften mitfühlen die Freude der Ael- 
tern , ihr geftorbened Kind wieder lebendig zu fehen; das Ent—⸗ 








— . BB — 


zuͤcken, mit dem fie-in die Maren, vor einem Augenblick noch er⸗ 
Iofchenen: Augen ſahen; bie Wonne, womit fie die Worte: „Va⸗ 
ter, Mutter!” nun wieder von ben Lippen vernahmen, bie fie 
für immer verflummt glaubten. Die Trauerkammer war vers ' 
wanbelt in einen Vorhof des Himmeld, erfuͤllt mit wahrer, 
himmliſcher Freude ‚und Seligkeit. Als nun der erſte Jubel 
ſich gelegt hatte, Alle auf den großen Wunderthaͤter blickten, 
und in Dankſagung und Lobpreiſung gegen Ihn ſich ergoſſen: 
da ſtand Er da in Seiner ſtillen Größe, und. ſagte, als wenn 
nichts Außerordentliches vorgefallen waͤre: man ſolle dem Kinde 
jetzt zu eſſen geben: ein bedeutendes Wort, nicht nur eine ruͤh⸗ 
rende Aeußerung Seiner menſchlichen Theilnahme, ſondern auch 
ein Beweis, daß das Kind jetzt vollkommen geneſen ſey. Welch 
ein Beweis Seiner goͤttlichen Allmacht und Seiner menſchlichen 
Theilnahme iſt dieſe Begebenheit! Nicht wie Moſes und die 
Propheten ſpricht Er: „im Namen Gottes;“ nicht wie die Apo⸗ 
fiel fpricht Er: „im Namen 3. C.;“ in Seinem eigenen Nas 
men fpricht Er, der Herr der Todten und Lebendigen: „Ich 
fage bir: flehe auf!" Sein Wort ift Leben: die Todte wurde 
lebendig; Sein Wort, Sein Wollen ift ein urplögliches Wire 
ken; alfobald, fogleich fand das Mägdlein wieder auf; Sein 
Wirken ift ein vollendended Wirken; das Maͤgdlein wandelte bloß 
durch Seine. Kraft, nicht durch die Speife: “fie wanbelte, ehe 
man ihr zu eſſen gab: daß fie wieder Speife genießen Eonnte, 
und zu genießen verlangte, war ein Beweis ihrer vollkomme⸗ 
nen Geneſung. 

Wahrhaftig! unſer Herr J. C. iſt ein Ueberwinder bes 
Todes: Sein Wort iſt Geiſt und Leben. Wir erblicken in Ihm 
einen theilnehmenden Allmaͤchtigen, Dem Tod nicht Tod, ſon⸗ 
dern ſanfter Schlummer iſt; Der dad wirklich Todte mit Wahr⸗ 
heit nur ſchlafend nennt, weil vor Ihm, dem Todtenerwecker, 
der Tod nur Schlummer iſt. Wie groß und anbetungswuͤrdig 
erſcheint J. C. in dieſen beiden Begebenheiten in Seiner goͤtt⸗ 
lichen Hoheit! Und wie ſchoͤn und nachahmungswuͤrdig iſt die 
fanfte, theilnehmende Menſchlichkeit, womit Er handelt! Soll⸗ 
ten :wir.Ihm nicht ganz vertrauen, Ihm nicht unfer ganzes 


— 14 — 
Herz ſchenken, Der die Macht Hat, ans der groͤßten Noth heis 


fen zu Binnen, und den Willen, helfen zu wollen? Der 


dad Größte thut und dad Kleinfte nicht unbeachtet laͤßt, Der 
das tobte Kind zum Leben erwedt, und dann liebreich dafür 
forgt, daB das bungernde Kind gefpelfet wird! Sollten wir 
nicht dad größte Vertrauen auf Ihn fesen, um durch Ihn aus 
den größten aller Nöthen, aus den Nöthen unferer Seele, aus 
unferen Sünden, unferen fündlihen Begierden und Neigungen, 
die und gefangen halten, geholfen zu werden, da wir durch 
den Glauben belchrt find, daß ein ſolches Vertrauen immer 
und ohne Ausnahme von Ihm belohnt wird? Wenn das Bes 
rühren Seines Kleides binlängli war, um eine unheilbare 
Kranke zu heilen: was dürfen wir nicht zur Hellung unſerer 
Seele von Ihm erwarten, da wir nicht ben Saum Geine 
Kleides ‚berühren, fondern Ihn Selbſt, in Seiner Gottheit und 
Menichheit in das Innerſte nunferer Seele aufnehmen? Wie 
aber jene Kranke nicht durch ‚die Beruͤhrung, fondern durch ihr 
Vertrauen geheilt wurde: fo auch wir nicht durch den Empfang, 
fondern allein durch dad Wertrauen, und burd die Yingebung, 
womit wir Ihn empfangen. 

Und mit welcher Ruhe koͤnnen wir nun im. Andenten an 
bie legte Begebenheit bed heutigen Evangeliums auf den Xob 
biiden! An der Leiche eined holden, unfchuldigen Kindes lehrt 
und J. C.: „Wir follen den Tod nur als einen fanften Schlaf 
und Shn ald Denjenigen betrachten, Der uns von biefem Schlafe 
wieder auferweden wird.“ Der Schlaf ein Bild des Todes: 
wahrlich ein liebliches Bild, Fein Muͤder fürchtet fich vor dem 
Schlafe: das Einfchlafen ift ihm füß und erquidend. So ers 
quidend und erfreulich ifl dem, der ein gutes Gewillen bat, 
der Rod. Im Schlafe fehen und ‚hören wir nicht, find wir 
eine Zeitlang gleihfam wie todt, um wieder neu aufzuleben. 


So führt auch der tiefere Schlaf, ber Tod, zu einem neuen, 


höheren Leben. Wie. freudig ift ſchon das Erwachen nach einem 


erquidenden Schlafe! So, ja noch unenblich erfreulicher, wird 


unfer Erwachen feyn, wenn wir einft von 3. C. aus bem 


Schlafe des Todes gewedt werden, um zu einem ewigen Les 





. bein aufzuerfichen. O, wie verliert der Teb für den, der m: 
3. ©. glaubt, alles Furchtbare und Schrediichel „Tod! wo 
ift dein Sieg, dein Stachel?” ruft der Ghrift aus im lebendi⸗ 
gen Slauben an J. C., Der Selbſt von ven Todten auferfiane 
den ifl, um und unfere eigene Auferfichung zu verjichern. 
„Gedankt fey Gott, der und den Gig gegeben hat durch uns 
fern Ham 3. ©! Amen, 





Drei und. zwanzigfte Rede, 
Zweite Rede am vier und zwanzigften Sonntage 
nach dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 





Zert: 


Zeſus exweckt die Zochter des Jairus. Matth. 9, 18_2. 


JIhema: 
Ermunterüng zum Vertrauen. 


us follen wie nad bem heutigen Evangelium an unferems 
Halanb 3. C. mehr bewunderen, bie erflaunendwirdige Wun⸗ 
derkraft, womit Er auf Erben wirkte, den unheilbaren Krank⸗ 
heiten, bem Tode felbft gebot, fo leicht vom Kode, wie vom _ 
Schlafe erweckte, jene Kraft, womit Er ald Gott unter ben 
Menfchen einherging; oder Seine herablaffende, theilnchmende 
Menschlichkeit, womit Er unter den Menfihen, wie unter Seis 
nen. Brüdern wandelte, auf bie vertraulüchfle Art mit ihnen 
umging, fo daß Er fogar von ihnen Sich drüden und dräns 
gen ließ? Eine folche göttliche Kraft in einem dem Anſcheine 
nach fo gewöhnlichen, gemeinen Menfchen! und dieſer Menſch 
ift fo vol von theilnehmender Milde, von fo berzlicher Liebe, 
daB Jedermann, auch der Geringfte, ohne alle Bedenklichkeit mit 
Vertrauen Ihm ſich nahen darf. Und ein folched Vertrauen, 





— 16 — 


. wie war es Ihm.inmer fo lieb, und wurde ſtets mit gewiſſer 
SHuͤlfe belohnt! So wie Ihm Feine Noth zu groß war, woraus 
Ex nicht helfen konnte; fo war Ihm auch nie ein Vertrauen 
zu groß: ein zu geringes Vertrauen tabelte Er, das größte er⸗ 
ob Er mit den größten Lobſpruͤchen. 
Und ein ſolches, ein gleiches, das groͤßte Vertrauen fordert 
Er auch jetzt von uns, ſoll uns durch Ihn geholfen werden; 
und durch welchen kann und geholfen werben, als allein durch 
Ihn? Nicht von der Huͤlfe in leiblicher, zeitlicher Noth, in 
Krankheiten, oder in vielen anderen Uebeln und Unfällen die⸗ 
ſes Lebens fol heute die Rebe feyn. Alle folche Noth, fo groß, 
fo ſchwer und druͤckend fie auch oft feyn mag, ift doch immer 
nur eine geringe, nur eine vorübergehende Noth. Die rechte 
5 Roth, die und druͤckt, die deßwegen oft unheilbar wird, weil 
wir ihren Drud zu fpät fühlen, iſt bie Noth der Sünde. Und 
von bem Drude diefer Noth koͤnnen wir nur buch Ihn bes 
freiet, von der Herrſchaft unſerer ſuͤndlichen Begierden und 
Neigungen koͤnnen wir nur durch Ihn erloͤſet werden. J. C. 
iſt nicht nur unſer Lehrer, nicht nur unſer Beiſpiel: Er iſt auch 
unſer Erloͤſer: und dazu iſt Er als Menſch auf Erden erſchie⸗ 
nen, um uns von der Herrſchaft der Suͤnde zu erloͤſen, und 
frei zu machen. Was ſoll uns Seine Lehre, ſo vortrefflich ſie 
auch iſt, wenn es uns an Kraft gebricht, ſie zu erfuͤllen? was 
ſoll uns Sein Beiſpiel, ſo vollkommen es ·auch iſt, wenn wir 
nicht das Vermoͤgen haben, ihm nachzukommen? Ja, Seine 
Lehre und Sein Beiſpiel wuͤrde uns noch um deſto ungluͤckli⸗ 
cher gemacht haben, wenn uns nicht durch Ihn noch etwas 
Anderes, nicht zugleich die Kraft zu Theil geworden waͤre, 
jene erfuͤllen, dieſem nachfolgen zu koͤnnen. Wir Menſchen be⸗ 
dürfen nicht bloß eines Lehrers, der und zurechtweiſet, was wir 
zu thun haben; nicht bloß eines durch fein Beifpiel und an⸗ 
treibenden Worgängerd; wir -bebürfen am meiften eines Helfers, 
und zwar eines folchen Helfers, der und eine wirkliche Hülfe, 
‚eine wirkliche und gänzlich ‚fehlende Kraft von oben mitbringt, 
bie mächtig genug iſt, und gänzlich von innen zu reinigen, bie 
in und noch lebende Sünde von Grund aud zu tilgen. Und 








— 87 — 


ein folder Helfer in der ‚größten Noth, in der Noth der Suͤnde, 
ift uns in I. €. zu Theil geworden. Durch Seine Kraft, 
- durch die Kraft Seiner Gnade, follen wir von der Sünde ges 
veiniget und befreiet warden. 

- Daß wir eine ſolche Dülfe von Ihm erwarten follen,, iſt 
eine der Grundlehren der ganzen Offenbarung. Denn ſo ſteht 
im Worte Gottes geſchrieben: „durch das Blut J. C. ſind wir 
gereiniget, durch Seinen Tod ſind, wir erloͤſet.“ 

Aber wird dieſe groͤßte aller Gnaden auch einem Jeden zu 
Theil? — Ohne Unterfchied einem Beben, der da glaubt und 
vertrauet: einem Jeden, der es erkennt, baß er noch unter der 
Herrfchaft der Sünde fteht, und der diefe Knechtichaft al6 fein 
größtes, als fein einziges Uebel anfichtz der gern davon befreit 
feyn will, und ed erfennet, daß er durch eigene Kraft fich nicht 
beifen und befreien kann; der da glaubt, daß allein 3. ©. ihn 
befreien Tann, wenn er feinen Willen Ihm hingibt, um durch 
Ihn wirklich befreiet zu werben.. Wir müffen alfo bad Ver⸗ 
langen haben, von der Sünde befreiet zu werden. So lange . 
‚wir Diefed Verlangen nicht haben, fo lange wir in der Sünde 
noch unfere Luft und Freude finden, von ihr nicht los ſeyn 
wollten, Fann und nicht. geholfen werben. So lange wir noch 
gleichgültig find gegen die Suͤnde, und ruhig und forglos in 
der Sünde forttreiben laſſen, kann uns nicht geholfen werben. _ 
Das Verlangen nad)‘ Befreiung, das Bebürfniß der Hülfe muß 
uns zum Vertrauen auf den Helfer führen. Ohne diefes Ver⸗ 
trauen ift Beine Hülfe, Feine Befreiung für den Shader moͤg⸗ 
lich. Wuͤrde er befreiet, ohne zu glauben, daß ed durch I. C. 
gefchehen fey: fo würde er ja diefe Befreiung -für fein eigenes: 
"Merk anfehenz und diefer Irrthum würde ihn veranlaffen, ſich 
über fich felbft zu erheben, würde ihn balb in noch groͤßere 
Sünde verflriden, und dann mwürben bie legten Dinge bei’ ihm 


noch ärger werden, als bie erflen geweſen waren.: 


Ueberzeugen wir ung alfo feſt und innig von der Unent⸗ 
behrlichkeit dieſes Vertrauens auf J. €, um durch Ihn und: 
Seine Kraft von der Herrſchaft der Suͤnde befreiet und erloͤ⸗ 
ſet zu werden. Darum ſpricht der Apoſtel: „Ohne Glauben,“ 


Vorzüglich follten wir unfer Vertrauen jedesmal erneueren 
bei Anhörung der h. Mefle Denn fehet, 3. C. Selbft ver⸗ 
richtet da vor eueren Augen ein Werk, welches und zum allers 
größten Vertrauen auffordern folte. Die innere Handlung, 
die Er am Kreuze verrichtet hat, als Er Sich hingab zum 
Opfer für unfere Sünden, dieſe innere Handlung: wiederholt 
und erneuert Er vor Seinem. bimmlifchen Vater bei jedem h. 
Meßopfer; er bietet Sich dem himmlifchen Vater zum Opfer 
dar, bietet Ihm die um und erworbenen Berdienfte Seines 
Todes dar zur Vergebung unferer Sünden flr Jeden, ber an 
biefe Verdienfte glaubt, durch dieſe allein die Kraft erwartet, 
von Seinen Sünden gereiniget zu werden; für Jeden alfo, wel- 
cher der h. Meſſe mit einem folchen gläubigen Vertrauen beis 
‚ wohnt. Er ift da, wie Johannes Ihn im Glauben erblicte, 
und wie wir während der h. Meſſe fingen, als das wahre 
„Lamm Gottes, welches hinweg nimmt die Stunden der Welt.“ 

Und auf eine folche, zu einem befländigen Opfer für und bes 
reitwillige Liebe ſollten wir nicht unſer vollfommenes Vertrauen 
etzen? 

IV. — 

Vorzuglich und am meiſten ſollten wir unſer Vertrauen 
beweiſen bei der Empfahung des h. Sakraments. Hatte doch 
die Frau in unſerem heutigen Evangelium ein fo großes Ver⸗ 
trauen, daß ſie nur den Saum Seines Kleides zu beruͤhren 
verlangte, um geheilet zu werden. Und wir, was empfangen 
wir in dem h. Sakramente?˖ nicht etwa nur den Saum Sei— 
ned Kleides berühren wir; nicht etwa berühren wir, wie. Tho⸗ 
mad, die Glieder Setnes Leibed, und legen unfere. Hände in 
Seine Wundmalen; nicht etwa liegen wir, wie Johannes, auf 
Dfe vertraulichfte, berzlichfle Art an Seiner Bruſt; auf eine weit. 
innigere, weit herzlichere Art werden wir mit Ihm bereiniget ;: 
auf eine‘ fo innige Art werden wir mit Ihm in Seiner: Gott: 
heit und Menſchheit vereiniget, daß ſie allen menſchlichen Bes. 
griff überfteigt. Um bewegen will Er nach Seiner Liebe auf. 














| 


I} 
— 821 — 


eine fo innige, für und finnliche Menfchen auch finnliche Art 
mit und Sich vereinigen, damit wir's durch die That felbit 
einfehen möchten, damit wir auch durch das Zeugniß der Sinne 
follten überzeugt werden, daß Er in uns iſt, in und wohnt, 
in und leben und herrfchen will; wie Paulus ſpricht: „ich 
lebe, doch nicht mehr ih, fondern 3. €. in mirz” daß durch 
Ihn und die Hülfe werde, durch Ihn bie Kraft, die Sünde 
in uns überwinden zu innen. Denn Er hat es ja gefagt: 
„Wahrlich fage ih euch: Wer Mein Fleifch iffet, und Mein 
Blut trinket, wird leben in Ewigkeit, wird leben um Meinets 
willen; wer in Mir bleibt, und IH in ihm, wird viel Frucht 
bririgen.” Ach! daß wir an einen folchen Gaft fo wenig dens 
ten, daß wir Seine Gegenwart, Seine Wohlthat nicht beffer 
anwenden! — Der Genuß des h. Sakraments follte das kraͤf⸗ 
tigfte Stärkungsmittel unfered Vertrauens feyn. Mit Einem 
Wort: Ohne Vertrauen fein Heil für und; denn ohne Bere 
tratien Beine Hülfe durch 3. C.; und ohne dieſe Huͤlfe, ohne 
Seine Kraft kein Heil: menſchliche Kraft vermag die Herrſchaft 
der Sünde. in. und nicht zu überwinden; das vermag nur bie 
göttliche Kraft I. C. Durch dieſes Vertrauen aber, durch bie: 
fen Glauben werden wir, wir Alle gerechtfertiget werden; denn 
der Gerechte lebt aus dem Glauben. 


V. 
Und je mehr wir durch dieſes Vertrauen in dieſem Leben 


gerechtfertiget, von unſeren Suͤnden gereiniget werden, je mehr 


wir durch dieſes Vertrauen zur Herrſchaft über die Suͤnde ge⸗ 


langen: um deſto mehr werben wir in dieſem Vertrauen auch 


Kraft und Ruhe finden bei allen Leiden und ſchmerzlichen Un⸗ 
fällen dieſes Lebens, daß wir dieſelben nach Gottes Willen zur 
wirkſamſten Beförderung unſeres Heils ertragen. Je mehr wir 
durch dad Vertrauen auf 3. C. zur Herrſchaft über die Sünde 
zu gelangen flreben, um deſto ficherer werben wir ein jedes’ 
Leiden, welches uns brohet oder wirklich drüdt, mit Ergeben- 
heit von der Hand Gottes annehmen als das wirkſamſte Mit⸗ 


tel, um von unſerem ſuͤndlichen Weſen immer mehr gereiniget | 
- a8 Thl. Ste Aufl. . 21 


4 





32323 
, 
. 
. 


zu werben. ‚Der vertrauensvolle Chrift betrachtet ein jedes Leis 
den ald eine- weife, liebevolle Anordnung der göttlichen Für 
ſehung zu feinem Beten, unterwirft fich derfelben in demuͤthi⸗ 
ger Ergebung in Gottes Willen, und hat, im Vertraum auf 
die Verheißung und auf das Beilpiel 3. C. den Muth, um 
Abwenbung bed Leidens, oder um Staͤrkung in bemfelben zu 
flehen, mit Ibm zu ſprechen: „Water! iſt es moͤglich, iſt es 
mir gut: ſo wende dieſes Leiden von mir ab; doch nicht mein, 
ſondern Dein Wille geſchehe!“ In dieſem Vertrauen ertraͤgt 
er das Leiden im Geiſte wahrer Buße zu ſeiner Beſſerung und 
Reinigung; in dieſem Vertrauen findet er Troſt und Ruhe auch 
in den ſchwerſten Leiden; in dieſem Vertrauen erkennt er in 
dieſen Leiden deſto deutlicher die Liebe des himmliſchen Vaters, 
in dieſem Vertrauen findet er ſich gedrungen, wenn auch ned 
fo Tepe unter dem Drude der Leiden, wenn auch unter Thraͤ⸗ 
nen, Gott für Seine Liebe zu danken und zu preifen, und aus 
vollem Herzen zu forechen : „Gott bat Alles wohl gemacht! 
An diefem Bertrauen werden wir dann auch Troſt und Ruhe 
finden in den fchwerften. Leiden dieſes Lebens, wenn Gelichte, 
die unferem Herzen am nähen find, durch den Tod uns ent: 
riſſen werden. | . , 
VI. | 

Das ift Die Anwendung, welche der h. Chriſoſtomus von 
unferem heutigen Evangelium macht. Er foll jegt reden. Go 
fpricht Er: Der Herr fprach: „das Maͤgdlein iſt nicht geflor- 
ben, fondern fchläft nur.” Das that Er auch bei anderen 
Gelegenheiten. So ſprach Er auch: „unfer Freund Lazarus 
ſchlaͤftz“ um zu lehren, daß. man vor dem Tode ſich nicht fuͤrch⸗ 
ten folle; denn der Tod fey jetzt Schlaf geworden. Weil Er 
fterben wollte, bereitete Er an den Leibern Anderer die Jünger 
. vor zum Vertrauen und zur ftandhaften Uebertragung Seine 
Todes. Nachdem Er ‚gekommen war, war ber Tod nichts 
mehr als Schlaf. 

Aber Er hat dein Kind nicht auferweckt, wird es nicht 
auferwecken? — Er wird ed gewiß auferweden, und in größerer 





x 
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Herrlichkeit. - Jenes auferwedte Kind ſtarb wieber; aber das 
deine, wenn ed auferftcht, bleibt unflerblih. Niemand über 
laſſe fih alfo übermäßiger Trauer! denn 3. C. hat ben Tod 
befiegt, daß er für uns ein Schlaf geworden iſt. Die Heiden, ' 
die nichtd von Auferſtehung wiſſen, finden doch Troſtgruͤnde, 
indem ſie ſprechen: „Trag's ſtandhaft! denn das Geſchehene 
kann nicht ungeſchehen gemacht, kann nicht mit Thraͤnen abge- 
ändert werben.” Du aber, dem viel weifere und ſuͤßere Lehren 
gegeben find, überläßt dich unmäßiger Trauer? Wir fagen bir’ 
nicht: „Trag's landhaft! denn das Gefchehene kann nicht un⸗ 
geſchehen gemacht werben.” Sondern: „Trag's ſtandhaft! denn 
der Verſtorbene wird auferſtehen.“ Das Kind ſchlaͤft nur, iſt 
nicht todt, ruht nur, iſt nicht verloren. Seiner wartet Auf⸗ 
erſtehung und ewiges Leben und Unſterblichkeit und das Loos 
der Engel. Hoͤrſt du nicht den Pſalmiſten fingen: „Kehre zu⸗ 
ruͤck, meine Seele, zu deiner Ruhe: denn der Herr hat dir Gu⸗ 
tes, hat dir wohl gethan.” Pf. 114, 7. Wohlthat nennt Gott 
die Sache, und du weinft? Mas Eönnteft du mehr thun, wenn 
du ein Feind des ‚Berftorbenen wäreft? Im Xobe ift Ruhe, 
Bedenke, wie voll von Uebeln dieſes Leben ift! „Mit Schmer⸗ 
zen die Kinder gebaͤren, im Schweiße des Angeſichts ſein Brob 
eſſen; ihr werdet auf der Welt Truͤbſal haben:“ fo heißt es 
von dieſem Leben; von jenem Leben aber gerade das Gegen⸗ 
theil. „Hinweg iſt Schmerz, Traurigkeit und Seufzer.“ Jeſ. 
35, 10. Vom Auf⸗ und Niedergange werden ſie kommen, 
und in Abrahams, Iſaaks und Jaftobs Schooße ruhen.“ 
Matth. 8. = - 
Warum alfo befchimpfeft du mit übermäßiger Trauer den 
Verſtorbenen? warum jagft du Andern Furcht und Schrecken 
vor dem Tode ein? warum wirſt du Urſache, daß Viele Gott 
als den Urheber großer Uebel laͤſteren? „Was will ich mas 


‚Gen? ſprichſt du, „es ift natürliche Schwachheit.⸗ Nein, es 


iſt nicht Schuld der Natur, es gehoͤrt nicht zum Laufe der 

Dinge, fondern wir find Weichlinge, find Veraͤchter unſerer 

Wuͤrde, und geben Anderen ein boͤſes Beiſpiel. „Aber du haſt 

keine Erben, keine Rachfolger in deinen Beſitzungen.“ Und 
| 21 * 


v 


f J 
’ \ 
324 " 


was wollteft du lieber: daß er deiner Guͤter, ober der himmli⸗ 
ſchen Guͤter Erbe waͤre? was verlangſt du ſehnlicher, daß er 
das Vergaͤngliche, welches, er doch bald wird verlaſſen müflen, 


. empfange, ober bie bleibenden unvergänglichen Güter? Du 


haft ihm nicht zum Erben, aber Statt deiner hat ihn Gott, 
Er ward nicht Miterbe feiner Brüder, aber er warb: Miterbe 
Ehrifti. — „Wem,“ fprihft du, „werben wir nun unfere Gi: 


ter hinterlaſſen?“ — Ihm werdet ihr fie hinterlaffen, und fices 


ser noch, ald wenn er beim Leben geblieben wäre; durch guten 
Gebrauch, durch gute Werke werben fie beitragen, feine Suͤn⸗ 


‚ben zu tilgen, wenn er ald Sünder, feinen Lohn zu verberrs 


lichen, wenn er als Gerechter geftorben iſt. — „Du moͤchteſt 
ihn aber gerne noch fehen.” — Führe ein gutes Leben, und 
du wirft bald jener heiligen Anfchauung theilhaftig werden! 
Willſt du jest. tugendhaft feyn: fo wirft du zwei ungemein 
große Vortheile haben; du wirft dich von Uebeln, in deren 


Mitte du dich befindeft, befreien und von Gott eine herrliche 
. Ktone empfangen. Denn Truͤbſal mit Geduld ertragen, il 


mehr, als Almofengeben und alled Andere. Gedenke, daß der 
Sohn Gottes geflorben ift: Er flarb fir dich: du ſtirbſt für 
dich felbft. Er ſprach: „Iſt es möglich, fo gehe diefer Kelch 
vor Mir vorüber!” und, obfchon beängftiget, floh Er doch nicht 
vor dem ode, fondern uͤberſtand ihn mit fefter Entfchloflen: 
beit; und nicht einen gemeinen; fondern den ſchimpflichſten Tod 
überftand. Er, und vor dem Tode geißelen, vor dem Geißelen 
Schmachreden, Spottreden, Verläumdungen, — dich zu beleh⸗ 
ven, daß du Alles ſtandhaft ertragen folft. Nachdem aber 
Sein Leib todt und begraben war, nahm Er denfelben in gr 
Berer Herrlichkeit wieder an, und öffnete dir dadurch die frohe⸗ 


ſten Ausfichten. Wenn dieſes Feine Fabel ift, fo weine nicht! 


wenn du dieſes für glaubwürdig hättft, fo trodne deine Thränen! 

„Aber alles Deffen ungeachtet feheint dir der Fall doch 
unerträglich zu feyn.” — Sollteft du aber nicht eben deßwe⸗ 
gen aufhören, ben Todten zu beweinen? Der iſt ja nun von 
allen diefen Uebeln frei. Sich felber den Tod wuͤnſchen wegen 
des frlihern Todes eines Anden, ihn betrauern, weil er nicht 








mehr iſt, um dieſe v vielen Uebel leiden zu koͤnnen, das heißt ja: 
Neid und Mißgunſt gegen ihn haben. Denke nicht daran, daß 
er nicht‘ mehr in dein Haus zuruͤckkommen werde, ſondern daß 
bald darauf du zu ihm abreifen werdeſt! Iſt er ald Gerechter 
geftorben, fo befigt er jegt die ewigen Güter mit Sicherheit. 
Daraus ergibt ed ſich, daß deine Thränen nicht der Kindeds 
liebe, fondern einer unvernünftigen Leidenfchaft Thraͤnen find. 
Denn liebteſt du den Todten, fo würbeft du dich jetzt erfreuen, 
daß er den gegenwärtigen Stürmen entlommen ifl. Denn was 
gibt es fonft mehr? fage mir’s! was gibt ed Fremdes und 
Neues? Sehen wir nicht mit jedem Tage dad Nämliche zu= 
ruͤckkehren? Tag und Naht, Nacht und Tag, Winter und 
Sommer, Sommer und Winter, und nichtd weiter. Und biefe 
Ereigniffe find immer fich gleich, die Uebel aber find fremd und 
neu. Du aber, wollteft du, daß er täglich fie duldete, hier 
bliebe, Krankheiten litte, trauerte, bebte, zitterte, von dieſen 
Uebeln jest befallen werde, von anderen Webeln einft befallen 
zu werben fürchten müßte? Denn das wirft du nicht fagen 
Eönnen, daß er ohne Verdruß und Sorgen und andere derpleis 
chen Armfeligkeiten über dieſes unruhige Weeltmeer hätte ge- 
langen koͤnnen. Ueberbieß bedenke auch, daß bu nicht einen 
Unfterblichen ‚gebareftl, daß er, wäre er jebt nicht geftorben, 
bald hernach doch habe flerben muͤſſen! 

„Aber haft du ihn Hier nicht lange genug gehabt, du wüns 
fcheft, ihn hier noch zu fehen.” Du kannſt ihn fehen, wenn 
du glaubft?. denn die Hoffnung des Zufünftigen iſt, wie bie 
Anfchauung ded Gegenwärtigen. Wuͤßteſt du ihn hier in einer . 
herrlichen Wohnung, im beflen Zuftande: du -wäreft ſeinetwe⸗ 
gen beruhiget. Nun, da du weißt, daß er zu einer weit grö- 


Seren Herrlichkeit, zur Ruhe und Sicherheit gelangt ift, wirft 


du wegen feiner kurz währenden Abwefenheit Pleinmüthig, da 
du doch weißt, daß er bei dem Herm iſt? Sey auch nicht 
beforgt um beinetwillen! Du haft ja die tröffliche Berficherung, 
daß Gott. der Vater der Walfen, und Richter der Wittwen 
fey. „Die wahrhaft Wittwe hoffet auf den Heren,” wie. ber 
Apoftel Paulus fagt, Kim. 5, 5. Die ift alfo die bewährtefte 


— 82 — 


unfer ihre Gleichen, welche bie meifte Geduld uͤbet. Wenn 
du überhaupt einficheft, wie dad gegenwärtige und wie das 
zufünftige Leben befchaffen fey, wie dieſes Leben Spinngewebe 
‚ und Schatten, im fünftigen aber Alled unveränderlich und uns 
ſterblich fey: fo wirft du Feiner anderen Gründe mehr bebürfen. 
Denn nun iſt dein Sohn über alle Veränderungen hinaus. _ 


. Wäre er hier geblieben, fo würde er vielleicht gut, vielleicht 





auch nicht gut geworben feyn. Das Alles laſſet und wohl 
überlegen, und uns weife und flandhaft betragen! Das wird 
die Berftorbenen erfreuen, unferem Nächften zum guten Bei- 
fpiel feyn, und Gott gefallen, der unfere Geduld mit ewigen 
Gütern belohnen wird, . er 
Sehet, m. 3.1 mit ſolcher Zuverficht, mit ſolcher Erhas 
benheit des Geiftes uͤber Alles, was irdifch iſt, ſpricht Diefer 
erleuchtete Kirchenlehrer über das fchmerzliche Schickſal dieſes 
Lebend, wenn Geliebte, die unferem Herzen am nädften find, 
wenn Kinder ihren Eltern dur den Tod entriffen . werben; 
und weiß alle beunruhigende Einwürfe unfere® Herzens mit 
fiegreichen Ueberzeugungögründen darniederzuſchlagen; fo weiß 
er und zum Vertrauen auf den Herm zu erheben, und durch 
dieſes Vertrauen unferem Gemäth Kraft und Ruhe zu geben, 
daß wir aud in diefem ſchwerſten Werhängniffe nad Gottes 
Willen und betragen, uns bie größten Verbienfte farnmeln, und 
und ber göttlichen Gnade im reichfien Maße theilhaftig machen. 
In diefem Vertrauen werben wir dann zuletzt auch Kraft 
. und Ruhe finden, um unferem eigenen Tode mit der. erforberlis 
hen Vorbereitung und mit Buverficht entgegen zu gehen. Haben 
wir durch dieſes Vertrauen in unferem Leben unfer Hell gefuns 
den, jo werben wir auch fierbend in demfelben unfere Ruhe fins 
benz ohne Furcht, mit herzlichem Verlangen werden wir kann Dem 
entgegen gehen, Der unfer Vertrauen fehon oft fo fegenreich vers 
golten hat; dann wirb ber Rod Reine Schredniffe flır und haben, 
denn wir wiffen, daß Derjenige, der des Jairus Rochter vom Tode . 
wie vom Schlafe erweckte, auch und vom Tode erwecken, und in 
ewiger Seligfeit mit Sich vereinigen wird. Amen. 











Bier und zwanzigſte Rede. 


Erſte Rede am fünf und zwanzigſten Sonntage nach 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 


zert: Bu 
Das Evangelium vom legten Weltgericht. Matth. 24, 
15— 35. | 


Shbema: 
Wie gelebt, fo geforben.“ or 


An einem der letzten and an einem der erſten Sonntage des 
Kirchenjahrs werden und ‚durch befondere Anordnung der Kirche 
die Evangelien, welche vom letzten Weltgerichie handeln, zur 
Betrachtung vorgelegt. Die Kirche will und dadurch lehren, 
daß wir dad Andenken an umfere ewige Zukunft vom Anfange 
bis zum Ende beftändig umd lebendig in und unterhalten follen, 
will uns dadurch erinnern an das Wort, welches ein Weifer 
des Alterthums, durch ben h. Geift erleuchtet, gefprochen hat: 
„Gedenk, o Menfch! der letzten Dinge, und du wirft in Ewig⸗ 
keit nicht fündigen!" Wahrhaftig! wenn der Menfch beftändig 
in lebendiger Anfchauung ſich's vergegenmwärtigte, was er der⸗ 
einft zu fürchten und zu hoffen bat, wenn der Menſch ſtets 
gleihfam unter den Augen feines kuͤnftigen Richters wandelte: 
fo würde es ihm nicht- möglich feyn, zu flndigen. Unter allen 
Betrachtungen, die ed gibt und geben Fann, ift Feine, die unſer 
Semüth mit fo ſtarkem Nachdrud ergreift, als der Gedanke an, 
dad loatzte Weltgeriht. Möge dieſes furchtbare Gericht und 
auch noch entfernt zu feyn fcheinen, fo erfcheint und daſſelbe 
doch ſogleich ganz nahe, wenn wir bedenken, daß es mit unſe⸗ 
rem Gerichte nah dem Tode, alſo mit unferem Tode ſelbſt, 

vor welchem wir feinen Tag, keinen Augenblick unferd Lebens _ 
ficher find, im umzertrennlicher Verbindung ſteht. Wie du 








1 


ftirbft, fo dein Gericht nacy deinem Tode, und wie dein Ge⸗ 

richt nach deinem Tode, fo dein Bericht im lebten Weltgericht. 
Du kannſt heute oder morgen fterben; den Urtheilöfpruch, wels 
hen du alsdann empfängft, wird im Ichten Weltgericht vor 
‚ ben Augen der ganzen Welt beflätiget werden. Darum ift uns 
. Über unfer Gericht nach dem Tode Feine befondere Offenbarung 
gegeben, weil die eigentliche und größte Schredniß im Weltges 
richte, nämlich das Urtheil im Gerichte nach unferem Tode, die 
nämliche feyn wird, weil dasjenige, . was unfer Gericht nad) 
unſerem Tode fo furchtbar macht, auch dad legte Weltgericht 
am meiften furchtbar machen wird. Möge alfo dad letzte Welt: 
gericht auch vielleicht noch entfernt feyn — wer Tann und das 
aber verfichern, da es, wie 3. C. Iehrt, kommen wirb eben fo, 
wie der Tod, — wie ein Dieb in der Nacht, da ed nach Sei⸗ 
nen ausdrüdlichen Worten kommen wird gerade zu ber. Zeit, 
da die Menfchen ed am wenigften erwarten? — möge ed aber 
‚auch noch entfernt feyn, fo müffen wir es doch ald ganz nahe 
anfehen, weil der Tod und ganz nahe feyn Tann, ganz gewiß 
einem Jeden von und viel näher ift, ald wird glauben. Als 
nahe müffen wir und das letzte Weltgericht vorzüglich deßwegen 
denken, weil ed, wenn vielleicht auch noch entfernt, doch ganz 
gewiß für uns feyn wird, weil Keiner von, und biefem Gerichte 
entgehen wird, weil wir alle ohne Ausnahme in diefem Ges 
richte fiehen und gerichtet werben. 


I. 


Nach diefer Vorbereitung laffet und auf die große Offen⸗ 
barung unferd Heilands von biefem legten Weltgerichte mit hei⸗ 
liger Ehrfurcht unſere Betrachtung richten! 

Am letzten Tage Seiner oͤffentlichen Reden im Tempel 
hatte der Herr J. C. den Untergang der Stadt und die Zerſtoͤrung 
des Tempels mit den beſtimmteſten Worten vorhergeſagt. Als 
Er nun mit Seinen Juͤngern vom Tempel hinwegging, ſprach 
Einer aus Seinen Juͤngern, der Weiſſagung ſich erinnernd, 
nach dem Tempel zuruͤckſchauend zu Ihm: „Meiſter! ſieh, welche 
Steine! und welcher Bau!“ Mark. 18, J., und gab feine 





— 38 — 
’ 


Berwunberung ober. fein Bedauern zu erfennen, daß dieſes 
‚ Prachtgebäube, dieſes Wunderwerf der alten Welt, follte zer 
flört werden. Bewundernswuͤrdig waren wahrhaftig allein ſchon 
die Steine an diefem Gebäude, fie waren alle von weißem 
Marmor, ein jeder von 25 Ellen lang, 5 Ellen hoch und 6 
Ellen breit; dann die. drei Vorhoͤfe; bie Außerft prachtvollen 
Hallen mit drei‘ bis vier Säulenreihen von weißen Marmor, 
50 bis 100 Fuß hoch. Hoc oben auf der Spite des Berges 
sagte der Tempel felbft hervor über alle Gebäude, über alle, 
den Berg umgebende Mauern, welche ebenfalls von weißem 
Marmor eine Höhe von 300 bis 400 Ellen hatten; fo daß der 
ganze Tempel mit feiner Umgebung wie ein glänzend weißer. 
Schneeberg. audfah. Und dann die unbefchreiblichen Koftbare - 
keiten, welche zur Ausfchmüdung des Tempels feit mehr als 
einem Jahrhundert: verwendet waren. Es wunderte und dauerte 
bem Juͤnger, daß dad Alled wieder zu nichtd werben follte, 
Aber was ift Menſchenwerk, was find alle Schäge ber Erde 
vor Dem, Der nur auf dad Herz fiehet, vor Welchen ein des 
muͤthiges Herz mehr gilt, ald alle Erdenpracht? „Siehſt bu 
biefe großen Gebäude?” fprach der Herr zu bem Dünger, 
„nicht Cin Stein wird auf dem Stein gelaffen; abgeriſſen 
wird er werben.” 

Als Er- num mit den Züngern weiter ging, ben Delberg 
hinauf, und dort fich fegte dem Tempel gegenüber, welcher, 
über alle Gebäude der Stadt hervorragend, in aller feiner 
Pracht vor Ihm lag; da fanden vier Jünger, nämlich Petrus 
und Jakobus, Johannes und Andreas, über bie vorigen Worte 
des Herrn gemeinfchaftlich fi veranlaßt, Ihn zu fragen: 
„Sage und: wann wird dieſes gefchehen? und weldes wird 
feyn das Zeichen Deiner Ankunft, und dad Ende der Welt?« 
Es waren alfo zwei Fragen, welche die Zünger Ihm vorlegten, 
weil man glaubte, dad Reich) des Meſſias würde bis zum Ende 
der Welt währen; SIerufalem wuͤrde bie Hauptſtadt in diefem 
Reiche ſeyn; Serufalem und ber Tempel würde alfo ebenfalls 
bis zum Ende der Welt fliehen. Der Heiland. beantwortete 
beide Fragen nach einander; und dieſe Antworten ſind in dem 








heutigen Evangelium enthalten. In ber erfien Antwort wies 
derholt Er Seine Weiffagung von dem Untergange der Stadt 
‚und bed Tempels, und befchreibt den Gräuel und die Schreds 
niffe, die dabei fich ereignen würden. Dann geht Er in der 
zweiten Antwort über auf dad Ende der Melt und dad Welt⸗ 
‚gericht, und verbindet beide Wiegebenheiten, den Untergang ber 
Stadt und den Untergang ber Welt fo mit einander, daß wir 
die Zerftörung der Stadt und des Tempels und bie babei fich 
ereignenden Gräuel und Schredniffe anfehen follen als Vorbild 
‚noch viel furchtbarerer Schredniffe, Die bald vor dem Unters 
garige der Welt fich ereignen würden. Mit den. Worten ber 
Rede im heutigen Evangelium: „An dem Feigenbaum lernet 
ein Gleichniß!“ koͤmmt Er dann nochmals zuruͤck auf den Uns 
tergang der Stadt, verfündiget benfelben ald nahe bevorftehend, 
und beftimmt die Zeit, nämlich des damals lebenden Gefchlechts, 
“in welcher diefe furchtbare Weiffagung würde erfüllet werden ; 
und wirkli war das damald Tebenbe Geſchlecht noch nicht vers 
gangen, da die Weiſſagung fhon ganz in Erflillung gegangen 
war. Das ift der Inhalt des heutigen Evangeliums. Die 


Zuuͤnger feibft haben, Giner ausgenommen, bie Erfüllung der 


erften Weiffagung nicht mehr erlebt. Und aber ift diefelbe aus 
der Gefhichte bekannt. Die ganze Weltgefchichte liefert uns 
kein ähnliches Beiſpiel einer fo furchtbaren Zerſtoͤrung, als bie 
Belagerung und Zerſtoͤrung Jeruſalems, und diefes follen wie 
als graufenerregended Vorbild anfehen vom den noch viel furchts 
bareren Schredniffen, die dem Untergange der Melt vorherges 
hen werden. Uns alfo iſt diefe Weiffagung zur Ermahnung 
md Warnung gegeben, damit wir auf dad Weitgericht, wels 
ches uns Allen ohne Ausnahme bevorfteht, und mit befländiger 
Wachſamkeit und forgfältiger Vorbereitung gefaflet halten mögen. 


| | 1. ' 

Nah der ausdruͤcklichen und beftimmten Offenbarung, 
welche und der Herr 3. C., Der Selbſt dereinft der Richter 
feyn wird, von jenem Weltgerichte mitgetheilt hat, verſetzt und 
diefe Offenbarung im’ Geifte in jenes farchtbare Gericht ſelbſt, 








x 
. 
2 un. f 


unb fpricht zu uns vol Kraft und Nachdruck: „Bedenk', o 
Menſch! daß du ſchon unmittelbar nach deinem Tode wirft 
gerichtet werden über dein ganzes Leben, welched du innerlich 
und äußerlich geführt haſt; und daß dein Gericht, welches du 
im Weltgerichte zu beſtehen haft, gerade fo beichaffen feyn wird, 
wie bein Gericht nach deinem Tode, entweder zur Gnade und 
Setigkeit, oder zur Verdammung und ewigen Strafe. Es if 
ein allmäcdtiger Gott, Der dich richten wird. Seiner 
Allmacht kannſt du nicht widerfichen: wenn Er dich ruft, mußt 
du kommen; unbekannt ift dir die Zeit, wenn Er dich rufen 
wird» Gr koͤnnte di abrufen in der Mitte deiner Sünden. 
Es if ein allwiflfender Gott, Der dich richten wird; in 
jedem Augenblick deines Lebens ſtehſt du da vor Seinem alls 
anfchauenden Btide; Er Eennt dein Inneres und dein Aeuße⸗ 
zes, kennt dich, wie du biſt. Ihm kannſt du nichts verbergen; 
was Entfhuldigung verdient, weiß Er, und wird ed ald Ents 
fhuldigung annehmen; was nicht zur Entſchuldigung dient, 
was du aber oft zu deiner Entſchuldigung vorfchüßeft, weiß 
Er ebenfalls, und wird es verwerfen. Es iſt ein gerechter ° 
Gott, Der dich richten wird. Zwar iſt der gerechte Gott auch 
‚ein barmberziger Gott; aber im Gerichte führt dad Recht und 
die Gerechtigkeit Hie Herefchaft, im Gericht geht nicht mehr, 
wie jebt in deinem Leben, Gnade vor Recht. 

Dort alfo darfft du Feine Barmherzigkeit mehr erwarten, . 
wenn bu fie in deinem Leben mißbraucht haſt; dort wirft du 
gerichtet werben nach ber ſtrengſten Gerechtigkeit, gerichtet wer⸗ 
den nach beit Gefeben, die dein Richter, der zugleich dein Ges 
ſetzgeber iſt, dir gegeben und bekannt gemacht hatz wirft ges 
richtet werben nach deinen Werken und Gelinnungen, womit 
. bu jene ewigen und heiligen. Gefeße entweder befolgt oder übers 
treten haſt. Zwar kann und wird die Barmherzigkeit Gottes 
auch im Gerichte nicht aufhören, und fie wird dort im herr 
lichſten Lichte hervorleuchten in ber: gnadigen Vergebung, die 
Er einem Jeden wegen feiner auch noch fo vielfältigen und 
fhweren Fehltritte und Sünden, wenn er in aufrichtiger Reue 
und Buße fie bekämpft und gebeffert bat, wird angebeiben 


\ 











— 3 — 

„laffen; und in der unbefchreiblichen Belohnung, die Er ihm we⸗ 
gen feiner kurzen Treue und wegen feiner wenigen guten Werke 
und Sefinnungen, die doch urfprünglich Sein Werk waren, ers 
theilen wird. Möge dein Suͤndenmaaß auch noch fo groß und 
ſchwer ſeyn; Haft du deine Sünden.in herzlicher Neue, in aufs 
richtigem Belenntniffe, und in feflem Vertrauen auf das Vers 
dienſt 3. €. abgebüßet: fo kommt Feine einzige deiner beganges 
nen, aber abgebüßten Sünden in das Gericht, denn alle diefe 
* Sünden find nicht mehr, find in dem Blute 3. ©. gänzlich 
getilgt. Die Gerechtfertigten und Gerechten ‚müffen zwar aud) 
im’ Gerichte erfcheinen; fie werden aber nur Zeugen beim Ges 
richte feyn, werben felbft nicht gerichtet werden. Wenn du alfo 
beim Ende deines Lebens gerechtfertiget erfcheineft wor Gott; fo 
haft du Fein Gericht mehr zu befürchten, fo wird dein Richter 
dir nur als dein Heiland erfcheinen, fo wird dad ganze Gericht, 
welches du zu beſtehen haft, nur ber Ausſpruch der Gnade 
feyn zu deiner ewigen Seligkeit. „Wenn wir aber,” fagt der 
- Apoftel, „aus freien Stuͤcken zu freveln fortfahren, nah Ers 
Eenntniß der Wahrheit: fo ift kein Opfer mehr übrig für uns 
fere Sünden, ſondern fhredlihe Erwartung ded Gerichts und 
eiferndes Feuer, welches die Widerfpänftigen verzehren wird.’ 
Hebr. 10, 26. 27. Diefe find Die Lehren und Warnungen, 
welche und die Offenbarung I. C. Über das letzte Weltgericht 
mit dem größten Nachdruck an unfer Herz und Gewiſſen legt. 


| III. 

‚Wenn wir nun dieſe Warnungen recht beherzigen, wenn 
wir das Gericht mit allen ſeinen furchtbaren Schreckniſſen uns 
lebhaft vor Augen ſtellen; o, dann fuͤhlen wir uns im Inner⸗ 
ſten gedrungen, zu ſeufzen und zu beten: „Herr, gehe doch mit 
mir nicht in's Gericht! O Gott! daß ich doch in jenem Ge= 
richte vor Dir beftehen möge!” Fühlen wir uns ſchon jetzt zu 
einem folchen Gebete fo fehr gebrungen; o dann gewiß noch 
weit mehr, wenn die letzte Krankheit und den herannahenden 
Tod gar deutlich verfündiget, wenn bie Erde mit al’ ihrem 
verganglichem Flitterſtaat ale Reize für uns verliert; o dann 











EEE 888 ‚ 


haben wir, fo lange das Bewußtſeyn und nicht verläßt, keinen 
anderen Gedanken, Fein anbered Berlangen mehr, ald den Ge 
banken und dad Verlangen, Gnade und Barmherzigkeit bei 
unferem Richter zu finden. Sreventliche Vermeſſenheit wäre es 
aber, auf jene Zeit ed ankommen zu laflen, da fo wenig oder 
nichts mehr geleiftet ober gebeflert werden kann, von alle dem, 
was doch mit unerläßlicher Nothwendigkeit geleiftet und ges 
beffert werben muß, wenn. wir ein gnädiges Gericht finden wollen. 

Zwei ungemein wichtige, und aller WBeherzigung werthe 
Wahrheiten jind ed ‚daher, welche und jene Warnungen mit 
‚unwiberftehlicher Kraft an’d Herz legen. Die erſte ift: „Wie 
wir gelebt haben, : fo find wir auch im Sterben: von ber Bes 
fchaffenheit unfere® vorhergegangenen Lebens hängt allein ab 
unfere innere Beichaffenheit im Sterben.” Die zweite iſt; 
„Wie wir im Sterben befchaffen find, fo, eben fo befchaffen 
im Innern gehen wir hinüber in die andere Welt; und diefe 
unfere innerlihe Befchaffenheit, die wir alsdann in jene Welt 
mit hinüber nehmen, wird allein entfcheiden fowohl über unfer 
Gericht, als über unferen fortdbauernden Zufland in jener 
Melt.” Oder noch deutlicher: . „Wie wir im Sterben und 
Tode innerlich befchaffen find; fo wird auch unfer Gericht. 
feynz; und wie unfer Gericht feyn wird; fo wird auch unfer 
Zuftand in jener Welt ſeyn.“ 


IV 


„Die wir gelebt haben, fo fi nd wir au im Sterbenz⸗ 
oder wie das Spruͤchwort ſagt: „Wie gelebt, ſo geſtorben.“ 
Oder meint ihr, die letzte Krankheit würde ein Wunder an 
uns: thun, unfere innere Natur ganz umändern, und uns übers - 
haupt zu ganz anderen Menfchen, zu Menfchen von ganz ans 
derer Befchaffenheit umwandeln? Vermeſſene, aͤußerſt gefaͤhr⸗ 
liche Verblendung und Taͤuſchung! Wer gibt dir Sicherheit, 
ob nicht die letzte Krankheit dich gleich im Anfange des Ver⸗ 
ſtandes berauben, und dich zur Buße unfaͤhig machen werde, 
oder ob du nicht ohne alle Krankheit durch ploͤtzlichen Tod wer⸗ 
deſt abgerufen werden? Aber auch auf eine Krankheit darfſt du 





. 


dein Vertrauen nicht ſetzen. Sol eine boͤſe Neigung in uns 
unterdrüct, eine gute Gefinnung in und erweckt und befeftiget 
werden; fol überhaupt eine wahre Beflerung mit und vorge= 
ben; fo kann dad nur durd Anwendung 'unfered freien Wil⸗ 
lens, alfo nur durch ungehinderten Gebrauch unferer den Wile 
len gebietenden Vernunft gefchehen. Die meiften Krankheiten 
aber. find von der Art, daß fie den Vernunftgebrauch fehr hin⸗ 
dern, und die Kraft ded Willens fehr ſchwaͤchen. Denket an 
die falfhen Hoffnungen, die fo viele Kranke ſich maden bis 
zu dem legten Augenbli ihres Lebens; Hoffnungen, bie von 
Freunden und Angehörigen oft auf eine hoͤchſt gefährliche, 
wirklich graufame Weife unterhalten werden; Hoffnungen, bie 
- ein beftändiges Hinderniß find, mit Ernft an fich felbft zu den⸗ 
Zen, und wahre Buße zu wirken! Denket an die Unfähigkeit, 
mwenigftend an die Unluft zum Nachdenken über ſich felbft, 
welche die meiften Krankheiten zu begleiten pflegen! Bedenket, 
wie Bieled in gefunden Tagen dazu erfordert wird, um einen 
aufrichtigen feften Worfab gegen eine eingewurzelte böfe Neis 
gung zu Stande zu bringen, um eine gute Gefinnung für Die 
Dauer zu erweden und zu befefligen! und was uns in geſun⸗ 
den Tagen beim ungehinderten Gebrauche unferer Geiſteskraͤfte 
fo ſchwer wird, dazu foßten wir in der Krankheit bei fo fehr 
geſchwaͤchten Kräften im Stande feyn? — Oder feyb ihr viel- 
leicht der Meinung, die drohende Gefahr, die Heftigkeit der 
Krankheit, die anfcheinende Nähe des Todes, alle diefe Umſtaͤnde 
würden alsdann mit unmwiberftchlicher Gewalt auf euch eindrins 
gen und euch zu einer aufrichtigen Bekehrung und zu einem 
feften Borfage gewiffermaßen nöthigen? Ach! mit folchen Vor⸗ 
fäten in der Krankheit, die nur eine Tnechtifche Furcht aus⸗ 
preßt, hat es gewiß feine beffere Bewanbniß, als mit Abnlichen 
Borfägen unter dem Gewitter, die gewöhnlich nicht länger zu 
dauern pflegen, als bis die vom Regen genäßten Steine wies 
der troden geworben: find, Iſt die Gefahr verſchwunden, fo if 
auch der Vorſatz verſchwunden. Mögen alle Sene, die von 
ſchweren Krankheiten wieder genefen find, bier aufſtehen und 
zeugen! Faſt Alle ohne Ausnahme. geben uͤbereinſtimmend die 





Warnung: „Laſſe ed dad Niemand auf bie lette Krankheit 
ankommen, ſein Seelenheil in Sicherheit zu bringen! Wir 
wiſſen es jetzt aus eigener Erfahrung, wie wenig der Menſch 
in ſchwerer Krankheit fuͤr ſein Seelenheil zu wirken vermoͤge! 
Viele von ihnen muͤſſen ſogar bekennen, daß ſie ſich nichts 
von dem, was mit ihnen vorgegangen iſt, nicht einmal der 
Empfahung der h. Sakramente mehr bewußt ſind: Und was 
noch mehr unfere Beherzigung verdienet: Viele, die im Ans 
fange ihrer Genefung ſolche ernfllihe und nachdruͤckliche Wars 
nungen ertheilen, find und bleiben nad völlig wiederhergeftellter 
Geſundheit die alten Menfchen, äußern wieder die nämlichen 
Neigungen, fallen wieder in die alten Sünden zurüd; die letz⸗ 
ten Dinge werden mit ihnen noch fchlimmer, als die erften 
waren. Und wie kann ed auch anders feyn? Mas der Menfch 
nicht mit Vernunft und freiem Willen befchließt; das Tann 
auch ‚Feine gute, bleibende Frucht bringen. — Wenn der Menfch 
nicht fogleich nach der Genefung bie große Gefahr, welcher er 
durch Gottes Barmherzigkeit jegt. noch entgangen ift, ernitlic 
bedenkt, wenn er nicht dann die ihm wiedergegebenen Geiftes- 

Eräfte ernfllich anwendet, die Sünde zu unterbrüden, nicht dann 
die Gelegenheit meidet, und mit ber größten Sorgfalt vor dena 
erſten Rüdfalle fi bewahrt; fo. wird er gewiß ein folches 
Schickſal haben. 

Wollet ihr vieleicht noch zur Einwendung fagen: „Es 

gibt doch Falle, daß große Sünder durch eine fchwere Krank: , 
heit dauerhaft find gebeflert worden?”. Solcher Fälle gibt es, 
und fie find uns die ruͤhrendſten Beweife von Gottes unends 
licher Barmherzigkeit: aber folhe Fälle gehören doch immer 
unter bie feltenen: ‚wer wollte aber in der allerwichtigften Anz 
gelegenheit die feltene Ausnahme von der Kegel ſich zur Regel 
machen? Freilich bürfen wir ber Belehrung auch bed, größten 
Sünderd auf dem Sterbebette nicht alle Hoffnung abfprechen : 
denn Gottes Barmherzigkeit ift unendblih: und um diefe Hoffe 
nung auch ber größten Sünder nicht nieberzufchlagen, bat J. 
E. am Kreuze dem mitgebreuzigten Schäder Gnade und 
Barmherzigkeit erwiefen. Wer aber fo vermeflen feyn wollte. 


x 





- 
2 
336 


diefe fo feltene Ausnahme von der Regel zur Regel fih zu 
machen, wer bie Barmherzigkeit Gotted zur Fortfebung und 
Beharrung in der Sünde mißbrauchen wollte: eben der würde 
in den legten Stunden feines Lebens von der Barmherzigkeit 
Gottes am wenigften zu hoffen haben. Der gerechte Richter 
würde alsdann gegen ihn auffiehen und fprechen: „Bill du 
barım bis an das Ende deines Lebens in Suͤnden geblie- 
ben, weil Ich barmherzig bin?” „Entſetzlich iſt es,“ fpricht 
der Apoftel Paulus, „in die Hände des Tebendigen Gottes zu 
fallen.“ Hebr. 10, 31. 
V. 

Das Alles beſtaͤtiget nun die Wahrheit: „Wie der Menſch 
im Leben war, ſo iſt und bleibt er auch im Sterben, wenn 
auch dem aͤußerlichen Scheine nach einige Veraͤnderung mit 
ihm vorgehen mag.“ Das heißt: „Die boͤſe Neigung, die 
der Menſch in geſunden Tagen gehegt und unterhalten hat, 
wird ihm auch in der letzten Krankheit, obſchon fie alddann 
- eine Zeitlang fhläft und file ift, nicht verlaffen. Der Tod, 
der feinen Leib tödtet, "vermag über feine Seele nichts; läßt 
feine Seele in der nämlichen Befchaffenheit, wie fie bamals 
war und iſt; der Tod, der feinen Leib tödtet, ertödtet feine 
fündlihe Neigung nicht, wenn fie nicht vorher - durch freien 
Entſchluß des Willens unter dem Beiſtande der göttlichen 
Gnade ertödtet war. Warft du alfo bi8 zum Ende deines 
Lebens der Unmäßigkeit, dem Trunke, der Unkeufchheit erges 
benz ließeſt du dich beherrihen von Stolz und Eitelkeit, ober 
von unordentlicher Habfucht, oder von Zeindfeligkeit und Rach⸗ 
gier, oder von Lauigkeit und. Gleichgültigkeit gegen Goft, ges 
gen Religion und gepen da6 Heil deiner Seele, oder von 
was für immer einer fünblichen‘ Neigung: fo erwarte nicht, 
daß der Tod dich von deiner fündlichen Neigung befreien 
werde; gefeffelt, verbiendet und verunreinigt von der nämli- 
hen böfen Neigung, bie du gegen bein Gewiflen bi8 zum 
Ende deines Lebens im bir unterhielteft, wirft du mit derfel- 
ben in jener Welt erwachen; wirft bu, verunreiniget von biefer 





- L 
— 1 — 


Neigung, vor Gottes Gericht ſtehen. Wenn wir's von der 
letzten Krankheit nicht erwarten duͤrfen, daß uns dieſelbe von 
unſerer boͤſen Neigung befreien werde: fo duͤrfen wir's vom 
Tode noch weniger erwarten. 

O, wie ſo leicht koͤnnen wir uns alſo irren in unſerem 
Urtheile, das wir ſo oft uͤber einen Abgeſchiedenen faͤllen! 
ba vorhergegangene Leben mag beſchaffen geweſen ſeyn, wie 
es will; hat der Menſch nur in der letzten Zeit ſeiner Krank⸗ 
heit die h. Sakramente empfangen, die Vorbereitung dazu 
mag auch noch ſo uͤbereilt und fluͤchtig geweſen ſeyn; hat er 
dann eine Ruhe bewieſen, die vielleicht nur die Folge feiner 
gaͤnzlich erſchoͤpften Kräfte warz und iſt er dann in einem ſol⸗ 
chen ruhig fcheinenden Zuſtande dahin gefiorben: fo heißt es for 
gleih: „Gott Lob, daß er doch mit den h. Sakramenten ift vers 
ſehen worden!” und dann hat ed, wie man meint, nicht3 weis. 
ter zu bedeuten. Wir Menfchen follen freilih über Keinen 
richten. weder über Abgefchiedene, noch Lebende, follen vorzuͤg⸗ 
ih die Todten, die ſich nicht vertheidigen Bönnen, ruhen 
laffen; follen überhaupt gar nicht richten; um unferer feibft 
willen follen wir aber gar fehr auf_unferer Hur feyn, daß 
wir und durch ein folched voreiliged Urtheil nicht täufchen laſ⸗ 
fen. Zwar verpflichtet. und der Glaube, auf den Empfang 
der h. Sakramente den höchften Werth zu feßenz der Glaube 
lehrt und aber zugleich, daß die Wirkfamkeit, die Gnaden⸗ 
wirfung der h. Saframente zum großen Theile von unferer 
Vorbereitung abhängt. Wenn nun in gefunden Tagen, da 
‚ wir noch im Befige und im freier Gebrauche .unferer Geiftes- 
träfte find, unfere Vorbereitung oft fo fchlecht und mangel: 
baft ift, und wir eben deßwegen die Gnadenwirfung der h. 
Saframente oft vereitelen: was dürfen wir denn im einer 
fehweren Krankheit von der Vorbereitung erwarten, wenn dies 
felbe bis auf's Aeußerſte verfchoben wird, und daher am Ende - 
übereilt ‚werden muß? Wahrhaftig! eine folhe mangelhafte 
Vorbereitung, eine folche bedenkliche Empfahung ber d.-Safre- 
mente gibt uns nicht die mindefte Bürgfchaft für die Sicher 


heit unfered Heils, läßt und vlelmehr die hen Folgen 
ar El. ate Aufl, 





— 838 — 


eines unmwürbigen Empfangs mit großem Rechte befürchten. 
Viele tugenbhafte, heilige Männer find unter großen Seelen- 
ängften geftorben! dieſe dürfen und gegen ihre Heiligkeit und 
Seligkeit keinen VBerhacht-erregen.. Viele große, ja die größten 
Sünder find mit der größten Ruhe geflorben: dieſe gibt uns 
von ihrem ewigen Heile Feine Berficherung, ift vielleicht nur 
ein Kennzeichen ihrer Verſtockung. 

Die Wahrheit ſteht daher feſt: „Wie ber Menſch im 
Leben war: fo ift und bleibt er auch im Sterben.” Haft du 
alfo während deines Lebens nicht mit allem Ernft dahin ges 
firebt, deine böfe Neigung zu befämpfen und zu unterbrüden: 
und zu guter Gefinnung, zur berrichenden Liebe Gottes zu ges 
langen: fo erwarte auf feine Weife, daß die lebte Krankheit, 
und wenn du auch in derfelben die h. Saframente empfangen 
follteft, dieſes Wunder an bir thun und dich auf einmal von 
ber Herrfchaft deiner Sünde befreien, dir auf einmal die herr⸗ 
ſchende Liebe Gottes, Dem du während deines Lebens keine 
wahre gehorſame Liebe bewiefen haft, einflößen werde! Was 
für unſer Heil gefchehen muß, dad muß in gefunden Ta⸗ 
gen während umfered ganzen Lebens gewirkt werben, wenn un⸗ 
fere letzte Krankheit über unfer ewiges Heil entfcheiden fol. 

Und nun, m. ©.! laffet und die Hand aufs Herz legen, 
und ein aufrichtiged Bekenntniß nad der Wahrheit ablegen! 
Obſchon wird deutlich genug einfehen, daß unfer Vertrauen, 
wenigftend in der lebten Krankheit unfere Seele noch zu ret- 
ten, .ein frevelhaftes, vermeſſenes Vertrauen fey: fo können wir 
und von biefem vermefienen Vertrauen doc wohl nicht ganz 
freifprechen. O Gott! wenn wir uns nur forgfältig beobach- 
ten wollten; wie oft würben wir finden, daß unfere guten 
Vorſaͤtze, ſelbſt jene, die wir vor der Beichte faflen, nicht 
ausgenommen, nichts find, als der Ausſpruch unferer Webers 
zeugung, daß wir und befjern müffen, es auch wollen; aber 
die wirkliche Ausführung immer dabei verfchieben, daß wir 
uns bie falfche Worfpiegelung machen, es würden wohl noch 
Umftände eintreten, die und mit befonderer Gewalt zur Aus⸗ 
führung nöthigten, ‘ober wenigſtens würde bie letzte Kranke 








330 
/ 


heit und noch wohl Zeit und Kraft und Antrieb dazu geben. 
O, der furchtbaren Verblendung! ine befonbere Gnade wols 
ion wir von der Fügung der Umflände erwarten, : ba wie 
durch hartnädige Beharrlichfeit in der Sünde uns der Gnade 
immer mehr unwuͤrdig machen? O, des fehändlichen Frevels! 
So lange wollen wir fortfahren zu fündigen, bis wir nicht 
mehr fündigen fünnen, und dann noch von ber göttlichen 
Gnade eine Wiedergeburt erwarten, die und ohne unfere Vor⸗ 
bereitung und Mitwirkung nie und nimmer zu Theil wird? 
O, m. ©.! laſſet und aufhören, uns auf foldhe Art felbft zu 
taufchen! Sol in unferer legten Krankheit, fol bei unferem 
Hinfheiden aus dieſem Leben unfer Heil in Sicherheit feyn : 
fo müffen wir e3 vorher in Sicherheit gebracht haben, fo 
muß. unfer vorbergegangened Leben eine beftändige Vorberei⸗ 
tung. zum Rode gewefen feyn. Wollen wir im göttlichen Ges 
richte beftehen, fo muͤſſen wir uns bier nach der Wahrheit 
richten. Laffet und bier der lebten Dinge und’ ded Gerichte 
oft gedemfen, und und darauf bereit halten, damit wir dereinft 
in demfelben Gnade und Barmherzigkeit finden mögen durch 
J. € unfern Herrn. und Heiland! Amen. ) 





Fuͤnf und zwanzigfte Rede. 
Zweite Rebe über dad Evangelium vom Tebten 
Weltgerichte nach Luk. 11, 25 — 33, 


Fortſetzung ber vorhergefenben. 


4 





Schema: 
‚Bie beine innere Befaffenpeit im Bode, 
| ſo dein Gerigt.”. | 


Vor dinigen Senntagen wurden wir durch ‚bat ‚Evangetitm 
bes h. Matthäus zur Betrachtung des legten Weltgerichts auf- 
| | 22 * 


— 77 
gefordert; beut werben wir durch- das Evangelium ded h. Lukas 


zu der naͤmlichen Betrachtung wieder veranlaßt. Schrecklich iſt 


es, in die Haͤnde des lebendigen Gottes zu fallen, ſchrecklich 
Sind die Gerichte ‚Gottes; laſſet uns biefelben mit Furcht und 
Zittern betrachten, damit wir bereinft vor unſerem göttlichen 
Kichter beftehen mögen! .- | 


Zu zwei ungemein wichtigen Wahrheiten hat uns dieſe 
Betrachtung vor einigen Sonntagen veranlaßt. Wie wir ge⸗ 
lebt haben, fo find wir auch im Sterben; von der Beſchaffen⸗ 
heit unferd vorbergegangenen Lebens hängt allein ab unfere 
innerliche Befchaffenpeit im Sterben. Das war die erſte Wahr- 
beit. Und die’zweite war: Wie wir im Sterben und. im Tode 
innerlich beſchaffen find, mit dieſer innerlichen Beichaffenheit 
gehen wir hinüber, in jene Welt; wie wir. alödann innerlich 
befchaffen find, fo wird auch unfer Gericht, fo wird auch une 
fer fortdauernder Zuſtand in jener Welt feyn. Bloß die erfte 
dieſer beiden ungemein wichtigen Wahrheiten war vor einigen 
Sonntagen der Gegenftand unferer Betrachtung; im biefer ges 
genwärtigen Erbauungsftunde fol daher bie letzte der Gegen⸗ 
ſtand unſerer Betrachtung ſeyn. 


Laſſet uns alſo den Inhalt der erſten: „Wie gelebt, ſo 
geſtorben,/“ noch ein Mal kurz zuſammenfaſſen! Haben wir 
während unfers Lebens unfere ſuͤndlichen Neigungen nicht, bes 
kaͤmpft, fo dürfen wir während der letzten Krankheit die gänz- 
liche Ueberwindung bderfelben nicht erwarten; haben wir waͤh⸗ 
rend unferd Lebens nach der Liebe Gotted und des Naͤchſten 
nicht geſtrebt: ſo duͤrfen wir's nicht erwarten, daß uns waͤh⸗ 
rend unſerer letzten Krankheit dieſe Liebe gleichſam durch ein 
Wunder der Gnade werde eingegoſſen werden; haben wir waͤh⸗ 
“rend unſeres Lebens durch Wachen, Beten und Kämpfen zur 
Wiedergeburt aus dem Geiſte uns gar nicht vorbereitet: ſo 
duͤrfen wir nicht erwarten, daß uns in der letzten Krankheit 
dieſe Wiedergeburt, ohne welche wir jedoch in das Reich Got: 
te nicht gelangen können, werde zu Theil werden. Wie der 
Menſch während feines Lebens in feinen Begierden, Neigungen 


— 








Ä Bi — 
und Sefinnungen befchaffen war: fo bleibt er auch in benfels 
ben befchaffen in feiner legten Krankheit, in feinem Tode. 

So haben wir dem den Menfchen, haben uns felbft im 
Geiſte geführt bi8 zum Ende unferd Lebens, bis zum Node, 
bis zur Schwelle der Ewigkeit. Was wir uns jebt in Gedan⸗ 
fen vorgeftelt haben, wird dereinft für uns wirklich werben. 
Verlaſſen muͤſſen wir einft diefe Welt mit Allem, was wir in 
derfelben unfer Eigenthum nennen; verlaffen müflen wir alle 
unfere Freunde und Angehörigen, heraudtreten müffen wir aus 
alten unferen Gefchäften, Verbindungen und Berhäftniffen, vers 
laſſen müffen wir fogar unfern eigenen Leib; wir muͤſſen hin⸗ 
uͤber, hinuͤber muß unſere Seele in die Ewigkeit; und in dem 
Augenblick, da fie hinuͤber iſt, iſt ſie vor Gott, ihrem Richter. 
Und wie dieſes Gericht nach dem Tode, ſo wird auch ihr Welt⸗ 
gericht ſeyn. Das iſt die zweite Wahrheit, welche uns zum 
ernſtlichen Nachdenken auffordert. Wie der Menſch alsdann in 
ſeinem Innern beſchaffen if, fo wird auch fein Gericht feyn. 
Alsdann werden diejenigen, die nur der Welt, dem Zleifche, 
ihrer Leidenfchaft gedient, um das Hal ihrer Seele fich gar 
nicht befümmert haben, und in ihren Sünden dahin fterben, 
von Gott verworfen werben, und in fchredticher Angft und 
Verzweiflung dem lebten Weltgerichte beftändig entgegenzittern. 
Und biejenigen,. welche durch Gebet, Kampf und Leiden zur 
volllommenen Reinigung von allen fündlichen Weſen, zur herr 
fihenden Liebe Gottes, zur vollendeten Wiedergeburt durch Got⸗ 
te8 Beiſtand gelangt find, werben zur feligen Anſchauung Got⸗ 
tes aufgenommen werden. 


\ 


Auf biefe beiden ganz entgegengefehten Zuflände der Vers 
worfenen und. der Begnadigten wollen wir aber jetzt unfer 
Nachdenken nicht richten. Laffet uns aber achten auf das Wort 
des h. Geiftes im Buche der Offenbarung: „Nichts Befledtes 
wird eingehen in die heilige Stadt, in dad Reich Gottes,” 
Offenb. 21, 27.5 laffet und achten auf den ‚fo Haren und bes 
fiimmten Aubſpruch unſers Herrn 3. C.: „Wer nicht wieder⸗ 





— Mn — | 
geboren iſt, kann dad. Reich Gottes nicht ſehen!“ Joh. 8, 2. 
An diefem Ausfpruche unferd Herrn dürfen wir nichts Anderen; 
und dieſer Wusfpruch fagt und ganz beflimmt: „Derjenige, in 
dem jene Wiedergeburt noch nicht völlig zu Stande gekommen 
it, wird in das Reich Gotted noch nicht aufgenommen wer⸗ 
den.” Mas follen wie dann fagen? Sollen wir behaupten, 
daß alle Diejenigen, bie ohne Vollendung diefer Wiedergeburt, 
ohne gänzliche Reinigung von allen ihren fündlichen Neigungen, 
ohne volltommene Liebe Gottes dahin fterben, auf Immer umd 
ewig von dem Reiche Gottes werden audgefchloffen werden? 
Schon der bloße Gedanke müßte und in Verzweiflung ftürzen, 
wenn wir's bedenken, wie wir immer fortfahren, mit der fünds 
lichen Neigung im Streite zu liegen, und biefen Streit oft fo 
nachlaͤſſig führen; oft ganz ablaffen von diefem Kampfe, oft in 
bemfelben unterliegen; wenn wir’d bedenken, daß unfere fans 
liche Neigung noch keineswegs unter dad Joch gebracht, der 
Geift noch keineswegs zur vollkommenen Herrſchaft Über das 
Fleiſch gelangt iſt; wenn wir’3 bekennen müffen, daß die Sünde 
noch in und iſt, obſchon mir von Herzen von berfelben befreit 
zu ſeyn wünfchen; daß wir zwar nicht ohne Piebe Gottes find, 
und aber doc immer den Vorwurf machen müffen, daß. voir 
Bott noch wenig Heben, weil wir in ber Erfüllung Seine h. 
Willend, in der Beobachtung Seiner Gebote noch immer fo 
untreu find; daß wir zwar wohl die Erkenntniß haben, daß 
Gott einzig und allein unferer ganzen Liebe werth, daß aber 
unfere Liebe gegen Ihn fo gering, und Seiner fo ganz unwürs 
big fey. Wenn wir dad bedenken, was wir nach der Wahrs 
bett wirklich find, und mehr ober weniger zu bleiben faft im» 
‚mer fortfahren; wenn wir bedenken, daß fo Viele auf halben 
Wege, oder gar auf dem Anfange ded Weges flehen bleiben, 
und, wenn fie abgerufen werden, noch ſtehen: welches Urtheil 
muͤſſen wir dann fällen über unferen kuͤnftigen Zuftand in jener 
Welt? Die Lehre deö Glaubens verdammt uns nicht zur Hölle, 
bie nur Jenen beftimmt ift, bie durch ſchwere Sünden, durch 
ganz umbefämpfte, in ſchweren Sünden fi Außernde fündliche 
Niigungen, durch Verfiodtheit in der Sünde, und durch gaͤnz⸗ 








— a LU 22 


lichen Mangel an aller Liebe zu Bott fich ſelbſt verworfen ha⸗ 
ben, Die Eehre des Glaubens eröffnet und aber.auch ben Him⸗ 
mel nicht; der nur für Jene eröffnet wird, die von aller Sünde, 
von aller Anhänglichkeit an ber Suͤnde, von aller fündlichen 
Neigung volllommen gereiniget, die zur vollkommenen Liebe 
Gottes und durch diefe Liebe zur vollfommenen Herrſchaft des 
Geiſtes über das Fleiſch, zur vollfommenen Wiederherftellung 
ihrer inneren Natur gelangt find.: Go: folgt dans von felbft 
aus der Lehre des Glaubens, wenn und auch dieſe Lehre gar 
feine befondere, beftimmte Offenbarung barüber.gäbe, daß es 
in jener Welt noch einen Mittelftand zwifchen den Begnadigten 
und Verworfenen, noch einen Ort der Neiniguug fir Jene, bie 
noch nicht volfommen gereiniget find, geben muͤſſe. Wahrlicy! 
ed ift kaum zu begreifen, wie Ierlehrer fo ſehr konnten vers 
blendet feyn, diefen Mittelzuftand, den wir durch. Vernunft 
und Glauben anzuerkennen gendthiget find, ganz wegzwleugnen. 
Nur abfichtlicher Erog gegen die Ausfprüche unferer Kirche, nur 
abfichtliche Widerfeglichkeit, nur hartnaͤckiges Bemühen, von 
unſerer Kirche fo weit, ald nur immer möglich, ſich zu entfer⸗ 
nen, Tonnte bie Irrlehrer ‚verleiten, im. Widerfpruche mit fich 
ſelbſt, und mit ihrer eigenen Vernunft in einen ſolchen Irrthum 
zu fallen, dem auch ihre ſpaͤteren Anbänger nicht mehr bei⸗ 
ſtimmen. 

Jener Miltelzuſtand, woͤge derſelbe an einen beſonderen 
Ort gebunden ſeyn, und moͤgen wir dieſen Ort nennen, wie 
wir wollen, wird aber nach der quöbrüdlichen. Lehre bed Glau⸗ 
bens nur bis zum loetzten Weltgerichte dauern: alsdann wird 
kein Mittelzuſtand, Fein Reinigungsort mehr ſeyn; alsdann 
wird Alles zur letzten Entſcheidung gebracht, Alles vollendet 
kon; alsdann wirb nur Bine! und —* mehr fan. 


I. en 
Was haben wir denn in jenem Mitlehnſtande in jenem 
Reinigungsorte zu erwarten? was in demſelben zu hoffen? und 


— 2 
J 








was zu fuͤrchten? — Der Tod kann nur unſeren Leib toͤdten, 


Aber unfere Seele hat der Tod keine Gewalt; der Tod laͤßt 


a» 44 —— 


unfere Seele ganz unverändert in ber nämlichen Beſchaffenheit, 
worin fie im Sterben war, mit diefer naͤmlichen Beſchaffenheit 
. geht fie alfo hinüber in dad Reich der Ewigkeit vor dem Rid- 
terfluhle J. C. Die fündliche Neigung, die wir während un 
ſerer Bebenszeit noch hegten, nehmen wir mit bintiber in bie 
letzte Krankheit; und wenn wir aud in biefer Krankheit damit 
nicht mehr fünbigtn, weil «8 und an Kraft und Gelegenheit 
bazu fehltes fo war’ boch diefe Neigung durch die Krankheit 
keineswegs unterdrädt und vertilgt, fondern. nur auf einige 
Beit aufgehalten; auch durch den Tod wird fie nicht getödtet, 
- Sondern fie erwacht mit und wieder, fobald wir vom Tode in 
jenem Leben erwachen. | oo u 

. Wenn bie Reue volllommen ift, fo hat der fündige Menſch 
mit feflem, unwandelbarem Entihluß von der Sünde fich ganz 
loögerifien, hat fich mit ganzem Herzen zu Gott bekehrt: fo if 
die Liche Gottes in ihm zur Herrfchaft gelommen: fo hat bie 
Eünde feinen Antheil mehr an ibm: fo hat ihm Gott, De 
biefe Wiedergeburt in ihm gewirkt bat,- die Sünde nicht mu 
vergeben, ihn als Kind wieber angenommen, hat ihm alſo die 
ewige Strafe erlaffen; hat ihm auch. die zeitlichen Strafen, bie 
zur Vollendung feiner Reinigung dienen; welche die ihm noch 
übrig. gebliebenen Spüren der Sünde tilgen ſollten, ebenfald 
erlaffen: denn wozu noch dieſe reinigenden Strafen, wenn in 
ihm nichts mehr zu reinigen war? Aber wie fo felten if bie. 
fer Fall, wo eine fo volllommene Reue, welche ben vollkom⸗ 
menen Steg über die Sünde, die vollendete Wiedergeburt zur 
Bolge hat? Wir haben gewiß mehrmals bei der Empfahung 
der h. Sakramente unfere Suͤnden von ganzem Herzen bereuet, 
mit dem aufrichtigen Vorſatze, von denſelben abzuſtehen, durſ⸗ 
ten deßhalb an der Vergebung der Sünde nicht zweifeln; war 
aber alsdann die Neigung zur Suͤnde immer ſchon gaͤnzlich 
unterdruͤckt und getöbtet? mußten wir. nicht oft. lange Zeit ihre 
 Regungen noch erfahren, nicht befländig gegen fie auf unſerer 
Hut feyn durch Wachfamkeit, Gebet und Kampf? Unfere Reue 
und Buße war zwar aufrichtig, darum erhielt fie auch Ber 
gebung ;.aber ganz. volfommen war fie nicht, fonft würde auf 


s 








u — 


der Sieg ganz vollkommen, die Wiedergeburt ganz vollendet 
geweſen feyn. Die noch immer fortdauernden Vebungen muße 
ten unter. dem Beiſtande der göttlichen Gnade dazu dienen, die 
Wiedergeburt zu vollenden. Wenn ed nun in unferen gefunden 
Tagen, ba wir im vollen Beſitze unferer Geiftesträfte find, ums 
ferer Reue und Buße gewöhnlich an einer ſolchen Vollkom⸗ 
menheit fehlt, welche fchon die: vollendete: Wiedergeburt, die 
gänzliche Unterbrüdung aller Ueberbleibfel ber ſuͤndlichen Nele 
gungen, bie vollfommene Herrfchaft der ‚göttlichen Liebe zur 
Folge hätte; wie vielmehr haben wir dann dieſes zu befärchten 
von unferer Reue und Buße auf dem Sterbebette, da bie 
Kräfte unferd Geiftes durch die Heftigkeit der Krankheit oft fo - 
fehr abgefhwächt find? Würde dir auch auf dem Sterbebette 
die große Gnade zu heil werden, daß du in vollem Beſitz 
deiner Geiftesfräfte deine Sünden herzlich bereuen, und zur 
Empfahung der h. Saframente dich - vorbereiten koͤnnteſt; — 

eine Gnade, auf: welche du um deſto weniger rechnen darfſt, 
je weniger du in gefunden Tagen wahre Reue und Buße ges 
uͤbt haſt; — fo barfft du freilich auf Vergebung deiner Suͤn⸗ 
ben mit Zuverfiht hoffen, darfſt wegen deines ewigen Heils 
in’ Ruhe feyn, denn: die erhaltene Vergebung gibt dir vollfoms 
mene Sicherheit vor der ewigen Verwerfung; aber keineswegs 
gibt fie die auch Sicherheit, daß nun zugleich aud alle Spu⸗ 
sen ber fündlihen Neigung auf einmal gaͤnzlich werden vers 
tilgt, die fündlichen Neigungen gänzlich werben ertoͤdtet ſeyn. 
Sind fie bad aber nicht: fo wirft du mit ihnen fterben, fo 

werben fie mit dir erwächen, wenn du vom Rode zum kuͤnfti⸗ 
gen Leben erwacheſt. Rur dieſes wird den Unterſchied machen: 
dir Neigung wird dir alsdann nicht mehr zur Luſt und Freude, 
nicht mehr eine Verſuchung zur Suͤnde ſeyn, wie ſie es in dei⸗ 
nem Leben auf Erden war: ſie wird dir alsdann zum ſchmerz⸗ 
lichſten Leiden, zur Plage und Dual, fie wird, wenn man's 
fo nennen will, alddann bein eigentliches, wahres Fegfeuer ſeyn. 
Denn fieh! dieſe fündliche Neigung, und alle und jede fünds - 
liche Neigung, die dir noch .anklebet, muß bis auf. die lebte 
Spur ganz in die vertilgt und ertöbtet, von allem fündlichen 


— ss — 

Belen mußt du vollkommen gereiniget, und ſtatt deſſen mug 
die vollkommene Liebe Gottes ganz in dir herrſchend geworden, 
mit Einem Worte: bie Wiedergeburt aus dem Geiſte zur herr⸗ 
ſchenden Liebe Gottes muß ganz in dir vollendet feyn, wenn 
du in das Reich Sottes, in die Gefellfchaft der Ausermählten 
‚zur Vereinigung mit Gott, zur ewig feligen Anfchauung Got⸗ 
tes font aufgenommen werben. Das iſt der Weg, den du in 
jenem Leben wirft zu geben haben, ben Bott zu deiner Reinie 
gung und Helligung dich führen wird; und diefer Weg kann 
Fein anderer, als der fchmerzlichfle Leidensweg feyn, und muß 
um befto anhaltender und um deſto ſchmerzlicher feyn, je weiter 
du im Rode noch zurüß und von jenem Ziele noch entfernt 
biftz je mehr du es verfaumet haft, mit freiem Willen die Sünde 
in die zu befämpfen, deſto mehr wirft du dort durch das Feuer 
der Leiden müflen gereiniget und geläutert werden. Möge nun 
dieſer Weg im Ganzen unferem Blick auch noch fo duns 
el und verborgen ſeyn; fo wird er doch durch das Licht. bes 
Glaubens bintänglich flr und beleuchtet. Wenn bie Seele ge- 
trennt ift von dem Leibe, welcher ganz allein den Menfchen 
mit der äußeren Sinnenwelt verbindet: fo hört diefe einen 
welt für ihn auf einmal gänzlich auf: die Sinnlichkeit, . 
welcher alle Sünde entipringt, kann ihn alfo nicht mehr * 
Suͤnde verfuͤhren; uͤherhaupt iſt dann die Zeit der Pruͤfung, 
des Kampfes ganz vorbei; wir koͤnnen nicht mehr fünbigen, 
find vor der Sünde ganz in Sicherheit. Dos iſt ed, was wir 

zu hoffen haben; und dieſe Hoffnung iſt und freilich zum gro⸗ 
“ Gen Troſte, zu großer Beruhigung,. fie darf und aber ja nicht 
verbienden, und und nicht in eine träge Ruhe und forglofe 
Sicherheit einwiegen, die fuͤr unſer ewiges Heil ſo aͤußerſt ge⸗ 
faͤhrlich iſt. 

Was haben wir dagegen zu fürchten? was bat der Menſch 
zu fuͤrchten, wenn beim Eintritt in jene Melt die unordentliche 
Sinnlichkeit in ihm noch nicht unterbrüdt if? O, wie verlaffen, 
wie einfam und dde muß der Menſch alddann fi) fühlen, wenn 
ihm auf einmal Alles genommen wird, was ihm hier die meiſte 
Freude machte, worauf er bier einen fo großen Werth ſetzte; 





— 98 — 

wenn Dem, ber in feinen Gütern reich war, fein ganzer Beſitz 
und Wohlſtand genommen ift, und er fih ärmer, ald der Aermſte, 
fiebt, wenn der Witele nichts mehr bat. von dem Tand und’ 
Schimmer, womit er bier vor den Menſchen zu glänzen fuchte, . 
wenn ber Ehrgeisige, der Stolze bort um deſto mehr fich zuruͤck⸗ 
gelegt und in Niebrigkeit ſirht, je mehr er bier nach Vorzug 
und Hoheit firebte; wenn Derjenige, der hier an den Vergnüͤ⸗ 
gungen der Tafel und an finnlichen Ergöglichkeiten zu fehr fein 
Herz hing, dort folche Sreuden gar nicht wieber findet! Je 

"Heller unfere Erkenntniß, deſto größer wird der Schmerz ſeyn, 
den uns unfere Schmach und Unwuͤrdigkeit verurſacht. Das ift 
der erſte Schritt zue Beſſerung au in dieſem Leben, daß wir 
und den Gelegenheiten, und überhaupt allen Gegenftänden, die 
Der fündlichen Neigung zur Nahrung dienten, entziehen müfjen. 
Haben wir das in dieſem Leben nicht gethan aus freiem Wil⸗ 
len: ſo werden wir's im jenem Leben aus Zwang erdulden müfs 
fen. Alsdann werben wir auch ganz heil die erbaͤrmliche Nich- 
tigkeit der Güter und Freuden, worauf wir hier einem fo gros 
Ben Werth febten, werben unfere Thorheit und Unwürdigfeit 
recht einfehen; werden und ſelbſt verabicheuen, auf's tieffte vor 
und ſelbſt erniedriget, und dadurch zur Demuth geführt werden. - 
Und dieſe Läuterung und Reinigung wird um deflo anhaltenber 
und ſchmerzlicher ſeyn, da wir, weil die Beit der Prüfung vor⸗ 
bei if, nicht mehr mitwirken Fönnen durch Kampf,. und dadurch 
die Vollendung nicht. mehr beichleunigen - fünnen. Wenn nun 
Gott zu unferer Prüfung und Läuterung und mancherlei Leiden 
zuſchickt, und und dadurch. zum Kampfe auffordert : : fo werben 
alsdann Leiden die einzigen Mittel feyn, um unfere „Heilung 
zu vollenden. Haben wir bier das freiwillige Leiden des Kam⸗ 

pfes verfehmäht: fo werden wir alddann mancherlei und vers 
borgene Leiden, die Seine Weisheit ald die wirkfamften für 
und anorduet, und eben daher den eingreifendfien und. ſchmerz⸗ 
lichſten Leiden und unterwerfen müfjen. Denn es ſteht geſchrir⸗ 
ben, und 3. C. Seibft hat ed gefagt, daß wir nur durch viele 
Leiden ‚eingehen „werden in die ewigen Freuden, fo wie ber. 
Menfchenfohn durch viele Leiden in Seine. Herrlichkeit einge 


8498 


gangen iſt. Die Leiden der Seele find unter. allen die größe 
ten und fchmerzlichften; und dieſe find es, wodurch wir in. je= 
nem Buftande, befreit von unferem Leibe, werben geheilet. und 
gereiniget werden. - 

Nicht genug aber, daß jede. fündliche Neigung dort gänze 
lich in uns muß getlgt werden; die Liebe Gottes. muß auch 
ganz in uns herrſchend werben. . Ohne diefe Liebe Gottes für 
und Feine Seligkeit, Fein Himmel. Und nur durch große Lei⸗ 
den der Seele werben wir allein zu biefer Liebe Gottes können 
geführt werden. Befreit von den Banden des Leibe, ben 
Schranken der Sinnlichkeit, wird alddann dad Auge unfers 
Geiſtes geöffnet werden, daß wir Gott erkennen in aller ber _ 
Liebe, die Er und während unſeres Lebens erwieſen hat; alle 
Seine ind erwielenen Gnaden werben und Mar "vor Augen 
fliehen; und eben fo beutlid werden wir unfere Undankbarkeit, 
unſere Gleichgältigkeit gegen Ihn, unſere Vernachlaͤfſigung 
Seiner Gnaden einfehenz; mit Einem Blicke werben wir unfer 
ganzes Leben uͤberſchauen als Ein Werk. der zärtlichften, lange 
muͤthigſten Liebe Gotted gegen und, und als Ein Werk unferes 
ſchaͤndlichſten, ſtrafbarſten Undanks gegen Ihn. Das wirb 
danri unfer Herz mit dem größten Abfcheu erfüllen gegey uns 
fere Sünde, mit dem größten Schmerz, ben es geben ann, 
mit der Reue aud Liebe, die um deſto -fehmerzlicher wird, je 
mehr wir unferen Undanf, und Gottes unendliche Liebe erken⸗ 
nen. Gleich einem verzehrenden Feuer wird biefe Neue ber 
Liebe im Innern der Seele brennen, und diefelbe von den Mas 
keln und Zleden der Sünde reinigen. Es iſt ein bedeutungs⸗ 
volles, warnendes Wort, welches der Apoſtel Paulus fpricht: 
„Eines Seglihen Werk wird offenbar werden; dem ber Tag 
des Herrn wird es fund thun, indem es im Feuer wird offen 
bar werden; und welcherlei eines Jeden Werk fey, wird das 
"Feuer erproben. Wenn Iemandes Werk, befteht, dad er darauf 
gebauet hat, fo wird er Lohn empfangen. Wenn Jemandes 
Merk verbrennt, fo wird er Schaden haben; - er felbft aber 
wird ſich retten, doch -fo, wie durch Feuer.” 1 Kor. 8, 13— 
15. Mit dem aldbann gedffneten Auge unferd Geiſtes werden 





wir die Liebe Gottes ganz vollfommen erkennen in der Hinge⸗ | 


bung Seined Sohnes, in dem Rathſchluſſe Seiner Barmherzige 


Peit und Liebe über und Menſchen, werden wir Gott in Sei⸗ 
ner Liebe erkennen; und ermachen wird fodann in unferem 
Herzen das fehnfuchtvollfte Verlangen nad) Ihm, nach Vereinis 
- gung mit Ihm; und da wir fogleich erkennen, wie. weit wir 
noch von Ihm entfernt, und Seiner Gemeinſchaft fo gar nicht 
würbig find; fo muß auch diefes Verlangen zu unferem größs 
ten Schmerz ſeyn. Was ift dem Liebenden fchmerzlicher, als. 
Trennung von’ dem, den man mit ganzer Seele liebt, ald: bie 
Seligkeit der Vereinigung erkennen, und fie nicht nur entbehs 
ren, fondern fogar derſelben fich unmwerth achten muͤſſen? Gern 
und willig werden wir und fodann allen auch noch fo fchmerzs 
lichen Prüfungen unterwerfen, durch welche Gott uns führt, 
um.und zu Sich zu führen; wir werben dann am Ende kein 
anderes Verlangen mehr haben, ald das Verlangen: Gott zu 
lieben, gern leiden, bamit wir lieben; und biefes Verlangen iſt 
fhon die Liebe felbft. Und dann iſt die Beit der Erlöfung 
nahe: nur durch Liebe koͤnnen wir zu Gott gelangen, Der die 
Liebe ſelbſt iſt. 

Das iſt DaB Ziel, wonach wir fireben, welches wir errei= 
chen müflen, wenn wir zur Seligfeit, zu Gott gelangen wollen. 
O, welcher Gefahr feßen wir un3 aus, wenn wir baflelbe nicht 
befländig vor Augen haben, nicht ernftlih darnach fireben! um 
befto anhaltender und fchmerzlicher wird der Zuſtand vieler verbor⸗ 
genen Leiden in jenem.Xeben für und, ſeyn. Bit einem ſolchen 
Muthe und einem folhen Vertrauen müffen und. wollen wis 
bier darnach fireben, um es ſchon gleich nad) unferem Tode zu 
erreichen; fonft haben wir große Gefahr, ed ganz zu verlieren. 
Welch' eine leichtfinnige Vermeſſenheit, welch' eine- flrafbare- 
Steihgültigkeit gegen unfer ewiges Heil: und gegen Gott würde 
ed feyn, wenn wir erft am Ende unfered Lebend anfangen 
wollten, dad zu üben, wozu. und Gott für unfer ganzed Leben 
berufen hat; wenn wir erſt am Ende unfered Lebens anfangen 
wollten, Ihn zu fuchen und zu lieben! Unfer ganzes Leben fol 

ein Dienft gehorfamer,. dankbater Liebe feyn. Und wir haben, 


12 
. 
0 s 
n q 


bes Herrn Wort, daß bie Liebe die Regel feyn wird, nach wels 
cher Er und richten wird, Wie nun, wenn unfer Gewifien 
und jegt noch den Vorwurf macht, daß wir bis dahin die Liebe 
noch fo wenig geübt, nicht einmal gefucht haben; wenn ed uns 
am Ende unfered Lebend biefen nämlichen Vorwurf machen 
foltet Welch’. ein Unterfchied zwilchen einem Leben, welches, 
wenn auch nicht mit vielen ſchweren Sünden befledt, doch nur 
für die zeitlichen und irdifchen Dinge, welches nur für Erwerb 
und Gewinnt, oder für das finnliche Wohlleben vollbracht ift, 
worin man feinen fünblichen Neigungen, der Ueppigfeit und 
Eitelkeit, der Unlauterfeit oder Unmäßigkeit, immer freien Lauf 
ließ, um die Reinigung und Beſſerung feined Herzend, ‚um 
Gott und dad ewige Seelenheil gar nicht fich bekuͤmmerte; 
welch' ein Unterſchied zwifchen einem ſolchen Leben ohne Bott, 
und zwifchen einem Leben, welched von Jugend auf dem 
Dienfte Gotted geweihet, ein befländiger Dienft der Liebe war; 
zwifchen einem Leben, in welchem. fein Tag ohne Verdienſt fuͤr 
die Ewigkeit war! 

M. Z.! Beiſpiele wirken mehr, als Morte es vermögen. 
Ein großes, großes Beifpiel hat der Herr unter und aufgeſtellt. 
Seit vielen Jahren hat ein Mann wahrlich wie ein Mann 
‚ Gottes unter und gewandelt und gewirkt. Sein ganzes Leben 
war von Jugend auf dem Dienfte der Liebe geweihet. — Das 
Wort ded Hertn: „Laffet die Kleinen ju Mir kommen!“ 
hatte fhon früh in feinem Herzen dad Feuer der h. Liebe ent- 
zuͤndet; und die Gnade des Herrn, mit welcher er treu mite 
wirkte, hatte dieſes Feuer beftändig in ihm unterhalten, daß ed 
durch ihn in fo Vieler, Bieler Herzen entzündet wurde. In 
wie vieler Iungfrauen Herzen hat er dieſes Feuer entzündet, 
da er fie in der Religion unterrichtete, und durch Lehre, Bei⸗ 
fpiel und Gebet zur erften h. Kommunion’ vorbereitete, und fie, 
mit Liebe erfüllet, zu 3. C. führte! An ihm haben wir ein 
fchönes, ermunternded Beifpiel, wie der Segen Gottes fo ſicht⸗ 
bar ruhet auf dem, Der in Einfalt und Demuth vor Ihm wans 
beit, der al’ fein Thun und Laſſen mit Ihm anfängt, der kei⸗ 
nen andern Willen hat, ald den Willen Gottes, der fich zur 





1} 
—n 851 " 
4 


Lebensregel gemacht hat den Ausſpruch des Apoſtels Paulus: 
„ich erachte Alles fuͤr Verluſt, um der Alles uͤbertreffenden 
Erkenntniß J. C. meines Herrn wegen; um Deſſentwillen ich 
Alles dahingegeben habe, und achte es fuͤr Koth, auf daß ich 
Chriſtum gewinne.“ Er hat Ihn gewonnen, an Den er ge⸗ 
glaubt hat, auf Den er gehofft hat, Den er uͤber Alles geliebt 
hat; in Dem iſt er geſtorben mit den Worten: Jeſu, Dir lebe 
dh! Jeſu, Dir ſterbe ich! Jeſu, Dein bin ich!...“) — DO, m. 
3.! laſſet uns ſeinem Beiſpiele folgen; ſo duͤrfen auch wir auf 
einen ſeligen Tod hoffen! 

O Gott! Du biſt die Liebe ſelbſt, Du willſt unſer ewiges 
Heil; gib uns, hier ſo zu leben, damit wir daſſelbe in jenem 
Leben finden moͤgen! Amen. 





Sechs und zwanzigſte Rede. 


| Am ſechs und zwanzigften Sonntage nach dem. 
Feſte der h. Dreifaltigkeit. u 


zerxrt: 


Die parabel vom Senfkorn und Sauerteige in Verbin . 


dung mit den vorhergehenden und nachfolgenden Par | 
Pabeln. Matth. 13. Luk. 8, | 


Shema: 
Kleiner Anfang, fiherer Fortgang, fiegreiche 
Vollendung. 


Unſer Heiland hatte ſchon ſeit geraumer Zeit mit ſo großem 
Eifer gelehrt, ſo viele und große Wunder verrichtet; und doch 


*%) Der ehrwuͤrdige Ov erberg, Regens des biſchoͤflichen Seminariums, 
Lehrer der Normalſchule, der vor kurzer Zeit geſtorben war. 


— 82 — 


‚war und blieb das Häuflein Seiner Anhänger noch immer fo 
Hein und gering, befland noch immer faft nur aus ungebildes 
ten Leuten von den. geringeren Ständen; daran hatten num 
Berfchiedene. aus dem Wolke, vielleicht auch Einige Seiner Juͤn⸗ 
ger Anftoß genommen. Darum erzählte der Heiland I. E. 
mehrere Pgrabeln nach einander, worin Er die Gründe ans 
führte, warum Seine Lehre, Sein Reh, das Reid Gottes 
auf Erden, nur noch einen fo geringen Fortgang nehme, worin 
Er aber zugleich lehrte, daß Sein Reich, fo klein und unfchein- 
bar deſſen Fortgang auch immer ſeyn moͤge, dereinſt mit ſieg⸗ 
reicher Kraft ſich verbreiten, und alle Voͤlker unter Seinen 
Schutz nehmen wuͤrde. 

In der erſten dieſer Parabeln, die uns am Sonntage vor 
Faſtnacht zur Betrachtung vorgelegt wird, ſtellt J. C. Sich 
Selbſt dar als einen Saͤemann, der den Samen auf den Acker 
ſaͤet. Bon dem Samen fiel Mehreres auf den Weg neben 
dem Ader; anderes fiel auf Steine, und wieder andered unter 
die Dornen; Alles diefes brachte Feine Frucht; nur dasjenige, 
was auf den gut. gebaueten Ader fiel, brachte viele Frucht. 
„Seht da,” wollte Er fagen, die Hinderniffe, weßwegen Meine 
Lehre noch fo wenige Anhänger findet! Wiele find zwar, bie 
Meine Lehren und Worte hören; aber ihte Herzen find nicht 
vorbereitet, um diefe Lehren aufzubewahren, und darnach zu 
handeln; fie hören wohl; fobald es aber zum Thun kommt, 
ſobald die Prüfung kommt, fallen fie wieder ab, An den Men- 
fhen felbft liegt alfo die Schuld, weßwegen das Reich Ggptes 
noch fo wenig zunimmt. Das iſt alfo der erfte Grund:- die 
Menſchen hoͤren wohl gern die Lehren des Heils, befolgen ſie 
aber nicht. Die nur hoͤren, ohne darnach zu leben, gehoͤren 

nicht zum Reiche Gottes. 


I. 

Dann gab der Herr einen zweiten Grund an, und ſtellte 
denſelben wieder dar in dem Bilde einer Parabel, welche uns 
am fuͤnften Sonntage nach dem h. Dreikoͤnigsfeſte zur Betrach⸗ 
tung vorgelegt wird. Er ſtellte Sich Selbſt wieder dar unter 











dem Bilde eines Saͤemanns, und fehte die erfte Parabel nur 
etwas weiter fort. „Das Reich ber Himmel,” ſprach Er, „ift 
gleich einem Menfhen, der guten. Samen auf einen Ader 
fäete.” In der erften Parabel war der Aderömann noch im 
Saͤen begriffen, in diefer ift die Ausſaat auf den guten Ader 
fchon gefchehen. : Diefe Parabel handelt alfo von denjenigen, 
deren Herzen zur Aufnahme des göttlichen Worts gut vorbe⸗ 
reitet ſind, und handelt von einem neuen Hinderniſſe, welches 
da macht, daß die goͤttliche Lehre auch bei Vielen von dieſen 
keine Frucht bringt, obſchon fie dieſelbe ſo gut. aufnehmen, und 
die befte Hoffnung geben. O, m. 3.! laflet und merfen auf 
diefes Hinderniß! es geht und fehr nahe an: wir nehmen das 
Wort Gottes wohl- willig an; wo find aber die Früchte? 

„Da aber die Leute fehliefen; kam fein Feind, und fäete - 
Unkraut unter den Waizen, und ging davon.” „Da die Leute 
ſchliefen;“ ſehet da dad Hinderniß! Schlaf bedeutet Mangel 
an Wachfamkeit. Nicht genug, daß wir bie göttliche Lehre, bes 
reitwillig gehört, und gut aufgenommen haben ; mit aller Sorg⸗ 
falt müfjen wir auch wachen, beftändig wachen, um die Lehre 
nicht wieder aus unferem Andenken zu verlieren, müffen reiflich 
über diefelbe nachdenken, und vorzüglich und alfobald für Auss 
übung forgen. O, wie ſſehr betrügen fich diejenigen, welche 
meinen, mit der Anhörung, mit der willigen Aufnahme des 
göttlichen Worts fey. Alles gefchehen, nun fiche es ſchon gut 
mit ihnen! Laffen wir es an Machfamkeit fehlen, erneucren 
wir nicht dad Andenken an die Wahrheit, an die Lehre, erneues 
ven wir den Vorſatz nicht; fo wird der ‚böfe- Feind nicht ruhen, 
neben dem guten Samen Unkraut auszufäen, und es wird ihm 
an Helferöhelfern unter den Menſchen dazu nicht fehlen. — 
Solche Helferähelfer waren zur Zeit unſers Herrn vorzüglich 
die Pharifüer, diefe Verführer des Wolf, welche alle nur ers. 
finnliche Mühe fich gaben, dad Volk von Seiner Lehre abwen⸗ 
big zu machen; fie waren die ärgften Gegner Seiner Lehre, 
waren im eigentlichen Sinn die gefährlichften Irrlehrer unter 
dem Scheine des Giferd für dad Geſetz. Solche Helferöhelfer 
waren zu allen. Zeiten die Irrlehrer, welche in allen Jahrhun⸗ 

ar Thl. te Aufl. Ä 23 


— 3 — 


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derten bis auf den heutigen Tag das Reid Gottes auf Erben, 


Seine Kirche angefochten und nicht aufgehört: haben, Unfraut 


“unter den Walzen zu faen. Der h. Chrifoftomus fprach fchon 


1 


von ſeiner Zeit: „Der boͤſe Feind braucht jetzt nicht mehr ſelbſt 


‚in, Perfon zu kommen; er hat der Helfershelfer genug un⸗ 


ter uns.“ 
Als die junge Saat mit dem Unkraut aus der Erde em⸗ 


© porfproffete; fonnte man anfangs beide nicht unterfcheiden, 
weil es in dortiger Gegend. ein Unkraut gibt, welches dem 


Waizen ganz ähnlich fieht. Das ift es, was die Irrlehre fo 


gefaͤhrlich macht; die Serlehrer willen diefelbe anfangs fo dar: 


zuftellen, daß fie ald ganz Übereinftimmend mit der Lehre des 
Staubend, daß fie ald die wahre und richtige Auslegung der 


Glaubenslehre ericheint. D, wie Mancher hat ſich durch diefen 


biendenden. Schein anfangs verblenden, und ſich dadurd) ſo 
weit verleiten laſſen, daß er nicht mehr zuruͤck konnte oder 
nicht wollte! | 

„Als nun die Saat wuchs und Frucht brachte, da zeigte 
fih aud dad Unkraut.” Es gibt noch jetzt in bortiger Gegend 
ein Unkraut, welches fehr ſchnell wächft, deſſen Frucht der Ges 
fundheit ſehr nachtheilig if. Daher ift der dortige Landmann 


ſehr beforgt, feinen Ader von diefem Unkraut rein zu bewah- 


ren. Wenn daffelbe in zu großer Menge unter der Saat fich 
zeigt, daß ed. nicht mehr ausgeriſſen werden kann: fo iſt er ge= 
nöthiget, dad ganze Land abzumähen, . und beides mit einandre 
zu verbrennen. So haben wir es zu verftchen, was bie Knechte 
zu ihrem Herrn ſprachen: „Willſt Du, daß wir hingehen, und 
das Unkraut ausreißen?“ „Nein,“ ſprach der Herr, „auf daß 
nicht, wenn ihr das Unkraut ausreißet, ihr zugleich mit ihm 
den Waizen ausziehet.“ Wahrheit und Irrthum, Gutes. und 
Böfes, Tugend und Lafter, muͤſſen bier unter einander feyn. 
Ohne die Böfen würden die Guten nicht fo gut, würde ihre 


Tugend nicht fo vollendet werden koͤnnen. Wer Feine Gelegen- 
beit zum Zorn hat, kann nitht in der Sanftmuth, wer Feine 


Veranlaſſung zur Ungebuld hat, kann nicht in der Gebuld, wer 


Feine Unbild oder Beleidigung: erlitten hat, kann nicht in der 








— 55 — 
Berföhnkichkeit gelibt werden. „Aergerniffe muͤſſen ſeyn,“ wie 
der Heiland fpricht, aber hinzufebt: „Wehe Dem, durch den 
Aergerniß Eommt!" Mit Ruhe und Zuverficht laffet und bie 
Zeit der Schneldung abwarten! Sie wird nicht ausbleiben, 
- fie kommt mit jedem Tage. Se fichtbar höher das Unkraut ges 
wachfen ift, deſto leichter laͤßt es fich erkennen und ausſchnei⸗ 
den. Zur Duldung und Schonung der Böfen und vorzuͤglich 
der Irrglaͤubigen hat alfo 3. C. durch diefen Ausſpruch und 
ermahnen wollen. „Ihr möchtet,” forah Er, „mit dem Une 
traut auch den Waizen ausziehen 5” und wollte damit fagen: 
„Denn ihr Gewalt gegen die Irrlehrer braucht: ſo muͤſſen ja 
auch viele Rechtglaͤubige darunter leiden. Welche Kriege ſind 
mit mehr Grauſamkeit gefuͤhrt worden, als die ſchrecklichen Re⸗ 
ligionskriege? in welchen Kriegen ſind ſo viele Greuel veruͤbt, 
iſt ſo viel unſchuldiges Blut vergoſſen worden, als in dieſen 
Kriegen, welche der Herr ſo ausdruͤcklich verboten hat, welche 
dem Geiſte Seiner Lehre ſo ganz entgegengeſetzt ſind! Der 
Irrlehre ſollen wir uns widerſetzen aus allen unſeren Kraͤften 
nicht mit Gewalt, ſondern dem Worte mit Worten, der fal⸗ 
ſchen mit der wahren Lehre; ſollen lieber ſelbſt fuͤr den Glau⸗ 
ben Blut und Leben hingeben, als daß wir gegen die Perſon 


der Irrlehrer Gewaltthaͤtigkeit veruͤbten; Duldung und Scho⸗ 


nung ſollen wir gegen die Perſon beweiſen, wie der himmliſche 
Vater ſie beweiſet, Der Seine Sonne aufgehen und regnen 
laͤßt über die Ader der Ungerechten ſowohl, als der Gerechten. 

„Laſſet Beides mit einander wachſen bis zur Zeit der 
Erndte, und zur Zeit der Erndte werde Ih den Schnittern 
fagen: „Sammelt zuvor das Unkraut, und bindet es in Buͤnd⸗ 
lein, daß man ed verbrenne; den Walzen aber ſammelt in 
Meine Scheuren“ 

Sn der erften Parabel von dem Samen, welder neben 
dem. Adler auf den Weg, oder auf Steine, oder unter die Dor⸗ 
nen fiel, hatte ber Heiland gelehrt, der Grund, weßwegen 
Seine Lehre noch fo wenig Aufnahme finde, Hege ar den Zu⸗ 
hören, an ihrer Unempfängfickeit für Seine Eehre, am ihrem 
rar, an Ihrer Unfolgſantteit. In dieſer zweiten Parabel 

23* 


— 3566 | 


von dem Unkraut unter dem Waizen hat Er's nun gelehrt, her 
zweite Grund, weßwegen Seine Lehre noch ſo wenig Aufnahme 
finde, liege an der unſichtbaren Gegenwirkung des Teufels, 
welcher feine ſichtbaren Anhänger, die Phariſaͤer, als Werk⸗ 
zeuge brauche, um Seiner Lehre den Eingang in die Herzen 
der Menſchen zu verſperren. Darum machte auch der Herr den 
Phariſaͤern den Vorwurf, daß. fie nicht allein ſelbſt nicht hin⸗ 
eingingen in. dad jetzt geöffnete Reich Gottes, fondern auch 
Andern den Eingang in bafjelbe auf ‚alle Art zu verwehren 


fuchten. 


II. 


Um nun Seinen Anhängern Muth einzufprechen, lehrte 
der Herr in den beiden folgenden Parabeln, daß aller biefer 
innerlichen und Außerlichen Hinderniffe ungeachtet Sein Reich 
doch obſiegen; daß diefer Sieg zwar langſam fich entwidelen, 
aber gewiß und berrlich feyn werde. Das lehrte Er in den 
beiden Parabeln vom Senflorn und vom Sauerteige, welche 
und in. unferem heutigen Evangelium zur Betrachtung vorge⸗ 
legt werben. 

Er legte ihnen ein anderes Gleichniß vor und ſprach: 
„Das Reich der Himmel iſt gleich einem Senfkoͤrnlein, das 
ein Menſch nahm und ſaͤete es auf feinem Acker. Es ift-das 
Kleinſte unter allem Samen; wenn es aber aufgewachſen, ſo 
iſt es groͤßer, als alle Gartengewaͤchſe, und wird ein Baum, 
ſo daß die Voͤgel des Himmels kommen und unter ſeinen Zwei⸗ 
gen wohnen.“ Das Senfkoͤrnlein war ein beliebtes Bild von 
einer ganz unbedeutenden Groͤße. Wollten die Juden etwas 
als ganz klein bezeichnen: ſo pflegten ſie zu ſagen: ſo klein, als 
ein Senfkoͤrnlein. So ſprach einſt ber Herr, um die Macht 
des Glaubens zu zeigen: „Wenn ihr Glauben habet, wie ein 
Senfkorn, und ſaget zu dieſem Maulbeerbaume: entwurzele dich, 
pflanze dich in's Meer! er wird euch gehorchen.“ Luk. 17, 6. 
So viel wird fogar ein geringer Glaube vermögen. Und aus 
biefem kleinen Körnchen wählt in dem fruchtbaren Palaͤſtina 
eine Staude hervor, welche einem Baume aͤhnlich wird, fo daß 











— 389 — 


Voͤgel gern auf deren Zweigen niften, Menſchen gern unter - 
ihrem Schatten ruhen. ‚Laßt euch,“ wollte der Herr fagen, 
„der kleine Anfang und unmerktihe Fortgang Meiner Lehre 
nicht muthlos machen! Was Klein anfängt, bat oft ben beften 
Fortgang. Sehet dort die herrlihe, baumähnliche Staube, 
welche und unter ihren weit fich verbreitenden Schatten einlas 
bet! Ihr Bennt das Peine Körnchen, aus welchem biefe große, _ 
herrliche Staude hervorwaͤchſt. Eben fo wird e8 Meinem Rei⸗ 
de, Deiner Lehre ergehen. Langſam ift zwar ihre Wirkung, 
aber fie ift vol Kraft, durchdringend und bie innere menfchliche 
Natur ganz ummandelnd. Dad möge ein anderes Gleichniß 
euch noch deutlicher machen. 

„Das Reich der Himmel iſt gleich einem Sauerkeige, ben 
ein Weib nahm und mengete ihn .unter drei Scheffel Waizen⸗ 
mehls, bis es ganz durchfäuert ward.” Ein kleines Stüd 
Sauerteig wird in die Mitte des Mehls gelegt, welches dar⸗ 
über zugefnetet wird, wo dann aus dem Meinen Stud Sauer⸗ 
teig gleichfam eine verborgene Kraft, eine angenehme, wohl⸗ 
fhmedende Säure audgeht, die dem ganzen Mehlteige fich mit⸗ 
theilt. Wie der Sauerteig von dem Mehle zwar zugebedt, 
aber nicht verzehrt, fondern vielmehr von dem Beinen Sauers 
teige gleichſam überwunden wirb, fo daß dieſer feine durchdrin⸗ 
gende Kraft ihm mitfheilt: fo wird es auch mit dem Lehramte, 
mit Meinem Reiche gehen. „Laſſet und," fagt der h. Chrifos 
fiomus, „die Macht J. ©. erkennen, da wir die Wahrheit 
Seiner Worte mit Augen fehen, und Ihr um doppelter Urs 
fache ‚willen anbeten, erflend: weil Er dieſes vorhergeſagt, 
zweitend: weil Er es außgeführt hat! Er iſt's, Welcher dem 
Sauerteige die Kraft gab. Darum mifchte Er Seine Anhäns 
ger unter die Menge, damit fie von’ ihrer Weisheit mittheilten. 
Niemand alſo ſchuͤtze feine Schwachheit vor! benn groß iſt "bie 
Macht ded gepredigten Worte: Was einmal gefäuert ift, ‚gibt 
wieder Sauerteig für das andere. Zwoͤlf Männer fi ind der 
Sauerteig für die ganze Welt geworben.” ‘= - 

Wahrhaftig! wenn wir darauf achten, wie Klein ber. An- 
fang, und wie wunderbar flegreich die Ausbreitung des gött- 





— 8 — 

lichen Reichs auf Erden war; dann mögen auch wir mohl aus⸗ 
rufen: „Von dem Herrn iſt es geſchehen; und es iſt wunderbar 
in unſeren Augen.” Klein find, alle Anfänge goͤttlicher Werke 
und Anftalten; aber. gewiß und fiegreich und Alles überwindend 
ift ihr Fortgang, ihre Entwidelung. Wie Plein und faum be= 
merkbar fing die Anftalt, die Gefelfchaft an, deren Haupt 
3 ©. war! Mie herrlich breitete fie fih aus! Geh’ nad) 
Bethlehem, nach Nazareth zuruͤck! gehe hin nach Golgatha, 
und fchaue Ihn, den König Ifraeld, am Kreuze hangend. Wer 
hätte da denken können, daß der Glaube an diefen Gekreuzigs 
ten, den Juden ein Aergerniß, den Heiden einge Thorheit, bie 
Religion der ganzen Welt werben wirbe? „Bon dem Herm 
iſt es geſchehen,“ und wahrhaftig! es iſt wunderbar in unſe⸗ 
ren Augen. 

So hatte der Here in ben beiden. erſten Varabeln die Ur⸗ 
ſachen angegeben, weßwegen Seine Lehre, Sein Reich noch 
einen fo geringen Fortgang habe, und in den heiden legten hat 
Er die fiegreichfte_ und gewifjefte Ausbreitung verheißen, und 
dadurch Seine Anhänger zum Pertrauen ermuntert. 


| IL 

Wir haben unſer Nachdenken darauf gerichtet, was uns 
ferm Hellande zu den beiden Parabeln unfered heutigen Evans 
geliums, zu den Gleichniſſen vom -Senflörnchen und vom Sauers 
feige die Veranlaſſung gab, Mit. diefen Gleichniffen hat Er 
Seine Rede an dag Bold befchlofien. Als Er nun mit Geis 
nen Juͤngern nach Haufe ging, . gaben Diele durch ihre Fragen 
Ihm die Weranlaffung , Seine Rede noch fortzufeßen, und eine 
ungemein wichtige Anmendung bavon zu machen. Diefe An- 
wendung ift fo lehrreich für. und, als fie es für Seine Jünger 
war. Das Gleichniß vom Unkraut. unter dem Waizen war ih⸗ 
nen noch dunkel geblieben; daruͤber fragten fie Ihn jest; und 
ſprachen: „Deute und dad Gleichniß von dem Unkraut auf 
dem Ader!" Gr antwortete und ſprach zu ihnen: „Der Sohn 
bed Menfchen iſt es, der ben guten Samen ausſaͤet.“ Nicht 
bloß damals, ald Er in unſerem Fleiſche auf Erben wandelte, 











bat Er den guten Samen Seiner heilbringenden Lehre ausge⸗ 
füet; Er fäet ihn noch immer durch die Diener Seiner Kirche, 
und gibt ihm durch Seine Gnade dad Gedeihen. „DerAder,’ 
fuhr 3. ©. fort, „ift Die Welt. Der gute Same find die Kin⸗ 
des Reichs;“ — find diejenigen, welche bie guten Lehren in 
ihrem Herzen aufnehmen, und darnach Frucht bringen in Ges 
duld. Das Unkraut aber find die Kinder des Boͤſen;“ — find 
diejenigen, welde die Irrlehre in ihrem Herzen auffommen 
laſſen. „Der Zeind, welcher das Unkraut fäete, ft der Zeus _ 
fel.“ Ausdruͤcklich fagt alfo der Here, daß der Teufel nicht 
nur Einfluß habe auf den Unglauben, auf die Irrlehre, nicht 
nur Antheil habe an dem Unglauben, an der Irrlehre, fondern 
daß fie urfprünglich von ihm herkomme; mit Einem Worte: 
Er erklärt den Unglauben, die Irrlehre für eine Ausfaat des 
Teufels. Wer das nicht glaubt und anders lehrt, ift felbft ein 
‚ Serlehrer, und feine Lehre: ift felbft eine Ausſaat des Teufels. 
Die Seine Lehre nicht annehmen, Seiner Lehre fi) widerjegen, 
find vom Xeufel befäet, find. Kinder des Böfen, find Satans⸗ 
kinder. So fprad Er. einfi zu den Pharifäern: „Ihr feyb von. 
dem Water, dem Teufel, und nad euered Vaters Gelüften 
wollet ihr thun.” Joh. 8, 44. In Seinem Geifte ſpricht Jo⸗ 
banned: „Wer Sünde thut, ber ift vom Teufel: denn ber 
Teufel fündigst von Anfang an. Dazu iſt der Sohn Gottes 
gekommen, daß Et die Werke des Teufeld zernichte... Daran 
ift es offenbar, welche die Kinder Gottes find, und welche Die 
Kinder des Veufeld: Jeder der nicht gerecht ift, ift nicht aus 
. Gott, und wer feinen Bruder nicht Liebet.” 1. Joh. 3, Su. 10. 

„Die Ernte," fuhe der Heiland fort, „if dad Ende der 
Welt. Die Schnitter find die Engel.” Sehr häufig kommen 
im ‚alten Bunde die Engel vor als Diener, alb Gefandte Got⸗ 
tes, um Seine Befehle unter den Menfchen zu vollziehen, um 
Seine Verheißungen den Menfchen bekannt zu machen. „Sleichs 
wie man benn dad Unkraut ausreißet und im Heuer verbrennt, 
fo wird's auch fern am Ende der Welt;“ fo. fprach ber Herr, 
und offenbarte Sich jet den Juͤngern ald Denjenigen, Der 
Selbſt die Engel Gotted zu ‚Seinen Dienern bat, Der Seibft 


— 30 — 


an jenem age dad Gericht halten und bie ewige Scheidung 
vornehmen wird, Indem Er fortfuhr und fprah: „Der Sohn 
des Menfchen wird Seine Engel fenden, und fie werden ſam— 
mein aus Seinem Reiche alle Aergerniffe, und bie da Böfes 
ſtiften;“ dann werben bie Ungläubigen, bie Irrlehrer, Ihn er- 
kennen, da werben fie fehen, auf Men fie geflochen haben; — 
„und die Engel werben fie werfen in den Feuerofen, da wird 
feyn Heulen und Zähneknirfchen.” Sehet da dad furchtbare 

Ende aller Böfen, aller Ungläubigen und Serlehrer, die durch 
eigene Schuld im Unglauben beharren, und der Lehre des Heild 
ihr Herz verfchliegen! Sehet da, wie vermeflen Jene handeln, 
welche, dem ausdrücklichen Worte des Herrn zuwider, bem 
Teufel allen Einfluß auf dad Boͤſe, auf Unglauben und Irr⸗ 
thum abzufprechen, ja ihn felbft auf alle Art: wegguleugnen 
und wegzufpotten fich 'erdreiften. 

Mit der erhebenden Werheißung beſchließt der Herr Seine 
Lehre: „Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne, 
in ihres Vaters Reich.“ „Nicht, Tagt der h. Ehrifoflomus, 
„als würden fie nur wie die Sonne glänzen, fondern weil und 
fein anderes mehr glänzendes Geftien befannt iſt; darum be⸗ 
dient Er Sich dieſes Gleichniſſes. Weil die Gerechten im Him⸗ 
mel ſeyn, Er aber auf die Erde Fommen und alle Menfchen 
richten wird: fo ſteht Er da wie ein König:mit Seinen Freun⸗ 
ben, und führt fie ein in jenes gluͤckſelige Reich.“ Ä 

Durch diefe Weiffagung hatte der’ Hear J. C. Seinen 
Züngern die Ausſicht in die herrliche Vollendung Seines Reichs 
in der Ewigkeit eröffnet, hatte durch die Offenbarung von bem 
‚großen. Scheidungstage ihre Herzen erſchuͤttert und erhoben’ 
„Das iſt das Ende,” wollte J. C. Seinen Juͤngern fagen’ 
„das furchtbare Ende derjenigen, die an Mich nicht glauben, 
Meiner Lehre nicht folgen wollen; das ift das felige Ende 
Meiner treuen Anhänger und fiandhaften Bekenner. Alles, als 
les muß euch alfo daran gelegen feyn, Meine Lehre zu erfen- 
nen.und zu befolgen; nichts in der Welt muß euch fo werth 
ſeyn, welches ihr um Meinetwillen aufzugeben nicht gern be= 

it waͤret. Ich habe.euch ‚die Flegreiche Macht des göttlichen 








“ F 


Wortes in Gteichniffen zu erkennen gegeben; jetzt will ich euch 
den hohen, unvergleichlichen Werth deſſelben ebenfalls in Gleich» 
niffen zeigen. „Wer Ohren hat zu "hören, ber höre,” ſprach 
Er, um fie. vorzubereiten auf die wichtige Lehre, die Er ihnen 
jegt geben wollte, auf die Anwendung, die Er von ben vori« 
gen Sleichniffen jeßt machen wollte. 


.W. 


Und diefe Anwendung machte Er. in folgenden Gleichnifs 
fen, indem Er ſprach: „Wiederum ift dad Reich der Himmel 
gleich einem verborgenen Schage im Adler, weichen ein Menich 
fand und verbargz und vor. Freude über denfelben geht er hin, 
und verfauft Alles, was er hat, und kaufet diefen Ader.” Ob, 
es Recht fey, den Ader mit dem Schatze auf ſolche Art an ſich 
zu bringen, davon follte in dieſem Gleichniſſe Feine Rebe ſeyn: 
‚nur dad eifrige Beſtreben, nur die bereitwillige Aufopferung 
feiner ganzen Habe, um den Schatz zu gewinnen, der unver= 


gleichlich mehr werth fen, als Alles, was man befige, wollte 


ber Herr durch dieſes Gleichniß recht ins Licht fielen. Eben 
fo auch in dem folgenden, „Wiederum ift das Meich der Him- 
mel. glei einem” Kaufmann, ber edle Perlen ſuchte. Da er 
nun eine Föftliche Perle fand, ging er hin, und verkaufte Alles,. 
was er hatte, und kaufte dieſelbige.“ Perlen und Edelfteine 
gehören zu ben größten Koflbarkeiten. So lehrt auch Solomon 
Weisheit hoͤher als Silber, Gold und Korallen ſchaͤtzen. Sprchw. 
8, 10. 11. „Der Heiland wollte uns dadurch lehren,“ ſagt 
der h. Chriſoſtomus, „daß wir um der goͤttlichen Lehre willen 
nicht nur Alles hintanſetzen, ſondern daß wir es auch mit Freu⸗ 
den thun ſollen. Derjenige, welcher Alles daran wagt, muß. 
uͤberzeugtſeyn, daß fein Schritt nicht Verluſt, ſondern Gewinn. 
ſey. Siehſt du, wie in der Welt das Evangelium, und im 
Evangelium die Guͤter verborgen ſind? Wenn du nicht Alles 
verkaufeſt, kaufeſt du es nicht: wenn bein Sinn nicht mit allem 
Ernſt darnach ſtrebt, findeſt du es nicht. Zwei Dinge ſind 
alſo noͤthig: von dem Irdiſchen ſich locreihen und ſorgfaͤltige 
Wachſamkeit uͤben.“ | . 


— — 11 — 

Damit wir aber auf dad Evangelium, auf: die göttliche 
- Lehre allein uns nicht verließen und nicht meinten, der bloße 
Glaube fey. allein hinlänglich zur Seligkeit, trug Er nod ein 
anderes fürchterliches Gleichniß vor, indem Er fprach:- „Wie⸗ 
derum iſt das Reich der Himmel gleich einem Nebe, dad in's 
Meer auögeworfen wird, und mit dem man Fifche von allerlei 
Gattung fängt. Wenn es voll ift, fo ziehen fie ed heraus, 
fegen fih am Ufer, fammeln die guten in Gefäße, die ſchlech⸗ 
ten aber werfen fie weg.” Im diefem ihnen fo bekannten Bilde 
laͤßt Er ſie wieder das goͤttliche Gericht, den großen Scheidungs⸗ 
tag erblicken, um dieſe Lehre deſto tiefer ihrem Herzen einzupraͤ⸗ 
gen und ihnen ganz unvergeßlich zu machen. „So wird es auch 
ergehen am Ende der Welt. Die Engel werden ausgehen und 
die Bdfen von den Gerechten fcheiden, und fie in ben Feuer⸗ 
ofen werfen; da wirb feyn Heulen und Zaͤhneknirſchen.“ 


Wer zur Erkenntniß J. C. und Seiner Lehre gekommen 
iſt; wer da glaubt, daß in J. C. alle Schaͤtze der Wahrheit 
und der Erkenntniß verborgen find; wer: durch Erfahrung weiß, 
was 3. ©. fagt: „Wer Meine Worte hat, und darnach thut, 
der wird es ſelbſt erfahren, daß fie aus Gott ſind;“ wer es 
glaubt, daß J. C. ihm gegeben iſt zur Gerechtigkeit und Weis⸗ 
heit, zur Heiligung und Erloͤſung; wer in J. €. das Heil ge⸗ 
ſucht und gefunden hat, wer nur den lebendigen Glauben und 
den aufrichtigen Willen hat, fein Heil allein in Ihm zu für 
den; wer bie Seligkeit des verborgenen Umgangs mit Ihm 
ſchon gekoftet hat: wie wird dem alles Andere fo nichtig vors 
kommen gegen die Eine Angelegenheit, Ihn zu fuchen, Ihm 
“näher zu fommen, Ihn zu fi nden! wie wird er Alles für Ihn 
hinzugeben und aufzuopfern fo bereit ſeyn! wie wird. er aus 
vollem Herzen mit einftimmen in dad Wort bed Apofleld: „Was 
‚ mir Gewinn war, da3 habe ih um 3. €. willen achtet für 
Verluſt. Ja, ich erachte Alles für Verluſt, um ber Alles übers 
treffenden Erkenntniß J. C., meined Herrn, wegen, um Deſſen 
. „willen ich Alles dahin gegeben habe, und achte es für Kath, 
auf. daß ich Chriftum gewinne!” Phil 8,7. 8 = 


* 








— DM — 


O Gott! daß man einen ſolchen lebendigen Glauben hätte! 
daß man einen folchen verborgenen feligen Umgang mit feinem 
Heilande pflegen möchte! — höre ich Manchen in feinem Her⸗ 

zen ſeufzen. Faſſet Muth, wenn ihr auch noch ſo weit ent⸗ 
fernt zu ſeyn glaubt! Das Verlangen iſt wenigſtens ein Kenn⸗ 
zeichen des Anfangs: wo nur ein Anfang, wenn auch ein noch 
fo .fchwacher, noch fo geringer Anfang, da ift auch die größte 
Hoffnung, die Hoffnung zur herrlichfien Vollendung. Denket 


an dad Senftörnchen, an den Sauerteig. Wie in dem äußers : 


lichen, fo auch in dem innerlichen Reiche 3. C. auf Erden, wel: 
ches in unferem Innern, in unferem Herzen iſt: — ein Eleiner ' 
“ Anfang, ein- ficherer Fortgang, eine. herrliche Vollendung. Mas 
vielverfprechend und groß anfängt, hält nicht lange Stand. 
Fanget einen jeden Tag fo an, als wenn ihr an felbem erft 
anfinget, euer Heil zu wirken, und bemüthiget euch vor dem 
Herrn in lebendiger Erkenntniß eueres Unvermögens und euerer 
Unwuͤrdigkeit, fo daß ihr gleichfam mit Nichts anfanget; ja in 
Wabrheit mit Nichte, fo viel ed euer eigened Wirken und Thun, 
warauf ihr fo wenig euch verlaffen koͤnnt, betrifft, Dann uͤber⸗ 
gehst such gang mit Finblicher Zuverficht dem Herrn. Je ſchwaͤ⸗ 
cher, je bülflofer, je weniger auf euch felbit, je mehr auf Ihn 
verfrauend ihr vor Ihm ericheint: um deſto mehr ſeyd Seiner 
Huͤlfe gewiß.. Der Herr hat es verheißen und wirb es erfuͤl⸗ 
ken: ’„Bertranst auf Mich! Sch babe die Welt überwunden !" 
Vertrauet auf Ihn! - und es wird euch gegeben werden, daß 
ihr dereinſt einftimmen. koͤnnet in den’ Lobgefang des Apoſtels: 

„Gott ſey Dank, Der uns den Sieg verliehen hat durch un⸗ 
ſeren Herrn Jeſum Chriſtum!“ 1. Kor. 1 Ils⸗ 57. Amen. 








Sieben umd zwanzigfte Rede, 
Am lebten Sonntage nach dem Zefte der heiligen 
Dreifaltigkeit, 


Sm Jahre 1816. 





IJert: 
„Woher nehmen wir Brod, daß dieſe zu efien haben? zu 
Joh. 6, 6. 
z bemat | 
Bon der hriftlihen Wohlthätigkeit. 


ober nehmen wir Brod, daß diefe zu effen haben?” fo 
fragte unfer Here, prüfend die Jünger, ald Er mehrere Tau⸗ 
-fende von Menfchen, die Ihm in die Wüfte gefolgt waren, 
am Abende, ehe Er fie entließ, zuvor mit Speife erguiden 
wollte. „Woher nehmen wir Brod, daß diefe zu effen bekom⸗ 
men?” fo denkt und feufzt jest mit befchwertem Herzen mans 


eher beforgte Water, manche befümmerte Mutter, wenn fie bins 


bliden auf fi und auf ihre Kinder, auf den geringen, zum 
heil ſchon verborbenen Vorrath im Haufe, nnd auf’den lan⸗ 
gen drohenden Winter, ber fon gleich beim Anfange mit fo 
fuͤrchterlicher Strenge einbricht. Ihre Sorge und Bekuͤmmer⸗ 
niß fcheint wahrlich nicht ohne Grund zu ſeyn. Ein folches 
Fahr, wie dad gegenwärtige, haben auch die Aelteſten unter 
und nicht erlebt. : Durch bie anhaltenden Regenguͤſſe im vers 
floffenen Sommer und Herbſt find unfere Saaten auf den Fel- 
dern und unfere Gartenfrüchte verborben, zum Theile gänzlich 
zernichtet worden; noch jet, beim Anbruch bes Winter, liegt 
auf vielen Aeckern geichnittened Korn unter dem Schnee, und 
wartet auf einen flüchtigen Sonnenblid, um halb verfault von 
dem trauernden Landmann eingefcheuert zu werben. Schon 





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find deßwegen die nothwendigſten Lebensbebürfniffe auf einen 
ganz ungewöhnlichen, ungeheueren Preis geftiegen. Das. haben 
wir ſchon wirklich zu leiden, und was haben wir noch zu 
befürdhten? — Auch, die‘ Einfaat ift gehindert, und dadurch 
die Hoffnung auf eine beffere Zeit im künftigen Jahr vereitelt. 
Keine Ausfaat, und Feine Einfaatz wovon werben, wir im 
kuͤnftigen Jahre zu leben haben? IR es dabei nicht zu befürchs 
ten, daß aus der fchlechten, zum Theil verborbenen Nahrung, 
zu welcher wir jeßt gezwungen find, allerhand Seuchen und 
Krankpeiten unter Menfchen und Vieh fich erzeugen, und. dad 
Uebel noch weit mehr vergrößern werden? Wir können es 
und nicht verhehlen:? mit verheerenden Krankheiten und mit 
gräßlichee Hungerönoth find wir bevrohet. 

Doch, meine werthen Zuhörer haben ſich nicht deßwegen 
heut in dem Tempel des Herrn verſammelt, um ihr beſchwer⸗ 
tes Herz ſich noch mehr beſchweren zu laſſen. Wuͤrde es uns 
aber Erleichterung geben, wuͤrde es nicht eine erbaͤrmliche Taͤu⸗ 
ſchung ſeyn, wenn wir und dad Uebel geringer, als es iſt, 
‚ vorftellen wollten? Mir find Chriften, und haben nicht noth⸗ 
wendig, zu falfhen Troſtgruͤnden unfere Zuflucht zu nehmen. 
Betrachten wir die wirklichen und die und drohenden Webel im 
- Lichte ded Slaubend: dann verfchwindet ihre Schredendgeftalt, 
dann erkennen wir, daß fie nicht ein Spiel des Zufalls, wel- 
chen dad Chriftentyum nicht kennt, nicht dad Werk einer eifers 
nen Nothwendigkeit find, fondern daß fie unter der Anordnung 
des allmächtigen, allweifen, allgütigen Regiererd der Welt ſte⸗ 
‚ben, Der vom Anfang, ſchon bei der Schöpfung der fihtbaren 
Natur, eine ſolche Einrichtung und ſolche Geſetze gegeben hat, 
nad welchen gerade in biefem Jahre. eine ſolche Witterung, 
wie wir fie erlebt haben, hat erfolgen müffen, auf daß fie 
Wirkungen hervorbringen follte, die nach Seiner Einfiht für 
das wahre Wohl, für dad Seelenheil der jet hier lebenden 
Menfchen die beften und zuträglichften wären. Das ift unfer 
Troſt und unfere Beruhigung, daB wir im lebendigen Glauben 
bekennen und ausrufen können: „Der Here hat es gethan, und 
was ber Here thut, iſt allezeit wohlgethan.” Wer hat den 





— 866 — 

Rath des Herrn je ergründet? wer darf zu ihm ſprechen: „war⸗ 
um haſt du uns das gethan?“ Hat uns nicht der Herr ſo 
viele Beweiſe, ‘fo viele Verſicherungen Seiner väterlichen Liebe 
und Fürforge gegeben, daß wir auch dann, wenn feine Hand 
fchwer auf und liegt, daB vollfommenfte Vertrauen zu Ihm 
faffen, daß wir eben dann, wenn Seine Fürforge und Liebe 
und zu mangeln fcheint, am dringendfien müffen angelrieben 
werden, Ihm unfer ganzes. unbedingted Wertrauen zu bes 
weiſen? 

So iſt dann unſer heutiges Evangelium, von dieſer Seite 
betrachtet, für und ungemein wichtig und lehrreich, es ift wahre 
haftig ein Evangelium zu rechter Zeit. Es ermuntert zum 
“ Bertrauen, ermuntert zugleich zur chriftlichen Wohlthätigkeit, 
und giebt und eine für die Uebung der Wohlthaͤtigkeit unge⸗ 
mein wichtige ‘Lehre, welche befonder& zu jegiger Zeit unfere 
größte Beherzigung verdient. 


| L 
„Woher Faufen wir Brod, daß diefe zu effen bekommen 2” 
ſprach der Herr, um, wie Johannes fagt, die Jünger zu prüs 
fen, um nicht nur ihr Vertrauen, fondern auch ihre Menfchen- 
liebe zu prüfen, und fie zur Wohlthätigkeit zu ermuntern. Die 
Jünger hatten, wie Markus erzählt, ihre Beforgniß fchon geaͤu⸗ 
fert, indem fie gefprochen: „Es ift ſchon fpät am Rage, Dies 
fer Ort ift abgelegen, entlaß alfo dad Wolf, daß ed in die um= 
HKegenden Dörfer und Flecken gehe, und ſich Brod kaufe; denn 
fie haben nichts zu eſſen.“ Um ihr Mitleiven zu erwecken, hatte 
der Herr zu ihnen gefprochen: „Gebet ihr ihnen zu. effen!” 
- Bereitwillig dazu hatten fie geantwortet: „Sollen wir hinge- 
ben, und für zweihundert Denare Brod Faufen, und ihnen zu 
eſſen geben?!" Philippus hatte Dabei bemerkt: „Das wird 
kaum binreichen, daß Jeder auch nur etwas weniges bekomme.” 
So viel betrug. alfe ihre ganze gemeinſchaftliche Baarſchaft, 
etwa dreißig Thaler nach unferem Gelbe, die alle Zwoͤlfe zu⸗ 
fammen bet ſich hatten. Hnd fie waren nicht nur bereit, biefe 
fhre ganze Baarſchaft, vielleicht den größten Theil ihres dama⸗ 





— 4367 — 


ligen Reichthums, alſobald hinzugeben, ſondern auch die Muͤhe, 
ſelbſt hinzugehen, einzukaufen, zurüdzutragen und zu vertheilen, 
‚gern und bereitwillig zu übernehmen. Wahrlich! eine ſchoͤne 
ruͤhrende Aeußerung ihrer theilnehmenden Liebe, ihres thaͤtigen 
Mitleidens! So hatte die Lehre ihres Meiſters, die Lehre der 
Liebe, bei ihnen fon gewirkt und Wurzel gefchlagen. Am 
Mitleiden fehlte ed alfo den Züngern nicht, aber es fehlte ihnen - 
noch gar fehr am Vertrauen. Und doch waren dieſe nämlichen 
Juͤnger fo eben von ihrer Sendung zuruͤckgekehrt, auf welcher 
fie felbft im Namen ihres Herrn viele Kranfe gebeilet, und an⸗ 
dere Wunder gewirkt hatten; und eben dieſes, diefer Ruf war 
Die Urfache, weöwegen ihnen jest eine fo große Menge Volkes _ 
zu ihrem Herrn und Meifter nachgefolgt war. Und fihon ein 
Mel waren, fie die Zeugen. gerade eines folhen Wunders gewes 
fen, wovon fie jegt wieder die Augenzeugen ſeyn folltenz denn 
doch fehlte es ihnen noch am Vertrauen. Unfer Mitleiden mit 
unferem Nächften muß mit Vertrauen auf Gott verbunden feyn, 
wenn es Gott wohlgefällig feyn fol.” Um die Juͤnger und und 
Alle. im Vertrauen zu befefligen; dad war bie befondere Abficht, 
wozu 3. C. dieſes große Wunder gewirkt hat. Der Herr bes 
durfte nicht einmal jener wenigen Brode und Fiſche, um fo 
viele Zaufende zu fpeifen und zu fättigen; Er bediente Sich 
biefed geringen .Vorrath8 nur dazu, damit dad Munder felbft 
defto einleuchtender und außer allem Zweifel gefeßt würde. 

So laffet und dann auf Ihn vertrauen! Groß, ungemein . 
groß ift doch der Vorrat) an Lebendmitteln, welder uns jebt 
noch übrig geblieben ift, gegen den geringen Vorrath, womit 
der Derr damals fo viele Zaufende ernährt hat. Sollten wir 
dann nicht vertrauen auf Den, Der die Macht hat, in ber. 
größten Noth helfen zu Tönnen, und ben liebreichen Willen 
bat, helfen zu wollen? nicht vertrauen auf Den, Der felbft 
zu unferem Beſten uns in biefe Noth gebracht hat, und gewiß 


. helfen wird, fobald wir ein feſtes Vertrauen zu Ihm faſſen; — 


Der und. gelehrt hat, zu beten: „Unfer tägliches Brod gib und 
heut!“ und uns die Erhoͤrung verheißen hat! 


— 3868 — 

So werden wir durch unſer Evangelium zum Vertrauen 
ermuntert. Aber bloß zum Vertrauen? Hat der Herr uns nicht 
zugleich ein Beiſpiel gegeben, einander zu thur, was und wie 
Er uns gethan hat? Das Wunder iſt uns freilich nicht zur 
Nachahmung gegeben; wir erkennen aber doch in dem Wunder 
ein ungemein lehrreiches, nachahmungswuͤrdiges Beiſpiel, das 
Beiſpiel der liebreichſten Theilnahme gegen unſere darbenden 
‚und Noth leidenden Mitbrüder. Diefed Beilpfel erinnert uns 
an die Lehre 3. C.: „Thuet Gutes, wo ihr auch nichts dafür 
zu hoffen habet! alddann wird euere Belohnung groß, und ihe 


werdet Kinder des Allerhöchften feyn, Der auch gegen die Uns 


dankbaren und Böfen mohlthätig iſt! Gebet, und euch wird 
gegeben werden!“ Luk. 6, 35. 
Aber noch ein anderes Beiſpiel hat der Herr in dieſer 
wundervollen Begebenheit uns aufftellen wollen, - „Nachdem 
Alle gefättiget waren,” ſprach J. C. zu: Seinen Juͤngern: 
„Sammelt die übrig gebliebenen Broden, damit Nicht ver- 
Ioren gehe!” Sie fammelten alfo auf, und fülleten 12 Körbe 
an mit ben, übrig gebliebenen Broden. Sehet! Derjenige, Der 
es fo eben durch die That felbft bewiefen hatte, daß die ganze 
Natur Ihm zu Gebote ftand, gibt den. Befehl, Dasjenige, was 
‚ gegen das, wad Er mit fo freigebiger Hand ausgeſpendet hatte, 
nur eine unbedeutende Kleinigkeit war, forgfältig aufzufams 
meln. Was Iehrt uns dieſes Beilpiel? Mir dürfen daſſelbe 
nicht bloß anfehen. als ein Zeichen von Achtung gegen da3 
Brod, gegen diefe Föftliche Gabe des Himmel, gegen dieſen 
wefentlichen Theil unferer Nahrung; eine Achtung, die dem 
Menfchen fo natürlich ift, daß man bewegen zu fagen pflegt: 


„das Brod ſollſt du nicht mit Füßen treten!” ‚Nein, unfer 


. Herr 3. C. bat und auch hierin das .Beifpiel geben wollen, 
daß wir im Kleinen Sorgfalt und eine vernünftige Sparfams 
keit anwenden follen, um, wenn bie Noth ed fordert, auch 
wahrhaft wohlthätig und- freigebig feyn zu Lönnen. Wenn 
Er, Dem Alled gehörte, doch dad Geringe nicht verfömmen zu 
laſſen lehrte, und für Seine Perfon als Menfch nicht fo viel 





— 38 — 


zum Eigenthum behielt, daß Er nicht einmal hatte, worauf Er 


Sein Haupt niederlegen konnte; wenn Er, der Herr von Als 
lem, arm’ unter den Armen einherging; fo werden wir Durch 
diefes Beiſpiel um defto dringender aufgefordert, freu zu feyn 
im Kleinen, auch das Geringe nicht zu verfchwenden oder un- 
nüß verfommen zu laflen, im Kleinen forgfältig und fparfam 
zu feyn, um, wenn ed feyn muß, auch im Großen und freu 
beweifen zu koͤnnen, um Freigebigkeit und Wohlthaͤtigkeit bewei⸗ 
ſen zu koͤnnen. 

Nicht wahr, m. C.! das iſt die Lehre, die uns aus dieſem 
Beiſpiele unſeres Heilandes gleichſam auf die Zunge gelegt wird. 
Und dieſe Lehre darf wahrlich nicht unter die geringeren gerech- 
net werben, fie ift vielmehr von der größten Wichtigkeit. Denn, 
wenn der Heiland die Uebung der Liebe nicht nur aufs drin- 
gendſte empfiehlt, fondern ald ein nothwendiged Bedingniß, um 
ind Himmelreich aufgenommen zu werden, mit der größten 
Strenge fordert; fo muß uns ja alles Das, was und als ein 
Hinderniß, um diefe Vorfchrift zu erfüllen, im Wege fleht, von 
der größten Bedeutung feyn; von der größten Bedeutung alfo 
die Lehre, die und Anweifung gibt, dieſes Hinderniß aus dem 
Wege zu räumen. Nun ift e8 wahr: viele Menfchen wollen 
wohl gern wohlthätig und freigebig feyn, noch Mehrere wün: 
ſchen wenigftens den Namen zu haben, ed zu feyn. Der Name 
eined Menfchenfreundes fteht ja bei Chriften und Nichtchriften, 
bei Vornehmen und Geringen, bei Guten, fogar auch bei Bü- 
fen, in größter Achtung. Aber mit diefer Tugend geht es, wie 
mit jeder anderen. Man will die Tugend wohl; aber die Mit- 
tel, die dazu erfordert werden, will man nicht. Darauf dür- 
fen wir immer die Antwort anwenden, die 3. C. den Söhnen 
des Zebedäus gab: „Koͤnnet ihr auch den Kelch trinken, den 


Ich trinken werde?” Jede Tugend fordert Opfer, fordert Anz 


firengung, Kampf, Entbehrung und Ueberwindung ; und das iſt 
ed, was man fcheuet,. dad iſt der bittere Kelch, den man nicht 
trinken will. 

Das gilt nun, und zwar vorzuͤglich zu jetziger Zeit, von 


ber edlen, ſchoͤnen Zugend ber MWohlthätigkeit und Menfchenz 


ge Thl. ate Aufl. 24 





— 0 — 


liebe. Man moͤchte ſie wohl gern im Beſitze haben, und wirk⸗ 
lich uͤben; aber man fuͤhrt ein ſolches Leben, wodurch man alle 
‚ Mittel ſich raubt, fie uͤben, zu ihrem Beſitze gelangen zu koͤn— 
nen. Seder will höher hinaus; das ift ein hervorftechender Zug 
in dem Geifte unferes Zeitalterd. Jeder will höher hinaus; 
das gilt ohne Unterfchied won allen Ständen, von den niederen 
fowohl, als von den höheren und vornehmern. Laſſet und zuerft 
auf einen der niederen, auf den Stand der Dienftboten, unferen 
Blick werfen! Welche Opfer fordert tie Eitelkeit, die bei Vie— 
len — ich mill nicht bloß fagen: an Thorheit, die an einen 
wirklichen Unfinn grenzt! Alles, was man hat, und. fich erwirbt, 
wird auf Puß und Kleidung verwendet; das Neue, wa5 man 
an Anderen fieht, will man auch haben, Fofte es, was es wolle; 
immer will 'man höher hinaus; immer will man's Anderen, 
wenigftend gleich, wenn's möglich ifl, zuvorthun; immer jenem 
Stande, der zunaͤchſt der höhere ift, fo viel moͤglich ift, fich 
näheren. Wie kann nun bei einer folhen Gefinnung und Le⸗ 
bensweife für Werke der Wohlthätigkeit noch etwas übrig blei⸗ 
ben, da auch bei größerer Einfchränkung nur Weniged dafür 
würde übrig bleiben Fünnen! Aber dieſes Wenige, wenn es 
Frucht eigener Entbehrung und Aufopferung wäre, welch' einen 
Werth würde es haben in den Augen Deffen, Der den Pfen- 
ning, den die arme Wittwe in den Opferkaften- warf, über alle 
Gaben der Reichen erhob! Wie Fönnte bei einer folchen Lebens⸗ 
weife für Werke der Wohlthaͤtigkeit etwas uͤbrig bleiben, da bie 
Eitelkeit Alles, fogar auch das hinwegnimmt, was man für 
die heiligfte Pflicht hätte anwenden müffen, um arme eltern 
oder nahe Verwandte in ihrer Nothdurft zu unterflügen! Wenn 
eine Sungfrau, in Begriff, etwas Neued zum Pub ſich anzu: 
Schaffen, zuerft bedenken möchte: „haben meine alten Aeltern 
ſchon Holz, daß fie diefen Winter über nicht zu frieren brau- 
chen?” und nun hinginge, und das, was fie in den Laden 
bringen wollte, auf ben Markt brachte, um Holz dafür zu kau⸗ 
fen; die Engel des Himmeld würden dieſes Opfer, von dem 
Dank der eltern begleitet, vor Gott bringen, und ihr einfa= 
ches, fehlechtes Kleid wiirde ihr fehönfter Schmud feyn. — Und 








— 871 — 


was bei den niederen Ständen ein Pub oder ein Kleibungs- 
ſtuͤck ift, das ift bei höheren etwas Anderes: bier find aber die 
erfünftelten Bedürfniffe weit mannigfaltiger, und weit koſtſpie⸗ 
liger. Man hat in einem fremden Haufe etwas Neues gefe- 
ben; man will und muß es auch haben. Man richtet fich im: 
mer nach denen, die. ed noch fihöner haben, die noch etwas hoͤ⸗ 
ber ſtehen; zu diefen, immer höher will man hinauf. Fern fey 
es von und, jedes den Menfchen fo natürliche Streben, feine 
außerliche Lage zu verbeffern und zu verfchönern, geradezu als 
unrecht und ſuͤndlich verdammen zu wollen! ES ift vielmehr 
billig und anftändig, daß man nach feinem Stande und nad 
der Sitte feiner Zeit fo viel fich richtet, als eine höhere Pflicht 
ed zuläßt. Wenn aber jenes Streben audartet in eine Sucht, 
die unnöthige, Eoftfpielige Ausgaben fordert, und dadurch alle 
Mittel raubt für die Werke edler Wohlthätigkeit und Menfchen- 
liebe, dann ift doch wahrlich eine folhe Sucht eine unedle, des 
Menfchen, des Chriften durchaus unmwürdige, unheilige und 
frafbare Sucht zu nennen; und das ift fie wahrhaftig zu jetzi⸗ 
ger Beit, da die Noth rund um und her um Hülfe fchreiet. 
Ach, wie ift der fchlichte, einfache, mit Wenigem fi begnü- 
gende, ſchoͤne Sinn unferer Vorfahren fo ganz und gar von 
uns gewichen! Bon biefem Sinne befeelt, konnten fie dann 
auch, wenn Religion und Glaube ihre Liebe in Anfpruch nahm, 
Werke aufführen, und fo viele milde Stiftungen gründen, über 
welche die jebige erfchlaffte Menfchheit erflaunet, die fie für un- 
möglih halten würde, wenn nicht die Wirklichkeit gegen fie 
zeugte. Und fo hat ed durch die That ſelbſt fich bewährt, daß 
- edle Genügfamkeit, mit Religion und unermüdeter Nächften- 
liebe im Bunde, Werke, die an's Wunderbare grenzen, zu Stande 
bringen kann. Wenn wir nicht jene fo flarf unter und herr⸗ 
ſchende Sucht, immer höher hinauf zu wollen, befonders zu je= 
biger Zeit der Noth, mehr in ihre Schranken zuruͤckweiſen; fo 
erſticken wir die Liebe in ihrem Keime, fo rauben wir uns alle 
Mittel zu Werken ber Wohlthaͤtigkeit und zu Uebungen wahrer 
Adchſlenliche. 
24 * 


— 372 — 


Die Nächftenliebe hat aber unter und noch einen anderen 
Feind, Der eben fo ſtark und eben fo allgemein, wie jene Ei- 
telfeit, feine Herrfchaft unter uns verbreitet und wirklich aus- 
übt. Es ift der Hang zum finnlichen Wohlleben, oder — wie 
die feinere Welt es zu fagen pflegt: der Hang zum frohen Ze: 
bensgenuß. Fern fey ed wieder von uns, eine finftere, mit dem 
Geiſte ded Evangeliums felbft nicht übereinftimmende Sitten: 
lehre predigen zu wollen, die jedes finnliche Vergnügen, jeden 
froben Lebensgenuß in gefellfchaftlihen Kreifen fogleih als 
firafbar verdammte! Nur von der Ausartung ift hier wieder 
die Rede; und diefe Ausartung zeigt fih alle Zage in den 
mannigfaltigften Beifpielen, in den niederen fowohl, als in den 
mittleren und höheren Ständen! Wie weit Foftfpieliger, als fonft, 
ift jet das Leben geworden, das Viele, welche die Mittel dazu 
haben, und wohl noch Mehrere, welche diefe Mittel nicht haben, 
zu führen pflegen! Es find freilich nicht immer wirkliche Aus- 
ſchweifungen des Trunks, die aber doch bei einer foldhen Le: 
bensweife gewöhnlich nicht felten find; es ift die gewohnte, 
tägliche Lebensart, die durch allerhand felbft gemachte, erkuͤn⸗ 
ftelte Bedürfniffe gar zu Eoftfpielig geworden if. Möchte Ei- 
ner, der an eine folche Lebensart fich gewöhnt hat, nur Einen 
Monat Rechnung führen wollen über feine täglichen Ausgaben, 
dahin geworfen und vergeudet bloß für die rohen, finnlichen 
Vergnügungen ded Gaumend; er würde über fich felbft erfchre= 
den, und bekennen müflen, daß ſolche Ausgaben, die er nur 
als Nebenausgaben anfehen darf, mit feinem Vermögen, mit 
feinen Pflichten, und vorzüglich mit feinen Pflichten der Näch: 
ftenliebe, nicht im BVerhältniß ftehen. Aber das Rechnungsfüh- 
ren ift freilich die Sache von folchen nicht, die nichts fo fehr 
fcheuen, als was fie: an ihre Schuld fo ernft und nachdruͤcklich 
erinnert. Und wie häufig findet fich bei den täglihen Zufam- 
menfünften die Antäffe und Gelegenheiten zu großen, koſtſpie⸗ 
ligen Audfchweifungen! O, welche Unterftüßung wird fo oft ber 
Armuth entzogen durch dasjenige, was an Einem Abende, in 
Einer Naht auf eine fo undhriftliche Art verfchwendet, auf 
eine wahrhaft fehlemmerifhe Weife, ohne Maß und ohne Ziel, 








— 33 — 


vergeudet wird! DO, ihr finnlichen Weltmenfchen! bedenket wohl, 


was ihr zu verantworten habet, wenn ihr einen Armen, der. 


gerechten Anſpruch auf euere Hülfe macht, hartherzig abweifet 
mit der leeren Entichuldigung : „ihr Fönntet jeßt nicht helfen!” 
Bedenket wohl, warum ihr es nicht Fönnet! o ihr finnlichen 


Weltmenſchen! feyd wohl auf euerer Hut, damit ihr nicht län . 


ger gehören möget zu der Zahl derjenigen, die der Apoftel Pau- 
lus in Einem flarfen Zuge fo trefflich fchildert mit dem 
Morte: „deren Bauch ihr Gott, deren Ende Verderben iſt!“ 
Wie zeigt fich, auch von diefer Seite betrachtet, der befjere 
Geift unferer Vorfahren zu ihrem Vorzuge und zu unfes 
rer Beſchaͤmung! Es ift wahr: unfere Vorfahren hielten auch) 
zu gewiffen Beiten gefellfchaftlihe Zufammenkünfte, feierten 
Feſtgelage mit vieler Pracht, mit großem Aufwande, der viel- 
leicht den unferigen in ähnlichen Fällen noch übertreffen mochte. 
Aber folche Falle gehörten unter die feltenen: und wie viel ein- 
facher und weniger Eoftfpielig war das Leben, welches in ber 
langen Bwifchenzeit geführt wurde, die etwa nur darin und 
wann durch ein kleines Zamilienfeft an den höheren Feiertagen 
unferer Kirche unterbrochen wurde! Bei dem herrfchenden 


frommen Sinn mußte mit der Zeier in der Kirche auch. zugleich 


eine eier im Haufe verbunden feyn. Und jene gemeinfchaftlis 
hen, feltenen, größeren Feſtgelage waren gewöhnlich jährliche 
Erinnerungen an wichtige Begebenheiten; alle hatten den ſchoͤ⸗ 
nen Zwed, die Herzen der Mitglieder inniger zu vereinigen, 
faft ale waren mit einer gotteödienftlichen Vorbereitung, und 
auch mit einer Almofenfpende verbunden, damit auch der Arme 
Theil nehmen Fönnte an der gemeinfchaftlichen Freude. Das 


Alles ‚verbreitete dann über folche Feftlichfeiten einen gewiſſen 


Ernft, und gab den Gemüthern eine feierliche Stimmung, welche 
den Frobfinn nicht daͤmpfte; fondern nur in ben gehörigen 
Schranken zurücdhielt. Und felbft verfchiedene alterthümliche 
Gebräuche, worüber man jetzt lacht, weil man ihre Bedeutung 
nicht mehr Tennt, mußten dazu mitwirken, um einerfeitd Froh⸗ 
finn und Heiterkeit zu befördern, und zugleich anbdererfeits vor 
Ansfchweifungen zu bewahren, Darum waren denn folche Feſt⸗ 


—_ 394 — 


lichkeiten ein wirkfames Mittel, um Einigkeit und Religion und 
Sittlichfeit zu befördern. Mie ift dad fo ganz anderd gewor- 
. den zu unferer Zeit, da man alle Tage fich vergnügen will, 
nur des finnlichen Wergnügend wegen zufammenfommt, und 
fiatt wahrer Freude nur Efel und Ueberdruß findet! 


III. 


So hat denn das heutige Evangelium uns gar wichtige 
Lehren gegeben. J. C. Selbſt hat durch Sein Beiſpiel mit 
großem Nachdruck zu uns geſprochen: „Willſt du Mein Juͤnger 
ſeyn, fo liebe deine Brüder und beweiſe deine Liebe durch thaͤ⸗ 
tige Hülfe! Umfonft, daß du an Mich glaubſt; ohne die 
Werke ift dein Glaube nur ein todter Glaube Millft du 
aber wahre Liebe üben, fo unterdrüde deine Leidenfchaften, 
deine Eitelkeit und Sinnlichkeit, und ſchraͤnke deine Beduͤrfniſſe 
ein!’ D, m. &! wir müffen es in tiefer Beſchaͤmung befen- 
nen: Ueppigkeit und Verſchwendung find gar fehr unter uns 
berrfchend geworden. Diefe unbändigen Leidenfchaften find es, 
die und gleichlam die Hände binden, daß wir fie nicht aus- 
ſtrecken Eönnen, um den Zraurigen die Thränen zu trodnen, 
den Hungerigen dad Brod zu reichen, und die Noth der Lei⸗ 
denden zu linderen. Und diefer Hang zum finnlichen Wohlle⸗ 
ben und zur Kleiberpracht hat auch jebt, zur Zeit der größten 
Noth, nicht im Mindeften unter und abgenommen; ed geht noch 
immer ben alten Weg, wie man feit langer Zeit her gewohnt 
war. Man will nicht fparen, darum kann man nicht geben 
und nicht helfen. DO, daß doch ein Jeder, che er zu einer 
koſtſpieligen Luftbarkeit oder zu einer beträchtlichen Ausgabe für 
Kleidung fich entfchließt, zuvor im Geifte in die Hütte fo vie 
Ver Nothleidenden fich verfeßen möchte! Siehe dort die arme 
Samilie, Vater, Mutter und mehrere Pleine Kinder! da fehlt 
es an Allem; die Kinder fchreien hungerig nad) Brod, und bie 
Aeltern müffen’s ihnen mit Thraͤnen im Auge verfagen; ſieh, 
wie fie frieren, und die Eltern koͤnnen ihnen Feine ordentliche 
Kleidung, Feine Wärme im Haufe, nicht einmal für die Nacht 
ein ordentliches Bett geben, Und wenn nun auf Hunger, 


®R 


— 375 — 


und Kummer und Blöße noch eine Krankheit hinzukommt: o 
wie groß muß dann das Elend werden! Und wenn bu nun 
das, was du unnöthiger Weife fir Vergnügen oder Kleidung 
beftimmen wollteft, binfchieteft oder hinbrächteft in eine folche 
Hütte voll Leidender, deren es doc fo viele unter und gibt: 
o dann Fämeft du ald ein Engel des Troftes! der erflen drin- 
gendften Noth wäre abgeholfen, und die ganze Familie wäre 
auf längere Zeit erquidt mit Dem, was du fo gut entbehren 
fonntefl. Sene Gabe bat bei Gott den meiften Werth, die 
eine Frucht unferer Selbftüberwindung und eigener Entbehrung 
if. Wer aber fein Herz der Noth verfchließt, und im Wohl: 
eben ſchwimmt, während fo viele feiner Mitbrüder darben: 
gegen den wird fih auch dad Waterherz Gottes verfchließen. 
Auch darum hat Gott jetzt Mangel und Noth über und Fom- 
men laffen, damit wir unfer Herz nicht fo fehr an Die zeitli- 
chen Dinge hängen, mit defto größerem Ernft dad Ewige fu: 
chen möchten, damit Alle, wohlhabende und Duͤrftige, Reiche 
und Arme in defto innigerer Liebe mit einander fich vereinigen 
möchten. Durch die Noth felbft hat Er alfo für unfer wahres 
Wohl aufs befte geforgt, hat Seine Fuͤrſorge und Barmherzig⸗ 
keit eben da, wo fie und zu ermangeln fhien, am wirkfamften 
bewiefen. „Seyd alfo barmbherzig gegen einander, wie euer 
bimmlifcher Vater barmherzig iſt!“ Und dann habet ein feſtes, 
unerfchütterliches Vertrauen auf den Herrn! Er forgt für uns; 
und, von Seiner liebevollen Fürforge überzeugt und durchdrun⸗ 
gen, werben wir am Ende auörufen müflen: „Der Herr hat 
Alles wohl gemacht!” Amen. 


— 386 — 


Zweite Abtheilung. 


Reden an ben Fefttagen der Kirche zwiſchen 
dem dreizehnten und legten Sonntage nach 
dem Feſte der h. Dreifaltigkeit. 





Acht und zwanzigſte Nede. 
Erſte Rede am Feſte der heil. Schubengel. 


4 Zert: 
„Wahrlich! Sch fage euch: Wenn ihr euc) nicht befehret, 
und werdet, wie die Kindlein: fo werdet ihr nicht in 
das Reich der Himmel eingehen.” Matth. 18, 3. 


Thema: 
Ueber die Erziehung der Kinder zur Demuth. 


Dieſer Ausſpruch unſeres Herrn J. C. verdient unſere ganze 
Aufmerkſamkeit ſchon allein deßwegen, weil es Sein Aus- 
ſpruch iſt; noch mehr deßwegen, weil es uns befremden muß, 
daß Kinder als Muſter und Beiſpiel uns aufgeſtellt werden, 
und am meiſten deßwegen, weil derſelbe verbunden iſt mit der 
ſcharfen Drohung: „ſo werdet ihr nicht eingehen in das Him⸗ 
melreich.“ Um dieſen Ausſpruch richtig zu verſtehen, muͤſſen 
wir zuerſt auf die Veranlaſſung dazu, die der Evangeliſt Mar⸗ 
kus uns erzählt, unſere Aufmerkſamkeit richten. Als die Iün- 
ger mit ihrem Herrn und Meifter auf dem Wege nach Kaphar⸗ 
naum waren, hatten fie mit einander darüber geftritten, wer 
wohl der größte unter ihnen, wäre. Dieſes war bald nach der 
Verklärung geſchehen. Daß der Herr drei von ben Juͤngern 


— 31 — 


mit Sich auf den Berg genommen hatte, welche ed ben Ande⸗ 
ren noch verfchweigen mußten, was auf dem Berge fich ereignet 
hatte, und dieſe ed doch wohl an ihnen merken konnten, daß 
etwas ungemein Großes ſich mußte ereignet haben: konnte wohl 
die nächfte Veranlaffung zu dieſem Rangſtreit gegeben haben. 
Dann hatte auch der Herr nocd vor Purzer Zeit dem Petrus 
auf fein Bekenntniß: „Du bift wahrhaftig der Sohn bed le⸗ 
bendigen Gottes!” einen fo bedeutenden Vorzug in Seinem 
Reiche verheißen, und hatte mehrmald von Seinem Reiche ger 
fprochen. Auch war es nicht zu verkennen, daß der Herr den 
Johannes einer befondern Freundſchaft würdigte. Da nun bie 
Sünger von dem Neiche des Meſſias eine finnliche Vorſtellung 
fi) machten: fo glaubten fie nicht nur, daß ihnen zufammen 
ein befonderer Antheil der Ehre in diefem Reiche zufallen würde, 
fondern au, daß der Eine oder der Andere unter ihnen einen 
befonderen Vorzug vor den Uebrigen haben, und daß Einer uns 
ter ihnen wohl der Vornehmſte und Angefehenfte in diefem Rei⸗ 
he feyn würde. Diefer Rang, biefer eitele Vorzug war ed 
alfo, worüber fie mit einander geftritten hatten. 


L, 


Faft immer, wenn von Seinem Reiche die Rebe war, 
erhob fich unter den Juͤngern ein ähnlicher Rangſtreit. Unter: 
wegs hatten fie alfo darüber geftritten. „Als fie im Haufe 
waren,” fagt der Evangelift Markus, „fragte Er fie: worüber 
fprachet ihr mit einander auf dem Wege? Sie aber fchwiegen; 
denn fie hatten auf dem Wege mit einander gefprochen, wer 
der Größte unter ihnen wäre.” Mark, 9, und 32, 383. Sie 
fhämten fi) anfangs, dieſes zu ſagen. Bald darauf Iegten fie 
felbft, wie der Evangelift Markus im heutigen Evangelium er- 
zahlt, Ihm die Frage vor: nicht, wer unter ihnen der Größte 
im Himmelreiche feyn würde; fondern‘ fie fragten überhaupt: 
„Wer ift wohl der Größte im Reiche der Himmel?” Der 
Herr, der ihre Gedanken fah, fah mit Mißfallen den unreinen, 
ehrgeizigen Beweggrund diefer Frage, und ohne auf den Ges 
genſtand derfelben nur im Mindeften Sich einzulaflen, feste Er 


— 88 — 


Sih, und rief die Zwoͤlfe. So umfländlich iſt der Evangelift 
Markus in feiner Erzählung, um damit den Ernſt, womit der 
Herr, diefe Sache behandelte, auszubrüden. Der Herr gab 
nun den Zwölfen die demüthigende Antwort: „Wenn Jemand 
will der Erfte ſeyn, der fey der Lebte von Allen, und Aller 
Diener.” So gab Er’3 ihnen zu verftehen, daß Er das Sn- 
nerfte ihres Herzens durchfchauete, fo fhlug Er ihren Ehrgeiz 
Darnitder. Ein Beweid,, wie nichtig, unftatthaft und erbärm- 
lich ihre Frage in Seinen Augen war. Und um Seiner Ant: 
wort noch defto mehr Nachdrud zu geben, „nahm Er ein Kind, 
fielte «8 in ihre Mitte, herzete ed, und fprach zu ihnen: 
„Wahrlich! Ich fage euch: wenn ihr euch nicht befehret, und 
werdet wie die Kindlein, fo werbet ihr nicht in das Reich der 
Himmel eingehen. Wer denn fich felbft erniedriget, wie dieſes 
Kind; der ift der Größte im Reiche der Himmel.” Merket 
wohl, m. 3.! biefe Unterredung iſt vorgefallen nach Seiner 
Verklärung, nicht lange vor Seinem Leiden und Tode. Schon 
feit langer Zeit hatten die Sünger Alles aufgegeben, waren 
Ihm nachgefolgt und glaubten deßwegen, auf Ehre und An: 
fehen und zeitliche Güter in Seinem Reiche einen befonberen 
Anfpruch machen zu dürfen. Ihrer treuen Nachfolge wegen 
Schienen fie alfo ganz und vollfommen Bekehrte zu feyn. Und 
nun thut Er den Ausfpruh: „Menn ihr euch nicht befehret,” 
gibt ihnen alfo zu verflehen, daß fie noch nicht einmal bekehrt, 
noch fo wenig befehrt feyn, daß fie ihrer gegenwärtigen Gefin- 
nung wegen nicht einmal zu Seinem Reiche gehören, viel weniger 
Anfprüche auf befondere Vorzüge in demfelben machen koͤnnten. 
Und fo war es auch in der That. Sie hatten zwar Alles ver- 
laſſen, aber fich felbft hatten fie noch nicht verlaſſen, ihren Ehr- 
geiz, ihre Anhänglichkeit am Irdiſchen hatten fie noch nicht ver- 
Yafien, und fo hatten fie eigentlich noch nichtd verlaffen. Sm 
biefer Gefinnung Fonnten fie in Seinem Reiche nicht beftchen. 
Wer alfo feine Anmaßung, feinen Ehrgeiz, feine Anhänglich- 
keit am Irdiſchen nicht aufgibt, ber ift noch gar nicht bekehrt, 
ber hat feine Belehrung noch gar nicht einmal angefangen. 








— mo — 


Dann febte der Herr noch hinzu: „Und wer ein ſolches 
Kind aufnimmt in Meinem Namen, der nimmt Mich auf; und 
wer Mich aufnimmt, der nimmt nicht Mich auf, fonbern Den, 
Der Mich gefandt hat." Wer ein folched Kind aufnimmt in 
Meinem Namen, nämlih um Meinetwillen, ibm um Meinet- 
willen Achtung und Gutes erweifet, für feine Erziehung und 
Ausbildung forget, der nimmt Mich auf, und Den, Der Mid 
gefandt hat, weil ein folches, fo unbefangened, anſpruchsloſes 
Kind wohlgefällig ifE in den Augen Gottes, Wer alſo eben- 
falls fo ift, wie dieſes Kind, fo unbefangen, fo anſpruchslos, 
auch der fteht hoch bei Gott, fo hoch, daß Derjenige, der we⸗ 
gen biefer Eigenfchaften ein Kind aufnimmt, vor Gott eben fo 
angefehen werden fol, ald wenn er den Heiland Selbſt auf- 
genommen hätte. Wie befhämend und bdemüthigend für bie 
Zünger, die noch fo vol von Anmaßung waren, und für ung 
Alle, die wir ihnen hierin fo fehr gleichen, Daß der Herr ihnen 
und und ein Kind ald Mufter und Beiſpiel aufgeftellt hat! 

Kinder haben die Fehler ihres Alters, find z. B. ſinnlich, 
befonderd im Eſſen und Trinken; aber eitel und ehrgeizig find 
fie noch nicht; wenn fie das ſchon frühzeitig find, fo ift es 
bloß die Schuld der Aeltern und derjenigen, die mit ihnen um⸗ 
gehen, die leider Gottes oft fchon fo früh mit gefährlichen Lob⸗ 
forlichen, mit der Art, womit fie die Kinder Eleiden, mit dem 
Auffeben, das fie davon machen, eine reine Kinderfeele verun- 
reinigen. O eltern! ihr wiffet und bedenket wahrhaftig nicht, 
was ihr thut, wenn ihr aus thörichter Liebe, die keine Liebe 
ift, euere Kinder zur Eitelkeit verbildet, ihre unfchuldigen Her: 
zen fo früh verberbet. Das Kind fühlt fih in Allem fo ganz 
abhängig; für fich ſelbſt kann es noch nichts, darum fehmiegt 
es fich fo zutraulih an die Aeltern, ihr MWohlgefallen, ihre 
Liebe ift ihm Alles; ed legt noch Feinen Werth auf das, was 
es weiß und kann, ober höcftens nur, um mit dem, was 
es ſchon gelernt hat, den eltern Zreude zu machen; auf fie 
feßt es das größte Vertrauen; ihre Wort ift ihm Wahrheit; in 
ihnen lebt «8 ganz, mit ihnen ift es froh und betruͤbt; ihnen 
Freude zu machen, iſt feine größte Freude. So iſt daB gute, 





noch nicht verbildete Kind dad lebendige Bild der holden De- 
muth, die aber freilich noch nicht die Tugend felbft, aber eine 
fchöne Anlage zu derfelben if. O, daß die Eltern weife ge- 
nug wären, auf diefem Grunde fortzubauen! Was nun beim 
Kinde bloß Anlage ift, das follen wir, wollen wir zur Tugend 
der Demuth gelangen, aus Gründen der Vernunft und des 
Glaubens wieder zu werden fireben; und wenn unfer Gewiffen 
und fagt, daß wir dieſe Tugend nicht haben, daß vielmehr das 
Unkraut der Eitelkeit, des Chrgeized und Stolzed in und Wur- 
zel gefchlagen hat: fo fagt uns der beflimmte Ausſpruch unferes 
Herrn 3. C., daß wir, wenn wir nicht wieder "fo anſpruchs⸗ 
108 und demüthig zu werben ſtreben, ald wir in unferer Kind- 
heit waren, in das himmlifche Reich feinen Cingang finden 
werden. Nicht Kinder follen wir wieder werden; fondern den 
anfpruchölofen, demüthigen, vffenen, einfachen Kinderfinn, den 
wir durch unfere Schuld verloren haben, follen wir und wies 
der eigen zu machen ftreben. In diefem Sinne fchreibt der 
Apoftel Paulus: „Machet meine Freude volllommen, daß ihr 
Eined Sinnes feyd, gleiche Liebe habet, Eine Seele feyd, Das- 
felbe wollet, nichtd aus Eiferfucht und eiteler Ehre, fondern in 
Demuth Einer den Andern erhebe über ſich ſelbſt!“ Phil. 2, 
2. und 3, Eben fo fchreibt der Apoftel Petrus: „Schmüdet 
euch mit Demuth; denn Gott widerfieht dem Hoffärtigen, dem 
Demüthigen aber gibt Er Gnade.” Petr. 5, 5. | 


I, 


Vor einigen Sonntagen haben wir auf dad Wefen ber 
Demuth und auf die Beweggründe, die und zu berfelben antrei= 
ben follen, unfere Aufmerkſamkeit gerichtet. Laſſet und jeßt 
unfer Nachdenken richten auf die Antriebe, die und der Herr 
J. C. in Seiner Lehre und in feinem Beifpiele gegeben bat! 
Denn Sein Ausſpruch in dem heutigen Evangelium ift wahr: 
haftig nicht der einzige, wodurch Er und zum ernfllichen Stre⸗ 
ben nach der Demuth angetrieben hat. Wenn wir es nit 
verkennen können, daß alle Seine Lehren auf die Demuth, als 
auf die Grundlage aller Tugend fich beziehen, und daß Sein 


— 33 — 


ganzer Wandel auf Erden Ein Beifpiel der Demuth war: fo 
Tann es doch wohl feinen wirkiameren Antrieb geben, um uns 
das Streben nach der Demuth auf’3 dringendfle an's Herz 
zu legen. | 

Laflet und daher zuerft achten auf Seine fogenanıtte Berg- 
rede, in welcher, wie die h. Kirchenväter ed bemerkt haben, 
Seine ganze Sittenlehre enthalten ift! „Selig die Armen im 
Geiſte!“ ruft er aus; ihr Netter, ihre Heiland ift fchon erfchie- 
nen, aber nur für die im Geifte Demüthigen, im Geifte Armen 
und Hülfsbedürftigen, die e3 wohl erkennen, daß fie durch fi 
ſelbſt nichts vermögen, die ihr ganzes Vertrauen auf Seine 
Hülfe feßen; für fie will Er ein neues Reich fliften, welches 
nicht von diefer Welt ift, in welchem fie, wenn fie nad Seinen 
Vorſchriften fih richten, als glüdlihe Bürger in Friede und 
Freude den Himmel ſchon auf Erden finden, und gefichert feyn 
folen vor allen Unruhen und Plagen, welche der Hochmuth zur 
Folge hat. Und alle die übrigen Seligkeiten flehen mit dieſer 
Einen, mit der Seligkeit der Demüthigen in unmittelbarer Ver: 
bindung. Selig preifet er die Zrauernden, d. h. Sene, die im 
Geifte der Buße trauern, über ihre Verderbtheit und Suͤndhaf⸗ 
tigkeit, die in Demuth trauern Über ihre Unwürbigfeit vor Gott, 
über ihr Unvermögen, vor Gott gerecht und gut zu werden. 
Er will ihr Tröfter feyn, ihr Verlangen erfüllen. Selig prei- 
fet Er die Sanftmüthigenz feine Sanftmuth ohne Demuth: 
wer fanftmüthig ift, ift ed im Drud und Verachtung und Zu⸗ 
rüdfegung durch Demuth geworben: fie follen durch ihre frieb- 
lihe Sanftmuth erreichen, was Sene, wovon fie geplagt und 
gedrücdt werben, nicht erreichen koͤnnen; fie follen, wie es im 
Pſalme heißt: das Land erben; und Luft haben in großem 
Seelenfrieden, als Gottes Pflegekinder, Ihm zum Preife. Se: 
lig preifet Er die Hungernden und Durftenden, nämlich Jene, 
die in Erkenntniß ihres Umvermögend und ihrer Unwuͤrdigkeit 
nach Gerechtigkeit dürften; fie follen durch Befolgung Seiner 
Lehren und Theilnahme an Seinen Berheißungen volle Befrier 
digung finden. Selig preifet Er die Barmberzigen, d. h., die 
in lebendiger Erkenntniß ihres eigenen fittlichen Elends bare 


— 3484 u. 


. nen Schafe, Groſchen und Sohne, um zu lehren, baß über 
Einen büßenden, d. h. feine Unmürdigfeit erfennenden, um 
Gnade demüthig flehenden Sünder im Himmel größere Freude 
fey, als über neun und neunzig Beobachter des Geſetzes, Die 
im Dünfel ihrer eigenen Gerechtigkeit der büßenden Demuth 
nicht zu bedürfen wähnen. . 

So, wie die ganze Lehre J. C. Eine Lehre der Demuth 
war, fo war auch das Beifpiel Seines ganzen Lebens Ein Bei- 
fpiel der Demuth, Mer ift größer, ala Er, dem Vater in 
Allem gleih? Und wer hat zur Erlöfung der durch Hochmuth 
gefallenen Menfchheit tiefer fich erniedriget, al3 Er, durh Den 
Alles gefchaffen iſt? Alles, was von und mit Ihm gefchah, 
war Sein eigener freier Entfhluß. Nach dieſem Entſchluß 
wollte Er nicht in Rom, der Hauptftadt der Welt, nicht in 
Serufalem, der Hauptftadt des Landes, fondern in dem unbe— 
Fannten Nazareth, von einer armen, demüthigen Sungfrau bie 
menschliche Natur annehmen; und. bei dem: unbedeutenden Beth- 
lehem, in einem armfeligen Stalle, ald ein hülflofes Kind im 
Fleifche erfcheinen, um uns recht anfhaulich zu Ichren, daß 
Alles, was von Menfchen groß geachtet wird, vor Soft nichts 
fey, und und recht fühlen zu laffen die Frechheit, in welcher 
der Wurm im Staube fich erheben will, da ber göttliche Men- 
ſchenſohn Sich Selbſt entäußert, und bis zum Tode Sich er- 
niedriget hat. Bon Seiner Kindheit an bid zu Seinem felbfts 
gewählten fchmachvollen Tode am Kreuze war Sein ganzes 
Leben eine beftändige Offenbarung Seiner Demuth. Dreißig 
Jahre lebte Er verborgen, und war Seinen Aeltern unterthan, 
und fland Seinem Pflegevater bei in der Arbeit Seined gerin- 
gen Handwerked. Den Sündern gleich ließ Er Sich taufen, 
damit Alle Gerechtigkeit erfüllet werde. Merden Seine Wun- 
der gepriefen, fo verweifet Er zum Dank an den himmlifchen 
Bater, und gebietet Stilifchweigen. Mit Armen und Gerin- 
gen, ja fogar mit öffentlihen Suͤndern hat Er den meiften 
Umgang, ißt und trinkt mit ihnen, und antwortet den mur= 
“renden Pharifäern, Er fey gefommen, bemüthige, ihr Elend 
erkennende Sünder, nicht felbftgefällige Gerechte, zur Buße zu 


rufen und fellg zu machen. Der Bollendung Seine Wels - 
nabe, binterließ Er noch Seinen Juͤngern ein rührendes Beis 
ſpiel der Demuth zur Richtſchnur ihres eigenen Betragens. 
Wohl wifjend, daß Er von Gott ausgegangen fey, und wieder 
zu Gott gehe, wälht Er, auf den Knieen liegend, Seinen 
Juͤngern, auch Seinem boshaften Verräther, die Füße; und 
fpricht dann: „Ich, euer Herr und Meifter, habe euch ein Bei: 
fpiel gegeben, damit auch ihr thuet, wie Sch euch gethan habe. 
Wahrlich, fage Ih euch: Der Knecht if nicht größer als fein 
Herr, und der Apoftel nicht größer, als der ihn gefandt hat. 
Verftehet ihr dieſes, fo werdet ihr felig feyn, wenn ihr's bee 
folgt.” Und in Seiner Eelbfterniedrigung bebarrend, läßt Er 
freiwillig Sich gefangen nehmen, faͤlſchlich anklagen, verfchmäs 
hen, mißhandeln, Sich dem Barrabas nachſetzen, und zwiſchen 
Verbrechern an's Kreuz ſchlagen. So iſt der Sohn Gottes in 
Demuth gehorſam geweſen bis zum Tode, bis zum Tode am 
Kreuze. Und dieſer demuͤthige Sohn Gottes, an Dem Seines 
demuͤthigen Gehorſams wegen der himmliſche Vater Wohlge⸗ 
fallen hatte, Der das Beiſpiel des vollkommenſten demuͤthig⸗ 
ſten Gehorſams uns gegeben hatte, ſpricht zu uns: „Lernet 
von Mir:“ nicht Wunder zu wirken, Todte zu erwecken, fons 
dern lernet .oon Mir dad Eine Nothwendige, wie fanftmüthig 
und von Herzen demüthig ihr feyn folet! Um Meine goͤtt⸗ 
‚liche Erhabenheit wetteiferte mit Mir ein hochmüthiger Engel, 
und ein hochmüthiged Menfchenpaarz; jener flürzte mit feinem 
Anhange in's tieffle Verderben, diefed mit ihrer Nachkommen⸗ 
fchaft in’8 tieffte Elend hinein. Ihr aber, des ungtüdlichen 
Menfchenpaard durd Meine Selbflerniedrigung wieder errette- 
tes Gefchlecht, Iernet von Mir Sanftmuth und Herzensdemuth; 
fo : werdet ihr Gerechtigkeit und Ruhe unb Friede in euerer 
Seele finden! 
O, dag wir von Ihm lernen möchten, daß für uns nichts 
fo nothwendig fey, ald dad Einige Nothwendige, unabläffig 
mit dem ganzen Ernſt unſers Willend nad der Demuth zu 
fireben, daß Seine ganze Lehre Eine Lehre der Demuth, Sein 


‚ganzes Beiſpiel Ein Beiſpiel der Demuth ſey; und daß, ſo 
ar Thl. ete Aufl | 25 Ä 





— 356 — 
wie nur durch Seine Selbfterniedrigung unfere Mettung moͤg⸗ 
lich werden konnte, fo auch nur durch unfere eigene Selbſt⸗ 
erniedrigung unfere Rettung möglidy werden kann, daß wir 
daher die lebendige Erkenntniß unferer Nichtigkeit vor . Gott, 
und unſere Unwuͤrdigkeit unter. Menfchen oft erneuern, und 
feinen Tag vorbeigehen laſſen möchten, da ‘wir uns nicht aufs 
tieffte vor. dem Heren, unferm Gott, gebemüthiget hätten! Was 
haben wir, dad wir nicht empfangen hätten? Und, wenn wir 
aus und ſelbſt nichts, durch Gottes Gnade aber Alles ſind, 
was wir ſind: wie duͤrfen wir uns dann auch nur uͤber irgend 
einen unſerer Brüder erheben, als hätten wir nichts empfan⸗ 
gen; oder ald wäre und der Maßſtab übergeben, mit weldem 
wir und abmefjen und genau beftimmen Fünnten, wie viel we 
niger unfer Bruder, den wir vermefjen beurtheilen, und gering 
ſchaͤtzen, von unferem gemeinfchaftlichen Vater und Richter m | 

pfangen hätte? 


Ä IL 

9, Hriftliche Eltern und ihre Alle, die ihre mit Kindem 
in Verbindung ftehet, auf diefelben Einfluß habet, nehmet doch 
ihr vorzüglich dieſe Lehren und diefe Antriebe, Die und der Her 
J. C. zur Demuth gibt, recht zu Herzen! Wenn Kinder die 
Demuth frühzeitig verlieren, ober nie zur Demuth gelangen: ſo 
tragen die Neltern bei weitem am meiften die Schuld. Wenn dad 
zarte jungfräuliche Töchterlein fo oft es hört und ſieht, wie bie 
Mutter und ihre Freundinnen auf Außerliche Dinge, auf Schöt 


- heit, Pus und Kleidung einen fo großen Werth legen; wenn 


ed fich. felbft wegen ſolcher Außerlichen Dinge fo fehr geprieſen 
fieht;. wenn es in feinem neuen State von ber-Mutter und 
von Freundinnen und Dienftboten fo fehr bewundert wird, möge 
auch diefer neue Stat oft fogar der Zucht und Ehrbarkeit galt 
entgegen feyn; wenn es hören muß, wie andere, Kinder iM 
Vergleich mit ihr ſolcher Außerlichen Dinge wegen oft fo ſehr 
zuruͤckgeſetzt oder verachtet werben; bedenkt es felbft, muß durd 
. ein ſolches Betragen dad Kind nicht geradezu zur Eitelkeit er⸗ 
zogen, muß die holde Demuth dadurch nicht in feinem Herzen 





-ı- 


erftift, muß: feine Unfchulb dadurch nicht vergiftet werben? 
O Gott! Du weißt es, wie eine folche verkehrte Erziehung 
nur in gar zu vielen Häufern herrfchend: geworden iſt. „Wer 
ein Kind aufnimmt in Meinem Namen, der nimmt. Mic 
Selber auf,” fagt 3. C. Sp großen Werth hat in den Aus 
gen 3. ©. die Pflege der Kinder, die Sorge für ihre Erzie 
hung, die Bewachung ihres Herzens, daß ed gleich viel iſt, 
ein Kind aufnehmen, ein Kind, dad Er Selbft den Aeltern ges 
fhen?t hat, aufnehmen; ald wenn man Ihn Selbſt aufgenoms 
men hätte. Wenn wir nun mit Augen fehen müffen, wie we⸗ 
nig chriftlihe Eltern darüber wachen, ihre Kinder in Unfehuld 
und Demuth zu bewahren, und in Seinem Namen zu erzies 
ben: fo muß bei einem folchem Anblick der Gedanke uns ſich 
aufdringen, als muͤſſe es gleichviel feyn, als. wenn folche Ael⸗ 
tern 3. €. aus dem Haufe ‚vertrieben hätten: bie Demuth aus 
bem Herzen eined Kinded verdrängen, und 3. C. von ſich ſto⸗ 
gen, ift Eines und das Naͤmliche. Schauerlihe Wahrbeit.! 
Mer ein Kind forgfältig zu erziehen, und in der Unſchuld und 
Demuth zu bewahren, verfäumtz wer «3 vielmehr zur Ugppig- 
Feit und- Eitelkeit verleitet, dee vertreibt 3. C. aus dem Haufe. 

Achtet wohl auf dad Wort, welches der Herr in unferem - 
heutigen Evangelium noch fpricht: „Wer Einem Liefer Kleinen, 
die an Mich glauben, Aergerniß gibt: dem wäre es befier, daß 
ein Mühlftein an feinen Hals gehänget, und er erfäufet würde 
in der Tiefe des Meeres!“ Merket wohl! die Strafe des Ey 
ſaͤufens, eine zwar nicht. bei den Juden, aber: bei den benach-. 
barten heidniſchen Voͤlkern eingefuͤhrte Todesſtrafe, wurde als 
eine der ſchwerſten und ſchimpflichſten Todesſtrafen angeſehen, 
weil dem: auf ſolche Art Hingerichteten nicht einmal - ein Be 
grabniß zu Theil wurde. Nachdruͤcklicher haͤtte es der Herr 
alſo nicht ſagen koͤnnen, um die ſchwere Schuld des Aerger⸗ 
niſſes, und die Strafe, welche daſſelbe verdiente, mit dem groͤß⸗ 
ten Abſcheu auszudruͤcken. Und iſt es nicht ein wirkliches Aer⸗ 
gerniß, welches die Eltern ſelbſt ihren Kindern geben, wenn 
ſie dieſelben durch Wort und Beiſpiel zur Ueppigkeit und Ei- 
telkeit verführen? Um den Nachdruck Seiner Warnung noch 

. 23 * — 


= 28 — 
mehe zu verſtärten, ſpricht der Here noch zuletzt: „Sehet zu, 
daß ihr. Keinen biefer Kleinen mißachtet! Denn Ich fage euch: 
Ihre Engel im Himmel. fchauen allezeit dad Antlig Meines Ba- 
ters, Der in den Himmel if!” ine ſehr ermunternde und 
eine fehr erfchütternde Wahrheit zugleich. ine. fehr ermun— 
teende Wahrheit für chriftliche Aeltern,, indem fie ihnen die berus 
higende Berfiherung gibt, daß ihre Kinder einen unfichtbaren 
Schugengel haben, der mit ihnen Aelternftelle vertritt, Aber ihre 
Kinder wacht, da fie nicht immer wachen fünnen, und aufalle 
Art für das wahre Wohl berfelben Sorge trägt. Eine erſchuͤt⸗ 


ternde Wahrheit! denn wenn Aeltern ſelbſt die Sorge für die 


Kinder vernachläffigen, felbit an dem Werderben derfelben 
ſchuld find: was haben fie dann von dem unfichtbaren Schu: 
engel derfelben zu beflicchten, der am Throne Gottes fteht und 
dad Antlig des bimmlifchen Waters” ſieht? Wehe dem, den 
ein Engel vor Gott verflagt! Wehe am meiften den Aeltern, 
welche der Schugengel ihrer Kinder vor Gott verklagt! 

D, ihre Engel Gottes! kommet mit euerer Fuͤrbitte den 
eltern und Erzieheen zu Huͤlfe! erflehet ihnen von Gott Weiss 


- beit und Liebe, auf daß fie ihre Kinder in Gottesfurdt, Uns 


ſchuld und Demuth erziehen mögen! Und ihr Aeltern und Er⸗ 
zieher! ihr von Gott angeordneten ſichtbaren Schugengel euerer 
Kinder, vereiniget euch in Wachſamkeit und in Gebet mit ihren 
unſichtbaten Schutzengeln, und ſuchet mit dem größten Eifer 
per Liebe den Strom bed Verderbens, der uͤberall durchzubre⸗ 

chen drohet, zurüczuhalten; vereiniget euch mit ihnen in tägli- 

her Zürbitte und in der forgfältigften Wachfamkeit, auf daß 
diie Herzen euerer Kinder in Unfchuld und in Demuth mögen 
‚ bewahret bleiben, durch Jeſum Chriſtum, ͤnſern Herrn und 
Heiland! Amen. 





. . . 
‘ 
- 
‘ 
5 


Neun und zwanzigfte Rede. _ 
Zweite Rebe am Zeile der heil. Schutzengel. 


0 
—— 


zT er't: 

„Sehet zu, daß ihr Keinen diefer Kleinen mißachtet! 
Denn, Ich fage euch; ihre Engel im Himmel fchauen 
allzeit dad Antlig Meined Vaters, Der in der Him⸗ 
meln iſt!“ Matth. 18, 10. 


Thema: 
Die Lehre der h. Schrift von den y Sant. 
engeln. 


Wir Menſchen, die wir auf Erden wandelen, ſ nd nicht die 
einzigen mit Vernunft begabten Gefchöpfe, die in Unſchuld und 
Reinigkeit von Gott erfchaffen, zur hoͤchſten Vollkommenheit, 
zur ewigen Seligfeit, zur innigften Bereinigung mit Gott be⸗ 
ſtimmt find. ‘Der Glaube lehrt und, daß ed auch noch andere - 
mit Vernunft begabte Geſchoͤpfe Gottes gibt, welche Engel ges 
nannt werden; uns ähnlich, weil fie, wie wir, mit Vernunft 
begabt find; verfchieden von und, weil jie bloß Geift, bloß gei⸗ 
flige Wefen, an die Sinnlichkeit. eines Körpers nicht gebunden 
find. Da diefe Engel nad) ber Lehre unfered Glaubens mit 
und in fehr enger Verbindung ftehen: fo bat die Kirche den 
heutigen jährlichen Feſttag zu ihrer befonderen Zeier .angeord- 
net. Nach der Lehre des Glaubens fliehen die Engel durch. bes 
fondere Anordnung Gottes mit und in einer’ befonderen, fehr 
innigen Verbindung zu unferem wahren, ewigen Heil; bamit 
aber diefe Verbindung. unfer wahres Heil wirklich befürbere, 
wird eine treue Mitwirfung von uns erfordert. . Diefe fo ſehr 
erhebende und ermunternde ‚Lehre foll alſo der Gegenſtand un ⸗ 
ſerer heutigen Betrachtung feyn: | | 


— 39 — 

. J. 

Nach der Lehre der h. Schrift ſind die Engel zwar von 
Gott erſchaffene, mit Vernunft begabte Weſen, ſo wie wir Men⸗ 
ſchen; ſie ſind aber vor Erſchaffung der Welt und des Men⸗ 
ſchen, und zu einer Zeit erſchaffen, wovon wir nichts wiſſen; 
denn, als der erſte Menſch erfchaffen wurde, war der boͤſe En⸗ 
gel mit feinem Anhange ſchon gefallen, vielleicht vor gar lan⸗ 
ger Zeit Thon gefallen. Nach der Lehre des Glaubend hat ed 
alfo auch für die Engel eine Zeit, einen Stand der Prüfung 
‚gegeben, in welcher eine große Schaar Engel nicht beflanden, 


„die von Gott nach Seiner Gerechtigkeit auf ewig verworfen, 


zu ewiger Strafe verurtheilt wurden. 

Nach der Lehre des Glaubens find die Engel bloß Geift, 
rein geiftige Wefen, find alfo an die engen Schranken der Sinn- 
lichfeit und des Orts nicht gebunden. Als Geift wiflen und 
erkennen fie, was in einem anderen Geifte, wiffen und erfennen 
auch, was im Beifte des Menfchen ift, weil fie wiſſen und er- 
kennen, wer wahre Buße übe, was ja allein ein Werk bes 
Geiftes ift, indem fie Aber einen folchen wahrhaft Buͤßenden 
eine große Freude haben. 

Nach der Lehre des Glaubens ſind die Engel, welche in 
der Pruͤfung beſtanden ſind, reine, vollkommene Geiſter, an 
Erkenntniß, an Vollkommenheit und an Macht über und Men- 
chen weit erhaben, find mit Gott in der innigften Verbindung, 
find felig in der Anfhauung Gottes. 

Nach der Lehre der h. Schrift Fönnen die Engel, obſchon 
bloß Geiſt, einen Körper annehmen, und in fichtbarer, menfch- 
licher Geftalt erfcheinen, wenn fie von Gott befonbere Aufträge 
an die Menfchen erhalten. 

Nach der Lehre des Glaubens ſtehen die Engel, obſchon 
hoch uͤber uns erhaben, mit uns Menſchen in der innigſten 
Verbindung, hegen gegen uns die groͤßeſte Freundſchaft und Liebe, 
iſt es ihre Luſt und Seligkeit, fuͤr unſer wahres Wohl die groͤßte 
Sorge zu tragen. Im Reiche Gottes ſind alle vernuͤnftige Ge⸗ 
ſchoͤpfe durch die innigſte Liebe mit einander vereiniget; da gilt 
kein Rang und kein Anſehen; da haͤlt es der Groͤßte und An⸗ 








— BB — 


gefehenfte gar nicht unter feiner Würde; dem Geringeren ſogar 
zu dienen, wenn er ihm nur nüglich feyn kann. Im Reihe 
Gottes berrfcht unter allen vernünftigen Wefen, und daher auch 

unter Engeln und Menfhen, Ein Geift der Liebe, des Wohl⸗ 

wollend und ber Zürforgee Won Gott geht dieſe Liebe und 
Fürforge aus als aus ihrer Quelle, und von Shm- verbreitet 
fich diefe Liebe über alle andere vernünftige Gefchöpfe. 


IL. 


Wie uͤberaus Yieblich und erfreulich ift fchon diefe Kehre, - 
daß alle Engel in Gemeinfchaft eine fo große Freundfchaft und 
Liebe, eine fo zärtliche Fuͤrſorge für und hegen, einen fo inni⸗ 
gen Antheil nehmen an unferem Wohl und Wehe, wie wird 
ia daraus fehen, daß bie Engel bei der Geburt unfers Heilanbs 
eine fo große Freude bezeugten, und wie wird deutlich genug 
abnehmen koͤnnen aus den Worten 3. C., baß über die Be- 
Fehrung eines einzigen Sünderd immer eine fo große Freude 
fey unter den Engeln im Himmel! Aber wie noch viel Tiebli- 
cher und erfreulicher wird und dieſe Lehre, da fie und zugleich 
die Verficherung gibt, daß auch ein jeder Menſch insbefondere 


. 


feinen befonderen, ihm von Gott zugeordneten Engel habe, der. . 


ald ein’ treuer Freund immer für ihn forget, und feine zeitliche 


und ewige Wohlfahrt auf alle Art zu befördern fucht. Das. 


fehen wir ſchon zum Theil aus den Worten unfered Textes: 

„Wehe denen, welche die Kleinen mißachten. ihnen Anftoß, Aers 
gerniß geben! ihre Engel fehen immer das Antlig ded himm⸗ 
liſchen Vaters.“ „Ihre Engel, heißt ed hier; alſo muͤſſen es 
beſondere Engel ſeyn, die den Kleinen zugeordnet, die ihre En⸗ 
gel ſind. Das iſt alſo gewiß, daß die Kinder ihre beſonderen 
Schubengel haben. 


III. 
Aber ſollten dieſe uns verlaſſen, wenn wir erwachſen ſind? 
werden nicht die Gefahren unſers Heils noch groͤßer, wenn wir, 
nachdem wir erwachſen ſind, mit der Welt mehr bekannt wer⸗ 
den, wenn unſere Leidenſchaften und Neigungen mehr erwachen? 


— m — ;“. u 

Die Erwachlenen‘fcheinen alfo eines beſchuͤtzenden Engels noch 
mehr zu bedürfen, ald die Kinder, die noch zudem unter der 
befonderen Obhut ihrer Welten fliehen. Was wir num natlrlis 
cher Weife wünfchen müffen, davon gibt uns die. heil. Schrift 
bie Verſicherung. Als der Apoftel. Petrus wunderthätiger Weile 
aus bern Kerker befreiet wurde, und nun ſogleich nad dem 
ihm wohlbekannten Haufe ging, worin die Jünger verfammelt 
. waren, und anklopfte, wollte man, obſchon man feine Stimme 
hörte, doch .nicht glauben, daß Er es fey; denn man wußte, 
wie feſt fein Kerker gefchloffen, und wie er mit Ketten an die 
ihn bewachenden Soldaten gefeffelt ſey: wie fie daher feine 
Stimme hörten, fagten fie, es fey nicht Petrus ſelbſt, es fer 
fein Engel. Das konnten fie nicht glauben, ohne vorauszu⸗ 
ſetzen, daß jeber Menfch, wenigſtens jeder gute, rechtſchaffene 
Menſch, feinen befondern Engel zum Schutze habe. Das war 
alfo ihr Glaube, alfo der Glaube der ganzen damaligen Kick, 
bie in jenem Haufe verfammelt war. Diefer Glaube war aud 
fhon bei den Juden im alten Bunde allgemein. Go bitte 
ber ferbende Jakob feinen Schutengel, daß er. feine beiven Ens 
tel, die Söhne Joſephs, in feinen befondern Schuß, nehmen 
wolle. So ſchreibt e8 Judith ihrem Schugengel zu, daß ſie 
ihre heldenmuͤthige That zur Rettung ihres Volks fo gluͤdlich 
‚ babe vollbringen können. Was aber der Schutzengel Alles für 
und thun fönne, und alfo auch wir mit Recht von ihm erwar⸗ 
ten duͤrfen, das lehrt und am deutlichſten bie Geſchichte de 
Tobias. In ſichtbarer, menſchlicher Geſtalt begleitet. der En⸗ 
gel den jungen Tobias auf ſeiner Reiſe, fuͤhrt ihn gluͤcklich zu 
dem beſtimmten Orte hin und wieder zuruͤck, gibt ihm Rath 
und Unterricht, um ſich ſowohl vor Gefahren des Leibes, ab 
der Seele zu bewahren, ſchuͤtzt ihn gegen die Nachſtellungen des 
boͤſen Feindes, und erweiſet ihm überhaupt fo viele Wohltha—⸗ 
ten, daß der junge Tobias die Hälfte feines ganzen Vermoͤ 
gend nicht für hinreichend glaubt, um fie dem Engel, ben & 
noch für einen Menfchen hielt, zur Belohnung anzubieten. - Und 
biefer Engel, der auf eine ſolche Art der Freund und Führe 
eines frommen, guten Menſchen war, war Einer der Erſten im \ 


Sn 





1 — 


Simmel, war, wie ey felbft: fogte, Giner von den Sieben, die 
zunächft am Throne Gottes ftehen. &ehet, fo groß iſt die Liebe 
der Engel gegen und Menfchen, fo fehr ift es ihre Luft und 
Freude, und wohl zu thun, daß auch ſelbſt die Erften und Vor⸗ 
nehmften ‚unter ihnen fo gern zu unferem Dienfte bereit find. 


Daß fie und in unferen Leiden tröften, erquicken und ftärs 
‘ Een Fönnen, ehrt und die Gefchichte unferes Heilandes 3. €. 
felbft, Der ja in Seinem großen Leiden am Delberge durch eis 
nen Engel erquidt und geftärft wurde. Ferner wiffen wir fos. 
wohl aus der Gefchichte ded Tobias, als auch aus der, Offene 
barung Johannes, daß die gegen und fo liebreich gelinnten Ens. 
gel unfere Gebete und guten Werke vor Gott bringen. Gott, 
- der Allwiſſende, weiß um ünfere Gebete und guten Werke, ohne | 
baß fie ihm von einem Engel dürfen ‚angezeigt werden. Es 
heißt alfo, daß fie unfere Gebete, nämlich, wenn wir nicht bloß 
mit dem Munde, fondern recht aud dem Herzen und mit Were 
trauen beten, mit ihrer Zürbitte begleiten. „AL du unter Thraͤ⸗ 
nen beteteft,” fprach ber Engel zu dem alten Tobias, „babe ich 
bein Gebet und bein Almofen und beine guten Werke vor. Gott 
gebracht.” Und dann kdnnen wir ja an der Erhörung unferes 
Gebets nicht zweifeln, wenn felbft ein Engel mitbetet, und für - 
und bittet. Wenn wir alfo recht beten, dann betet unfer Enz 
gel mit, bittet für und um Erhörung; und wenn wir etwas 
Gutes thun, dann wird ed won unferem Engel mit feiner Füre | 
„bitte begleitet. O, wel” eine uͤberaus tröftliche, fo fehr ers 
munternde Lehre! | 


Nebſt dem fagt unfer Heiland in einer Parabel, daß der 
arme Lazarud nach feinem Tode von Den Engeln in Abrahams 
Schoß getragen wurde. Unfer Engel,‘ der in unferem ganzen 
Leben immer fo treu bei und wat, iſt alfo auch bei uns in der. 
ſchweren Stunde unſeres Sterbens, und wird ed dann an Troſt 
und Erquickung für und gewiß nicht fehlen laſſen; und wenn 
die Stunde nun gefommen ift, dann erbliden wir ihn ſelbſt, 
der immer unfer treuefter Freund und Belchüger war; dann 
thut er uns noch den letzten Dienſt, fuͤhrt unſere Seele vor 


— 2304 — 
ESott, begleitet, und in das göttliche Gericht, und ift in biefem 
furchtbaren Gericht unſer Zürfprecher. 

So find denn die Engel nicht bloß Zeugen von unferem 
Thun und Laffen, und von unferen innerlichen Gefinnungen: 
fie find foger von Gott zu unferem Dienfle angeordnet: Reine, 
erhabene, himmlifche Geifter zum Dienfte für und arme, fün- 
dige Menfchen, zum Dienfte für das Heil unferer Seele, wo- | 
für ihr und unfer Herr Sich. nicht geweigert hat, Blut und 
Leben hinzugeben. O Chriften! daß wir es Doch immer wohl 
beberzigten, was alles gefchehen iſt, und noch immer gefchieht 
‚zum Heile unferer Seele! Der Sohn Gottes flirbt für uns, um 
uns dad Leben wieber zu erwerben, und die Engel Gottes Die- 

„nen und, befchügen und helfen und, damit wir dad um einen 
fo Föftlichen Preid und erworbene Leben nicht wieder verlieren, 
u deſſelben ep | werben mogen. 


IV. 


Auch darin muͤſſen wir alſo die beſondere Liebe Gottes 
gegen und Menfchen erkennen, daß Gott und einen. Engel aus 
dem Himmel zu unferem $reund, Führer und Beſchuͤtzer in un- 
ſerem Leben auf Erden gegeben und angeordnet hat. Se grö- 
5 ger aber die Wohlthat, einen folchen bimmlifchen Freund. und 
Führer zu haben; defto größer auch dad Ungluͤck feines Verlu— 
ſtes; deſto groͤßer das Ungluͤck, ſeinen Schutzengel zu verlieren. 
Koͤnnen wir ihn aber auch verlieren? — Ohne Zweifel: das 
erhellet ſchon aus der Sache ſelbſt, das ergibt ſich auch deut— 
lich genug aus der heil. Schrift. Dieſe hat uns gelehrt, daß 
Kinder, die noch in ihrer Unſchuld ſind, ihre beſonderen Engel 
haben; und daß auch Erwachſene, die gut und rechtſchaffen 
ſind, die für die Ehre Gottes wirken und leiden, ihren befon- 
deren Engel haben; fie jagt und aber fein Wort davon, daß 
auch Sünder, nämlich diejenigen, bie einier fchweren Sünde fich 
fhuldig gemacht, ohne durch Neue und Buße mit Gott fich 
wieder verfühnt zu haben, oder die noch in fünblichen Gewohn⸗ 
heiten oder Gelegenheiten dahin leben, ohne einen aufrichtigen 
Vorſatz, ſich zu. beffern, daß auch biefe ihren befonderen Engel 








haben: ihre Stinfchweigen laͤßt und vielmeht mit allen Hecht 
das Gegentheil vermuthen. Wie Eönnte auch ber Engel noch 
ein Freund deſſen feyn, der ſich durch eigene Schuld zum Feinde 
Gottes gemacht hat? ALS der Engel des Tobias fich zu erken⸗ 
nen gab, ſprach er: „da ich bei euch war, war ich nad) bem 
Willen Gottes bei euch: Ihm danket!“ Wie koͤnnte es ber 
Wille Gottes feyn, den Engel noch länger bei dem zu laſſen, 
der in feinem gegenwärtigen Zuſtande von Gott verworfen ift?. 

sie koͤnnte zwiſchen zwei Wefen, die fich fo ungleich geworben _ 
find, noch länger ‚eine FSreundfchaft beftehen? wie könnte ein 
Engel, fo voll von der Liebe Gottes und in diefer Liebe fo ſe⸗ 
lig, noch ein Freund desjenigen ſeyn, der Gott nicht liebt, der 
Gott beleidigt? wie koͤnnte ein Engel, der fo große Freude 
bat, in die Geheimniffe der Menfchwerbung, bes Leidens und 
Todes 3. ©. zu ſchauen, ein Freund feyn gegen denjenigen, ber 
gegen ‚alle diefe unendlichen Wohlthaten göttlicher Liebe und 
Barmherzigkeit undanfbar und gleichgültig ift, der nicht mit 
wirken, fie zu feiner Rettung nicht anwenden will. Und was 
folte auch der Engel noch länger bei einem Menfchen, ber fei- 
nen Eingebungen, Rathfchlägen und Warnungen, bie fi fo oft 
in der Bruft ded Menfchen erheben, wenn er zur Sünde ver- 
fuht wird, ganz und, gar feine Folge leiflen wi? O, der un 
glüdfeligen Stunde, worin man durch ſchwere Sünde, oder durch 
fortgefegte Beharrlichkeit im Boͤſen mit der Gnade Gottes. zu⸗ 
gleich feinen himmlifchen Freund, feinen guten Engel verloren 
hat! Und wenn dann ber gute Engel den Sünder verläßt, o 


was gefchieht dann weiter? — dann geräth ber Unglüdfelige 


ganz in die Gewalt bes böfen Engeld, des Feindes gegen Gott 
und Menfchenz der, wie die h. Schrift fagt, umbergeht wie ein . 
brüflender Löwe, die Seelen zu verfchlingen. Der fo fehr ihn 
liebte mit einer Liebe, womit Menfchen nicht zu lieben vermoͤ⸗ 
gen, der ihn bewahrte wie einen .Augapfel, verläßt ihn; und 
‚ber ihn haſſet, und zu verderben trachtet, tritt jetzt mit ihm in 
Semeinfhaftz und hat große Gewalt über ihn. Mit dieſem 
Unglüde kann Fein anderes Ungläd auf Erden, mas für einen | 
Namen es auch haben möge, in Vergleich Fommen. ‚Aber — 








| - WM; 

fo lange noch ein Beben im Menſchen iſt, iſt bie Hoffnung: für 
ihn noch. nicht ganz verloren, iſt noch Rettung für ihn möge. 
lich; und diefe Rettung iſt in feiner. Gewalt, liegt in feinem 
eigenen Willen. Möge er auch noch fo fchwere Sünden began⸗ 
gen, auch noch: fo lange Zeit von Gott ſich getrennt haben; 
will er, durch die zuvorfommende Gnade Gotted erweckt, aufe 
richtigen Herzens von der. Sünde fi Tosreißen, und zu Gott, 
Den er verlaffen. hat, fich wieder bekehren: ſo willen, wir, daß 
auch der barmherzige Gott mit fchonender Vergebung Sich für 
gleich wieder zu ihm wendet; und fo dürfen wir auch mit Zus 
verficht hoffen, daß der gütige Gott dem Sünder, dem die Bes 
Pehrung im Anfange noch fo ſchwer wird, fogleich feinen Engel 
wieder zur Hülfe fenden werde; wir dürfen biefes um fo mehr 
mit Zuverficht Hoffen, da uns ja 3. C. Selbft die Verficherung 
gibt, daß über die Belehrung eines einzigen Suͤnders immer 
eine fo große Freude ift unter den Engeln. im Himmel. Die 
fich feiner Belehrung fo ſehr erfreuen, haben ihn in feiner Bes 
kehrung gewiß nicht ohne Hülfe gelaffen. O Sünder, welche 
Warnung und zugleich welche Ermunterung für dich in diefer 
Lehre! Berläffeft du Gott durch ſchwere Sünde, und durch Bes 
harrlichkeit in der Suͤnde: fo verläßt dich auch dein himmli⸗ 
fcher Freund, dein guter Engel; bekehreſt du dich aber. wieder 
- aufrichtig zu Gottt: fo eilet auch bein guter Engel. wieder zu 

deiner San herbei. | 

\ V. 
Sehet! welchen Troſt, welche Ermunterung, aber auch 
welche erſchuͤtternde Warnung gibt uns die Lehre der h. Schrift 
von dem Verhaͤltniß der Engel zu uns Menfchen! Siehe! von 
‚deiner Gebürt an bat dir der unendlich gütige Gott einen En⸗ 
gel aus dem Himmel zu beinem unfichtbaren Führer auf Er⸗ 
. den, zu deinem Freunde und Belchlger gegeben! Vielleicht 
weißt du es ſchon aus Erfahrung, welch’ eine große, unfchäßs 
bare Wohlthat ein treuer Freund iſt; haft es vielleicht ſchon 
erfahren, daß wahre Freundſchaft und Liebe das Schwerfie ere 

keichtert, dad Bitterſte verfügt, und und mehr, als alles Andere, 








| — m — 
ein Vorgeffihl des Himmliſchen gibt. Habe aber auch die Wohle 


‚that und die Seligkeit wahrer Freundſchaft fhon im größten 


Maße empfunden, wie David und Ionathan fie empfanden; 
einen Freund, Ter fo innig, fo zärtlich, fo treu Dich liebt, ald 


dein Engel dich liebt, ſindeſt bu auf Erden nicht. Und biefer 


Freund ift dein .und bleibt dein, wenn du eln Freund Gottes 


zu bleiben ſuchſt, und flehet dir bei, damit du es bleiben moͤ⸗ 
geſt. Und immer inniger wird feine Freundfchaft gegen dich, 


je aufrichtiget dein Wille iſt, ein Freund Gottes zu bleiben, je 
mehr du Gott liebeſt. Welch ein Verluſt, einen ſolchen Freund 
zu verlieren? Wehe dem, dar durch eigene Schuld ihn verliert! 


"Der Zag, an welchem im mit der göttlichen Gnade deinen gus 
‘ten Enhel werlierft, iſt der ungtäcfeligfe Dog, in deinem galt 


zen Leben auf Erden. . 
Und dieſe für unfere Tugend und fuͤr unſer wahres Heil 
fo ungemein wirkſame Lehre wird zu jetziger Zeit von Vielen 
für eine unbedeutende Lehre, oder gar für eine Art von from⸗ 
mem Aberglauben arigefehen, Da fie. doch mit: einer weientlichen 


‚sehe unſers Glaubens, met der Lehre von Gortes Allgegenwart 


in ſo naher und inniger Verbindung ſteht. Dem. Gedanken 
an Gottes Gegenwart -fehlt es oft an Kraft: und Nahdsud, 


vorzuͤglich deßwegen, weil wir und Gott fo erhaben. und deß⸗ 


und uns gleichfam in der Mitte; fie- find Geſchoͤpfe wie win  - 


- 


wegen fo entfernt und verfgieden von uns denken. Man würde 
eine unrechte ſuͤndliche Handlung, die man zu thun im Begriff 


"wäre, alfobald unterbrechen , wenn man bemerkte, daß Vater 


oder Mutter, oder ein und ehrwürbiger Mann und heubarhtete, 
wuͤrde fie aber nicht unterbrechen, obſchon ‚der. Gedanke an Got⸗ 
tes Gegenwart, weil es ihm an Kraft und Leben fehlte, uns 
dabei einftele. - Auf gleiche Art ſtehen die Engel zwifchen Gott 


Wir ftellen fie uns deßhalb ald Weſen vor, die mit und mehr. 
Aehnlichkeit. haben, mit und mehr von gleicher Natur fi nd, 
Und fo kann denn der Gedanke an die Gegenwart des Engels 
ein fehr wirkfames Mittel fen, um felbft dem Gedanken an 


Gottes Gegenwart mehr Kraft und Nachdruck zu geben. Wer 


feined Engels oft / gedenlt, der wird gewiß aud weit Öfteren, 





1 J 
m 908 X 
r 


weit lebendiger unb mit weit mehr Kraft und Wirkſambeit an 
Gottes Gegenwart gedenken. 

Die Lehre von dem h. Schutzengel, dieſe ihrer Natur nach 
ſo liebliche und kindliche Lehre, wird beſonders von Kindern fo 
warm und herzlich aufgenommen, daß der Eindruck derſelben 
oft im ganzen Leben nicht wieder verloren geht. Gewoͤhnet 
daher euere Kinder fruͤhzeitig an einen ſtillen, frommen Um⸗ 
gang mit ihrem Schutzengel, unterrichtet ſie, wie liebreich der 
guͤtige Gott ſey, dag Er ihnen einen ſolchen innigen Freund 
und Beſchuͤtzer gegeben habe! erzählt es ihnen, wie ſehr fie von 
demſelben geliebt werben! welch“ eine Sorge, noch größer als 
Helternforge, derſelbe für fie trage! lehret fie, ihn täglich um 
feinen Schuß anzuflehen in einem frommen, kindlichen Gebete 
‚ und immer ſich fo zu betragen, daß fie niemals feiner Gegen 
wart fich zu ſchaͤmen, niemals ſeine Gegenwart zu fügen 
haben! 
Und wir Alle wollen jetzt vor Gottes Angeficht den auf: 
richtigen Vorſatz erneueren, und immer fo zu betragen, vor je 
der freiwilligen Sünde und fo zu bewahren, daß wir nie zu 
fuͤrchten haben, die Freundfchaft unferes guten Engels zu ME 
lieren, daß wir ‚vielmehr mit Zuverficht hoffen duͤrfen, daß er 
dereinſt in ber ſchweren Stunde unſers Todes und beiſtchen, 
unſere Seele zu Gott fuͤhren, und im Gerichte Gottes unſer 
Fuͤrſprecher ſeyn werde. 

"Wir rufen Dich ˖ an mit dem Gebete unferer Kirche: O 
Gott! Der-Du durch Deine unausſprechliche Fuͤrſehung Deine 
h. Engel zu unſerem Schutze zu ſenden Dich wuͤrdigeſt, gib 
uns Bittenden, daß wir, durch ihren Schutz immer bewahrt, 
uns dereinſt ihrer ewigen Gemeinſchaft erfreuen mögen, vun 
J. C. unſeren Herrn und Heiland! Amen. 








Oreißigſte Rede. 
Erſte Rede am Feſte Mariä Geburt, 


Kert: 
„Selig, die reined Herzens find, denn fie werden: Gott 
ſchauen.“ Matth. 5, 8. | | 


Shema: 


Ueber die Strafbarteit ber Unteufhheit, 


An dem heutigen Sefltage, "an welchem ‚wir das Andenken 
an den Geburtstag der hochbegnadigten Jungfrau Maria feiern, 
erneueren wir wieder dad Andenken an dad Beiſteiel ihrer Zus 
‚genden, worin fie in ihrem Lebenswandel auf Erden vorzüglich 
bervorleuchtete. Denn nach ber Abſicht unſerer Kirche ſollen 
wir die Feſttage der Heiligen dazu feiern, um uns zur Nach⸗ 

ahmung ihres Tugendbeiſpiels zu ermuntern. An ihrem letzten 
Feſttage, an welchem wir das Andenken an ihre Aufnahme in 
den Himmel feierten, haben wir beim Nachdenken uͤber den 
ganzen Lauf ihres Lebens deutlich erkannt, daß es eigentlich 
nur eine Grundtugend war, aus welcher alle ihre Tugenden 
und liebenswuͤrdigen Eigenſchaften von ſelbſt hervorgingen; daß 
naͤmlich ihr unablaͤſſiges Streben, Gottes Willen zu erkennen 
und treu zu erfuͤllen, daß die gaͤnzliche Unterwerfung ihres 
Willens unter Gottes Willen, daß ihre gaͤnzliche, unbedingte 
Hingebung -an Gott: dieſe Eine Grundtugend geweſen ſey. Bon 
frommen Aeltern durch Unterricht. und Beiſpiel zur Froͤmmigkeit 
und Gottesfurcht erzogen, war ſie durch Anhörung des goͤttli⸗ 
chen Worts, durch Betrachtung der h. Schrift und durch Ge⸗ 
bet zu der Erkenntniß gelangt; das ſey der Wille Gottes, daß 
wir im. Vertrauen auf Gottes Beiſtand unablaͤſſig darnach ſtre⸗ 
ben ſollen, unſere unordentlichen Begierden und Neigungen zu 
bekaͤmpfen, daß wir alſo unſeren Kampf am meiſten gegen 


* 





| m 

diejenigen ſuͤndlichen Begierben richten follen, welche ihrer Nas 
tur nach am meiften Gewalt haben, unferen Geift, zur Aehn⸗ 
lichkeit mit Gott, zur Heiligkeit erfhaffen, zu verunreinigen, 
und unter: das ſchmaͤhliche Joch der Sinnlichkeit, des Fleiſches 
zu bringen; daß wir alfo am. meiften darnach fireben folen, 
in Unſchuld und Reinigkeit des Herzens vor Gott zu wandelen. 
Daher hatte ſich ihr Sinn fuͤr die Tugend der Keuſchheit fruͤh⸗ 
‚zeitig in einem ungewöhlicen hoben Grabe in ihr ausgebildet. 
Dazu gaben ihr Belehrung und Antsieb mehrere Verordnungen 
des Geſetzes, welche dazu abzielten, die Heiligkeit des Eheſtan⸗ 
des zu ſchaͤtzen, und die ſehr ſrengen Strafgerichte auf die Uebers 
tretung. :Dazu fand fie noch mehr ſich angetrieben durch die 
Strafpredigten der Propheten gegen bad Lafter der Unzucht und 
Unteuſchheit, welches fie unter die größten rechneten, mit Ab⸗ 
‚götterei, mit Raub und Mord in Eine Reihe ſetzten, und auf 
aus druͤcklichem Wefehl Gottes als Die Urfache der über dad Voll 
verhaͤngten Strafen darſtelten. Dazu fand ſie noch mehr ſich 
angetrieben durch die Beiſpiele der h. Schrift. Wenn ſie ihr 
Nachdenken richtete anf das Beiſpiel des Egyptiſchen Joſeph, 
weicher durch bad Andenken an Gottes Gegenwart der muͤchtig⸗ 
Ken Berfuhung fo ſtandhaft widerſtand, und, um feine Keuſch⸗ 
heit zu retten, Barden und Kerker fo bereitwillig ſich hingab; 
wamn fie achtete auf. das heldentwuthige Beiſpiel der keuſchen 
Sufanna, welche, um ihre Tugend zu retten, ihr Leben ſelbit 
hinzugeben, fo bereit war; wenn fie darauf achtete, wie wun⸗ 
berbar Gott dieſe beiven heldenmuͤthigen Bekenner der Keuſch⸗ 
heit and den größten Gefahren. errettete, und ihre Tugend ſo 

Herrlich -belohnte: o, dann mußte fie um deſto fefter ſich Uber: 
zeugen, daß die Zugend ber Keufchheit Gott vorzuͤglich wohl⸗ 
gefaͤllig, daß alle und jede Unkeuſchheit Ihm ein Greuel und 
Abſcheu ſey. Daher denn ihr ganz ungewoͤhnlicher, vor allen 
hen .Beitgenoffen ganz erhabener Sinn für die Tugend der 
Wänipkeit und Keufchheitz daher iſt es eben dieſe Tugend 
"weiche unter allen ihren Tugenden in ihrem ganzen Sinne und 
Wandel am meiften hervorleuchtet. Und da ed gewiß if, daß 
Sptt. inn ihrer Tugenden wegen fie zur hoͤchſten Würde erho⸗ 








— 1m — 


ben, und zur Mutter Seines Sohnes in Seiner Menſchwer⸗ 
dung auserkoren hat; ſo iſt es ebenfalls gewiß, daß Gott eben 
diejenige Tugend, in welcher ſie am meiſten hervorleuchtete, die 
Tugend der Keuſchheit und Reinigkeit durch dieſe Wahl in ihr 
ſo uͤberſchwenglich belohnet hat. Durch dieſe Wahl hat Gott 
Selbſt dieſer Tugend das herrlichſte Zeugniß gegeben; durch 
dieſe Wahl hat Gott gleichſam zu uns geſprochen: „ihres rei⸗ 
nen, keuſchen Sinnes wegen habe ih Maria zur Mutter Meis 
ned Sohnes auderwählt; lernet alfo aus ihrem Beifpiele, wie 
ungemein Töftlich in Meinen Augen die Keufchheit und Reinig⸗ 
keit ſey!“ Diefer Zuruf ſollte daher eine Aufforderung für uns 
feyn, an dem heutigen Feſttage den hohen, unvergleichlihen 
Werth der Keufchheit mit einander zu betrachten. Leider aber 
finden wir und durch die Zeitumflände gebrungen, vielmehr auf 
das entgegengefekte, den Menfchen fo fehr entehrende, alled 
Gute in ihm fo gänzlich erſtickende, Gott fo aͤußerſt mißfällige, 
und mit ber fohwerften Strafe bedrohete Lafter, auf das Laſter 
ber Unteufchheit unfer Nachdenken zu richten. So fchwer man 
ſich auch entichließt, von dem, was feiner Natur nach fo ſchaͤnd⸗ 
lich iſt, in Öffentlicher Verſammlung zu veden: fo würden bie 
Prediger, wenn fie immer fchwiegen, doch mit Recht befürthten 
muͤſſen, daß an ihnen in Erfüllung ginge die furchtbare Dros 
bung: „Wehe euch, daß ihr gefchwiegen habet!“ 

Denn gar zu laut erheben fi die Stimmen fo vieler 
Gutgefinnten, erheben fich die Klagen fo vieler Familienvaͤter 
und Mütter; gar zu ärgerlich fallen die offentundigen Bei⸗ 
fpiele der Leichtfertigkeit, der Unfittlichkeit, der Schamlofigkeit 
unter beiden Gefchlechtern und unter allen Ständen in bie Au« 
gen; es find wahrlich nicht die Geiftlichen allein, es find auch 
die Laien, die Weltleute, und die weltlichen Behörden, welde 
allgemein darin übereinflimmen, daß dad Laſter der Unkeuſchheit 
mit allen feinen verheerenden Folgen unter und immer mehr 
un ſich greift. Wie müßten wahrhaftig Augen’ haben, ohne 
zu fehen, und Ohren, ohne zu hören, wenn wir nicht fehen 
und Hören wollten die grenzenlofe Leichtfertigfeit, mit welcher 


die Jugend beiderlei Geſqleqhts gegen einander ” beträgt, die 
u Thl. ee Aufl 


— 1 — *—* 


fittenlofe Ueppigkelt, welche fle offen zur Schau trägt, bie harte 
nödige Verblendung, womit fie allen Warnungen zum Trotz, 
in die ſittenverderblichſten Gefellichaften hineinflürzt, in bie ges 
fährlichften Verbindungen fich einläßt; wenn wir nicht fehen 
wollten, wie die Jugend männlichen Geſchlechts, ihren finfte- 
von, unfichtbaren Genofien und Anführer zur Seite, oft gleich- 
ſam auf Raub ausgeht, -und felbft die heiligen Derter nicht 
ſcheuet, um zu finden, welche fie verfchlingen; und wie bie 
Jugend weiblichen Geſchlechts folchen Verführern, welche ihre 
ſchaͤndliche Abfiht auf der Stirn tragen, mit dem unbegreif- 
lichſten Leichtſinn fich In die Arme wirft: ſelbſt müßten wir 
verblendet fenn, wenn wir nicht bemerkten, wie der Verluſt 
dee Unfchuld fchen zur gewöhnlichen Tagesgeſchichte gehört, 
wis der. Verluſt der Unſchuld ſchon aufgehört hat, zugleich Ver⸗ 
luſt der Ehre und bed guten Namens zu ſeyn; wie ed felbfl 
eltern gibt, die über den Fall ihrer Toͤchter mit der größten 
Gleichguͤltigkeit reden koͤnnen, wenn nur dafür geſorgt ift, daß 
fie im Zeitlichen keinen Schaden leiden. Sind es nicht felbfl 
die Öffentlichen Blätter, welche. die Schande diefer Sünde nur 
zu laut verkündigen, dem Leichtfinnigen zum Gelächter, dem 
Sotteöfürchtigen und wahren Chriften aber zur tiefſten Trauer 
und zur gerechteften Bekuͤmmerniß? Solche Schande verfün- 
digen die Öffentlichen Blätter, weil fie offenkundig iftz es gibt 
aber vigle und noch ärgere Dinge, die fie nicht verfündigen 
Sonnen, weil fie verborgen find. Daß felbft die heiligſten 
Bande ber Ehe fo oft auf heidniſche Art zerriffen werden, daß 
unter vielen Eheleuten der. Ehefland ein Stand befländiger Uns 
keuſchheit ift; daß fo viele unnatürliche Lafter unter und gefries 
ben werben; daß ed Viele gibt, welche, die nachtheiligen offens 
kundigen Folgen fürchtend, mit Anderen zu fündigen zwar vers 
meiben, aber mit fich ſelbſt die abfcheulichften Werke der Zins 
ſterniß treiben: das bleibt freilich dem menfchlichen Auge und 
Gericht verborgen; ber Herr aber fieht e8, und wird ed ders 
einft zu ihrer größten Schande am Tage bed Weltgerichtd be⸗ 
kannt machen, und furchtbar richten. 








- 


— 108 — 


D Bott! wohin foll ed mit und kommen, wenn biefem 
Verderben Fein Einhalt gefchieht? — Menſchenwort iſt ſchwach 
und menig vermoͤgend, iſt wie ein Troͤpfchen Waſſer auf einem 
gluͤhenden Eiſen, das bald verdunſtet; aber Dein Wort, o Gott! 
iſt ein zweiſchneidiges Schwert, welches das Innerſte der Her⸗ 
zen durchdringt, und Deine Gnade allein vermag auch den ver⸗ 
haͤrteſten Suͤnder zu erſchuͤttern, zu heilen, zu retten. OGott! 
ich bete zu Dir aus dem Staube! erbarme Did des Wolf! 
gib Du meinen Worten Licht und Kraft, daß fie Deine Morte 
ſeyenz erleuchte Du den verblendeten, und erfchüttere Du den 
verhärteten Sünder, damit fie die Schändlichkeit ihrer Geſin⸗ 
nungen und Lebensweile recht erkennen, und erfchüttert durch 
die Strafe, welche das Ende ihres Verderbens ift, einen ſtand⸗ 
haften Entſchluß faflen, und jetzt, da e8 noch Zeit ift, Deine 
mwarnende Stimme hören, und ihre Seelen retten mögen! 


I. 

Darin beruhet wohl am meiften die eigenthlimliche Ver⸗ 
blendung und Hartnädigfeit dieſes Laſters, das die Erkenntniß 
von der Schändlichkeit und Abfcheulichkeit deſſelben fo fehr fich 
verloren hat. Kein eingiged Laſter kann genannt werben, wel: 
ches feine unglüdfeligen Sklaven fo fehr verbiendet und bethoͤrt, 
fhwächet und feflelt. Daher nimmt man dann feine Zuflucht 
zu allerhand erbärmlichen Gründen, womit man bdaffelbe auch 
vor fich felbft zu befchönigen und zu entfchuldigen, fich darüber 
zu berubigen fucht: „mit dieſer Sünde muͤſſe ed fo arg nicht 
feyn, als die Beiftlichen ed zu ſchildern fuchten; fie fey ja fo 
allgemein unter den Menfchen verbreitet, fey ja nur menfchliche 
Schwachheit, wovon wohl Keiner fi) ganz frei möge fprechen 
können; fey eine Stimme der Natur, und diefe Stimme fey 
ja eine Stimme der Liebe, fey ein Trieb der Natur, welchen 
ihre Urheber wohl nicht umfonft berfelben fo unauslöfchlich tief 
eingeprägt habe.” So kommt man denn in feiner Berbien- 
dung fo weit, daß man felbft an dem göttlichen Urheber unfe- 
rer Natur, an dem reinften und heiligiten Mefen, und an 
Seiner 'weifen und heiligen Ratureinrichtung fich vergreift, um 

26+ 


— 101 — 
feine eigene Schande zu decken. Wohl bat ber weiſe, heilige 
und gütige Schöpfer den Gefchlechtätrieb fo unauslöfchlich tief 
unferer Natur eingeprägt, aber einzig und allein, um auf dem 
von Ihm angeordneten Wege das menfchliche Gefchlecht in be= 
ftändiger Fortdauer auf Erden zu erhalten und zu vermehren; 
alfo einzig und allein in Beziehung auf die Ehe, welche der 
von Ihm angeordnete und vorgefchriebene Weg iſt; einzig und 
allein, um in gemeinfchaftlicher Vereinigung in dieſem Stande 
"Kinder nicht nur’ zu erzielen, fondern auch zu erziehen, 
ihnen nicht nur das leibliche Leben zu geben, fondern fie auch 
zum ewigen eben zu führen. Wie groß aber find die Buͤrden 
und Beſchwerden, die mit diefem großen und heiligen Werke, 
die mit der Geburt, mit der Verpflegung und mit der Erzie⸗ 
bung der Kinder von dem erſten Augenblide ihres Dafeyns an 
verbunden find! Um nun Menfchen von beiderlei Gefchlecht 
anzutreiben, in gemeinfchaftlicher Vereinigung dieſe großen Bür- 
den und Befchwerden zu übernehmen: dazu hat Gott. ihnen 
zuerft den Trieb der Liebe gegeben, welcher fie zu einander 
hinneigt, welder ihnen gegenfeitiged Wohlwollen und Ber- 
trauen und Freundfchaft einflößet, welcher in den Kindern, 
womit Gott ihre Ehe fegnet, immer neue Nahrung und neues 
Leben erhält, und fo einen fchönen, Gott geweiheten Familien⸗ 
verein bilder, Durch dieſen gemeinfchaftlichen großen Zweck 
wird der Trieb der Liebe zur wahren Tugend erhoben, und 
immer mehr ausgebildet. Da aber wir Menfchen nicht bloß 
vernünftige, fondern auch finnliche Wefen find: fo bedurfte es, 
um ſolche finnlic vernünftige Wefen anzutreiben, jene großen 
Bürden und Beſchwerden zu übernehmen, auch zugleich eines 
finnlichen Reized und Zriebes, welcher die beiden Gefchlechter 
zu einander hinneigte. Und allein dazu hat Gott den beiden 
Geſchlechtern diefen finnlihen zu einander hinneigenden Trieb 
gegeben. Wie ed aber mit allen finnlihen Zrieben und Nei— 
gungen ber Zal ift, To auch mit diefem. In allen muß bie 
"Vernunft, der Geift gebieten, die Sinnlichkeit, das Fleiſch muß 
gehorchen: der Geift muß den finnlihen Trieb beherrfchen, und 
ihn zu feinem Zwede leiten. Das iſt unfere Beſtimmung auf 








— 05 — 


Erden. Je größer und erhabener aber nun ber Zweck ift, wo- 
zu ber finnliche Trieb und gegeben iſt, um deflo mehr muß 
unfer Streben dahin gehen, venfelben in befländiger Unterwür- 
figkeit unter dem Geifte zu erhalten. In Beziehung auf den 
Ehefland ift ed num die Liebe, die wahre, veine Liebe, biefer 
Antheil unferes vernünftigen Weſens, welche die Oberherrfchaft 
führen und feinen finnlihen Trieben, der finnlichen Liebe ges 
bieten muß. Dieſe muß den Ehebund fchließen, dieſe denfel- 
ben befländig in Reinheit erhalten; dann wird der Segen Got: 
tes auf den Eheleuten ruhen, und Friede und Freude wird un: 
ter ihnen herrfchen. Nur dann kann und wird die Che eine 
glücdliche, von Bott gefegnete Ehe feyn, wenn diejenigen, die 
fie Schließen, aus wahrer FSreundfchaft und Liebe fie fchließen, 
um mit einander ein friedliches, frohes, frommes Leben wor 
Gott zu führen, um gegenfeitig Alles beizutragen, fich einan- 
ber beffer und wahrhaft glücfeliger zu machen; und um Die 
Kinder, die Gott ihnen geben wird, in aller Gottesfurcht fo 
zu erziehen, damit fie diefelben, die fie von Gott empfangen 
haben, durch Erziehung, Unterricht und Beifpiel gebildet, Gott 
wieder geben fönnen. Wird die Ehe in blinder Leidenfchaft, 
bloß in Rücdficht auf die Außerlichen, in die Augen fallenden 
Vorzüge und Eigenfchaften gefchloffen: o, dann hat ihre Ruhe 
und Glüdfeligkeit nur einen kurzen Beſtand; den Verblendeten 
fallen nur zu bald die Schuppen von den Augen; und diejeni- 
gen, bie vor der Ehe fo leidenfchaftlich fich liebten, oder viel- 
mehr fich zu lieben wähnten, fangen in der Ehe nur zu bald 
an, fich einander müde zu werden. Wird die Ehe vorzüglich 
nur deßwegen geichloffen, um den Naturtrieb zu befriedigen, 
ohne daß die gefellige, freundfchaftliche Liebe Faum einigen An⸗ 
theil daran bat: o, wie fo bald ift der Sinnentaufch vorüber! 
dann ift fie in unreiner Geſinnung angefangen, dann ift nicht 
einmal die ehelihe Treue, auch Durch den feierlichiten Eid am 
Altare, nicht gefichertz dann ift dad Ende Elend und Verder—⸗ 
ben. Dann ift es der Beflimmung des Menfchen ganz entge- 
gen, ift entehrend für die menfchliche Würde, wenn der Menfch 
bei feinen freien Handlungen bloß ald hier, nur nach thierie 


ſcher Luft, und nicht als Menſch, nach höheren, fittlihen Bee 
weggründen handelt. — 

Sp müffen wir den Ehefland betrachten ald eine wunbers 
bar weife Einrichtung und Anordnung des Schoͤpfers, bie den 
Bebürfniffen unferer Natur fo ganz angemeffen iſt. Wir find 
Alle zur Liebe, d. h. zur wahren, wohlmollenden, nur das 
Gute bezielenden Liebe berufen: ohne diefe Liebe kann Feine 
Vollkommenheit und Tugend, Feine wahre, dauerhafte Gluͤck⸗ 
feligkeit beftehen. Dazu iſt denn der Ehefland von Gott fo 
angeorbnet, um dieſe Liebe auf Erden zu erhalten, und zu vers 
breiten, um biefelbe in einem fchönen Familienverein zwifchen 
den Cheleuten unter einander, und zwifchen ven Haudgenoffen 
fletö neu zu beleben, ihnen beftändig neue Nahrung und neue 
Anläffe zu geben, fich zu verebelen und immer ſchoͤner auszu⸗ 
bilden, Darum ift eine folhe Familie wie eine Eleine Ge⸗ 
meinde; darum ift fie auch dad Sinnbild der Kirche, in wel 
cher die Liebe die Herrfchaft führt. Darum hat auch 3. €. 
die Ehe zu einem Saframente erhoben, und den Eheleuten bie 
Fraftigften Gnadenmittel verheißen; welche ihnen nothwendig 
find, um die heiligen und fchweren Pflichten ihres Standed ges 
treu erfüllen, um die großen Bürden und Befchwerben deffels 
ben gemeinfchaftlich ertragen, um in beftändiger Eintracht und 
Zreundfchaft ein wahrhaft chriftliched Leben vor Gott führen, 
um durch) Umgang und Beifpiel beftändig an Tugend und Voll: 
kommenheit wachfen, und biefelbe auf ihre Kinder fortpflangen 
zu koͤnnen. Wie rein und edel erfcheint alfo der Eheſtand de- 
nen, bie reined Herzens find! Denn Gott Selbft ift es, Der 
ben Ehefland angeordnet hat: und was Gott gemacht haft, dad 
ift wohlgemadht.; 


IL, 


Mir mußten zuvor den Eheſtand betrachten, was er ift 
und feyn folk nach der Abficht des Schöpfers, damit wir bie 
Schaͤndlichkeit und Abſcheulichkeit der Unkeuſchheit deſto beſſer 
erkennen, deſto ſtaͤrker verabſcheuen moͤchten. Denn der Ehe⸗ 
ſtand iſt wahrhaftig dazu nicht angeordnet, um die Unkeuſchheit 


— 0 — 


zu befriebigen, fonbern vielmehr um durd bie Alles uͤberwie⸗ 
gende Macht ber wahren, heiligen Liebe den Naturtrich zu 
zügeln, ihn vor Auöfchweifung in Unfeufchheit zu bewahren, 
und alfo die wahre. Keufchheit zu erhalten. Was alfo in ber 
Ehe durch den großen Zwed und durch die Herrfchaft ber Liebe 
gereiniget und geheiliget wird, dad erfcheint außer der Ehe, 
wo biefer Zwed nicht da ift, in einer ganz anderen Geſtalt, 
erfcheint bloß als fehändliche Unzucht, und als thierifche Wol⸗ 
luft; erfcheint in der größten Häßlichkeit und Abfcheutichkeit, 
wenn wir und nur ald Menfchen, erfcheint noch häßlicher und 
abjcheulicher, wenn wir und ald Ehriften im Lichte unfera d. 
Religion betrachten. 

Bloß ald Menfchen betrachtet, finden wir und beftimmt 
und berufen, daß der Geift, die Seele, die Oberherrfchaft fuͤh⸗ 


ren fol über die Sinnlichkeit, die finnlichen Triebe in Ordnung 


halten, die Lüfte des Sleifches zügeln und bändigen fol. Nun 
bedenket einmal, wie kann der unfterbliche Geift, dieſes Eben⸗ 
bild Gottes, zum Herrfchen beflimmt, wohl tiefer herabgewuͤr⸗ 
diget werben, unter die erbärmlichfte Skaverei bed Fleiſches, 
ald wenn man den Naturtrieb, feiner Beſtimmung entgegen, 
bloß der fleifchlichen Luft wegen, befriediget, oder ihm eine 
folhe Nahrung gibt, wodurch er nur immer größere Herrſchaft 
über den Geift erhalten muß, ald wenn man ihm das koͤſtlichſte 
Gut, welches der Menfch befikt, das Kleinod der Unſchuld 
und die Ruhe des Gewiſſens, zum Opfer bringt; wenn man 
ihn zu befriedigen fucht, ungeachtet all' des fehredlichen Wehes 
und Elends, welches man über fein ungluͤckliches Schlachtopfer 
zufammenhäuft, und wie erfcheint das Alles um defto fchändifs 
cher, weil dad Alles gefihieht unter dem Dedmantel der Viebe, 
womit mar fein Schlachtopfer blendet, weil man Liebe heuchelt, 
wo man bie größte Feindſchaft, einen fatanifchen Haß durch die 
That beweiſet. | 

So ganz unferer Beſtimmung entgegen, fo entehrend für 
bie Würde unferer Natur müflen wir die Unkeufchheit anfes 
ben, wenn wir und nur ald Menfchen betrachten. Wie viel 
ſchaͤndlicher und abfcheulicher erſcheinen fie uns aber, wenn wir 





— 48 — 

fie betrachten im Lichte unferer h. Religion, wenn wir und als 
Ghriften betrachten! Die Lehren der Apoftel find Lehren des h. Geis 
ſtes. Höret, was der h. Geift durch den Apoftel Paulus un ehrt: 
„Wiſſet ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel ſeyd, und der Geift Got- 
ted in euch wohnet? Wenn nun Jemand Sotted Tempel verdirbt, 
den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ift Heilig, 
und der feyd ihr.” 1. Kor. 3, 16. — Wiſſet ihr nicht, daß 
euere Leider Glieder 3. C. find? fol ich nun die Glieder 3.6. 
nehmen, und fie zu Gliedern der Unzüchtigen machen? Dad 
fey ferne! Oder, wiffet ihr nicht, daß, wer einer Unzüchtigen 
anhaͤngt, Ein Leib mit ihr wird?.. Wer aber dem Herm 
anhängt, ift Ein Geift mit Ihm. Fliehet daher die Unzucht! 
Jede Sünde, die der Menich begeht, ift außer dem Leibe: 
wer aber Unzucht treibt, der fündiget aus feinem eigenen 
Leibe... Ihr feyd um einen theueren Preis erkauft. Ver⸗ 
berrlichet und traget Gott an eurem Leibe! 1.Kor. 6, 15— 20. 
Sehet, fo gebietet uns dad Chriſtenthum, Ehrfurcht zu haben 
auch gegen unferen Leib, und zwar deßwegen, weil unfer Leib 
ein Tempel Gottes ift, weil die Glieder unſeres Leibes Glie- 
der 3. ©. find. Sind wir nicht durch dad h. Sakrament 
auf's innigfte mit unferem Herrn 3. C. vereiniget? ift nicht 
unfer Leib in Wahrheit Sein und des h. Geiftes Wohnort 
und Tempel? Achtet alfo auf den furchtbaren Audfpruch des h. 
Geiſtes durch den Apoftel: „Wer den Tempel Gottes verdirbt, 
den wird Gott verderben!” Mer den Tempel Gottes, den Leib 
an fich ſelbſt, oder an Anderen verdirbt, d. h. werunehret, ſchaͤn⸗ 
det; den wird Gott verderben! d. h. richten, flrafen, verdam⸗ 
men. Darum heißt e8 in der Offenbatung Sohannis, daß an 
dem großen Gerichtötage die Unkeufchen draußen flehen, aus⸗ 
gefchloflen werden aus dem Reiche Gottes, und himabgeftoßen 
werden mit ihrem gefchändeten Leibe in den fchredlichen Pfuhl, 
wo in Ewigkeit Feuer und Schwefel brennen wird. 


II. 


Das merket euch wohl, ihr, die ihr in euerer Verblen⸗ 
bung euere Leidenfhaft vor euch und vor Anderen ald eine 





— 49 — 
unbedeutende Schwarhheit barzuftellen fucht, die ihr mehr dar⸗ 
über zu lachen, ald fie zu verabfcheuen geneigt feyb! Nicht 
nad der Stimme euerer Leidenfchaft, nicht nach dem Urtheil 
der Welt, nicht nach dem Beiſpiel der Leichtfertigen : ſondern 
einzig. und allein nach dem Worte Gotted werdet ihr gerichtet 
werden. Himmel und Erde werben vergehen; aber, wenn Hims 
mel und Erde vergangen find: fo wird nicht vergangen feyn 
das Wort: „Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott 
verderben.“ So werdet ihr nach diefem Worte aufs ſtrengſte 
gerichtet werden, wenn ihr ohne Buße und Beſſerung in euerer 
Leidenfchaft hinuͤbergegangen feyb in jene Welt. Das merfet 
euch wohl, ihr, die ihr gefinnt ſeyd, bald in den Eheſtand zu 
treten, und die Perfon, womit ihr Sreube und Leid und alle 
Schidfale ded Lebens bis zum Ende theilen wollet, ſchon ges 
wählt habet! Der Stand der Verlobten ift der gefährlichfte; 
um befto gefährlicher, je länger er dauert, und je häufiger die 
Selegenheiten zum Umgange find. O, merket euch wohl das 
Wort: „Wer den Tempel ded Herm verdirbt, den wird Gott 
verderben!” Mie, fol das Beweis euerer Liebe feyn, wenn 
ihr euch einander erft verberbet, ehe ihr euch mit einander vers 
bindet; wenn ihr den Fluch Gottes auf euch ladet fhon vor 
dem Eintritt in den Stand, in welchem euch an dem Segen 
Gottes Alles gelegen feyn muß? Und das Elend und VBerder- 
ben folgt auch auf dem Fuße nach allen denjenigen, die mehr 
auf die Stimme ihrer Leidenfchaft, ald auf das Wort des 
Heren hören. Welche vor der Ehe mit einander ſich verfündi- 
get haben, die. haben Ye gegenfeitige Achtung ſchon verloren, 
wenn fie am Altar fich die Hände reichen; und mit der Adh- 
tung iſt auch die Liebe verloren. Welche mit unreinen Gefin- 
nungen in biefen Stand treten, der ein Heiliger Stand feyn 
fol: Die werden von bdiefer unreinen Gefinnung nur Elend 
und Verderben ernten. Wie fol man den Segen und Frieden 
Gottes erwarten dürfen in einem Stande, den man nicht mit 
Gott, fondern ganz eigentlich mit der Sünde und mit bem 
Teufel vorbereitet und angefangen hat? 


— AO — 


Am ſicherſten und ſchrecklichſten wird jeteß angedrohete, 
furchtbare Strafgericht euch treffen, ihr ſchaͤndlichen Verfuͤhrer! 
. die ihr von euerer unbaͤndigen Leidenſchaft euch fo beherrſchen 
Yaffet, daß Peine Unfhuld, Fein Stand, Fein Verhältniß, Feine 
Verbindung euch mehr heilig iſt; die ihr fchon angenommen 
habet die Gefinnung eures finfteren Genoffen und Anführer, 
der umhergeht, zu Tüichen, wen er verfihlinge, die ihr eben fo, 
wie er, mit Bewußtfeyn und mit Abficht auf böfen Wegen, 
und auf Raub, auf Raub der Seelen außgehet, die 3. €. mit 
Seinem Blüte fo theuer erfauft hat! Andere große Sünder 
darf man nicht in der Kirche erwarten, weil fie noch zitteren 
vor dem Heiligthumes; euch aber ift felbft das Heiligthum nicht 
mehr heilig; ihre erfcheinet vor demfelben, nicht um das Wort 
Gottes zu hören, um euch zu befehren, nicht um Antheil zu 
nehmen an dem Werke der Erlöfung, fondern umberfpähend mit 
lüfternem, unreinem Blicke, um euch und Andere zu verberben. 

O, möget vorzüglich ihr achten auf jenen furchtbaren Aus- 
ſpruch: „wer ben Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott ver- 
derben!“ — ihr, die ihr nicht die Gelegenheit, vielleicht auch 
nicht ben Muth und die Entfchloffenheit habet, mit Anderen zu 
fündigen, weil ihr die verberblichen zeitlichen’ Folgen noch fuͤrch⸗ 
tet, euch aber an eurem eigenen Leibe verfündiget, und Werke 
der Sinfterniß verübet, die vor Gott ein Greuel find! Das al- 
lein müßte euch zum Zeichen feyn und zur Warnung dienen, 
daß Feine einzige Sünde ſich nennen läßt, die fo verheerend in 
ihren verberblichen Kolgen wäre, die den ganzen inneren und 
Außerlichen Menfchen fo fehr zerrüttet als diefe! Und kann fie 
und wohl verborgen feyn die unnatürliche Schändlichfeit diefer 
Leidenfchaft, wobei man Feine andere Abficht hat, ald bloß den 
roheſten, thierifchen Sinnengenuß, wobei man dem Naturtriebe 
fo geradezu und ihm entkräftend entgegenhandeltz wobei man 
im Gefchlechtätriebe gar Feine Entfchuldigung findet, weil diefe 
Sünde gegen den Gefchlechtötrieb iftz wobei man den unfterb- 
lichen Geiſt, dieſes Ebenbild Gotted, zur erbärmlichften Skla⸗ 
verei des Zleifches herabwuͤrdigt! DO, ihr Eltern, und befonders 
ihr chriftlichen Mütter! laſſet euch warnen! einige euerer Kin- 








der flehen vielleicht, euch no unbewußt, ſchon ain Rande des 
Abgrundes, einige find vielleicht fchon angeftedt, andere in Ge⸗ 
fahr, es zu werden; dieſes erfchrediliche Webel greifet immer mehr 
um fih. O, chriſtliche Aeltern! habet aljo ein wachſames Auge 
auf euere Kinder! Auch ihr fend berufen, Schutzengel euerer 
Kinder zu ſeyn. Das heilige Kleinod, welches zu bewahren 
euch anvertranet iſt, ift Die Unschuld euerer Kinder. Wehe euch, 
wenn biefelbe durch euere Schuld verloren geht! 

DO, daß wir Alle und warnen ließen, zu wachen über un 
felbft und über diejenigen, die und auvertrauet find! Denn 
wahrhaftig nicht übertrieben, nicht aus der Luft gegriffen ift 
die Schilderung von dem immer mehr einreißenden Verderben 
aller und jeder Art von Unkeuſchheit. Wenn bie wirklichen 
offenkundigen Säle der Unzucht unter und fo häufig find; wie 
viel häufiger müffen dann diejenigen feyn, die nit an's Ta⸗ 
geslicht kommen, wie viel häufiger alled dad, was dazu vorbes 
reitet und Anlaß gibt! Und Legt nicht das ebenfalld am Tage? 
wird nicht die Freiheit im Umgange immer zügellofert wird 
nicht Zucht und Scham und Sitte immer mehr aus der Geſell⸗ 
[haft verbannt ?- find nicht in vielen, auch unter Gebildeten, 
die Ichamlofeften Neben zum Tone geworden? yeflattet man 
fich nicht ohne alle Vorfiht Die ungebundenfte Leferei aller und 
jeder Schriften? wird nicht durch das Alles der Geift der Uns 
reinigkeit genährt, der Geiſt der Neinigkeit aus dem Herzen 
verbannt? Und wenn die innere Reinigfeit verloren ift, dann 
hat auch die Außerliche keinen Werth und Feine Stüge mehr, 
und bat auch nicht lange mehr Befland. Wer dabei denken 
wollte: „fo weit fol und wird es mit mir nicht kommen,“ der 
kennt fich felbft nicht. Und wer vermeflen denken wollte: „da⸗ 
vor fol Gott mich bewahren!” der denft nicht an das Wort 
3. C.: „wer die Gefahr nicht meidet, wird auc, in der Gefahr 
umkommen.“ 

Was ſollen wir thun, um dem einreißenden Verderben zu 
ſteuern? — Gott allein kann helfen, Gott wird auch ſicher hel⸗ 
fen, wenn wir mithelfen wollen. Wenn aber die erwachſene 
maͤnnliche Jugend fortfahren will, durch den Hang zu berau⸗ 


— 42 — 


ſchenden Getraͤnken den Hang zur Unkeuſchheit zu naͤhren, wenn 
ſie und die Maͤnner fortfahren, die heiligen Tage durch Spiel 
und Trunk zu entheiligen: dann wird Gott nicht helfen, dann 
wird das Uebel noch aͤrger werden. Wenn die erwachſene weib⸗ 
liche Jugend fortfahren will, durch Leichtfertigkeit im Umgange, 
durch uͤbertriebenen oder unanſtaͤndigen Putz, durch eitele Ge⸗ 
fallſucht ſelbſt die Netze der Verſuchung auszuſtellen, fortfahren 
will, jeder Anlockung auch zur thoͤrichtſten Verbindung ſich 
hinzugeben; wenn die gebildete Jungfrau fortfahren will, 
durch unbewachte Leſerei ihr Herz zu vergiften, wenn ſie ver⸗ 
kennen will ihren großen, ſchoͤnen Beruf, ausgeruͤſtet mit dem 
Schilde holder Schamhaftigkeit, den Gott ihr gegeben hat, der 
Schutzengel des anderen Geſchlechts zu ſeyn: dann wird Gott 
nicht helfen, dann wird das Uebel immer aͤrger werden. 

Wenn wir aber Alle uns eifrig beſtreben, in uns zu naͤh⸗ 
ren die h. Furcht Gottes, die allein uns retten und ſchuͤtzen 
kannz wenn wir dad Andenken an die Gegenwart Gottes und 
an Sein Strafgereicht oft erneueren, wenn wir eifrig zu Gott 
um Hülfe und Beiſtand bitten, und dann nicht nur unfere 
Sinne, fondern auch unfere Begierden und Gedanken forgfältig 
bewachen; dann wird Gott ‚ganz gewiß helfen; dann werden 
wir bier in der Neinigfeit des Herzens den Frieden haben, und 
dort zu dem feligen Anfchauen Gottes gelangen, fo der Herr 3. 
C. denen, die reines Herzens find, verheißen hat. Amen. 





— 18 — 


Ein und dreißigſte Rede. 
Zweite Rede am Feſte Maris Geburt. 


zert: 

„Jakob zeugete Joſehh, den Mann Mariaͤ, von welcher 
geboren ward Jeſus, Der genannt wird Chriſtus.“ 
Matth. 1, 16. 

hema: | 
Ganz gewöhnlih das Außerlihe, ganz unge- 
wöhnlicd das innerlihe Leben Mariä. 


In dem heutigen Sefte feiern wir dad Andenfen an den Tag, 
da Maria, die Mutter unfered Herrn 3. C., das Licht der Welt 
erblidt hat; da jene gebenebeiete Zungfrau Das Licht der Welt 
erblickt hat, die auserkoren ward, Denjenigen zu gebären, Wel⸗ 
cher das Licht war, „zu leuchten denen, die faßen in Zinfterniß 
und im Schatten ded Todes, zu richten unfere Füße auf den 
Meg bed Friedens. “Luk. 1, 79. Bor einigen Wochen haben 
wir das Andenken an ihre Aufnahme in den Himmel gefeiert, 
und haben fie nach dem Glauben unferer Kirche ald Königin 
des Himmels verehrt: heut feiern wir dad Andenken an ihre 
Geburt in diefe Welt, in biefe Welt voll Sammer, Noth und 
Elend, in diefe Welt vol Sünde und Tod. Welch?’ ein Unter 
fchieb zwifchen beiden Gegenfländen unſeres Andenkens! Dort 
der Himmel mit al’ feiner Freude und Herrlichkeit, und fie 
unter allen Auserwählten eine der Erften und Vornehmſten, 
voll von Gnade und Seligkeit: und hier die Erde mit al’ ih⸗ 
rer Nichtigkeit, Wergänglichkeit, mit al? ihrer Trübfal, Noth 
und Leiden; und fle geboren auf dieſer Erde als eine ber Ge- 
tingften, geboren in einer fchlechten Hütte der Armuth, geboren 
ald ein gemeined Menfchenfind, in einige fchlechte Windeln ges 
wickelt, da fie felbft nachher ihrem göttlichen Kinde nicht mehr 


— 46 — 


wäre ed nicht möglich, meinen Sohn, aud im fchmerzlichften 
Tode, zu verlaſſen; immer lieber dabei gegenwärtig und in der 
Nähe, ald davon entfernt: der Schmerz ber Abwefenheit ift 
noch unerträglicher, ald der Schmerz ber Gegenwart unb des 
Anbiids? follte man mit dem Geliebteften feiner Seele nicht 
ausharren bis zum Ende? ihm diefen letzten Troſt verfagen 
koͤnnen?“ 

Alle dieſe Begebenheiten aus dem Leben der gebenedeieten 
Mutter unſeres Herrn J. C. verrathen nun freilich eine unge⸗ 
mein reine, einfache, ſchoͤne Seele; zeugen alle von der Ge⸗ 
‚ müthsart‘ einer Perſon, welche Jedermann achten und lieben 
müßte, womit Zeber gern Umgang haben, welcher Jeder fein 
ganzes Zutrauen ſchenken würde. Uebrigens aber enthalten fie 
doch nichts Befondered und Ungewöhnliched, woraus wir auf 
ihre ungewöhnliche, überaus große Erhebung und Begnadigung 
bei Gott fehliegen koͤnnten. Im Gegentheil, fo ungewöhnlich 
und außerordentlich die Begebenheiten waren, bie fie erlebt hat; 
fo blieb doch bei alle dem ihre Leben ohne alle Weränberung, 
fo ganz. gewöhnlich, fo ganz einfach, ald dad Leben von Men- 
fhen in den geringen Ständen zu feyn pflegt. Sie blieb vor 
der Welt ganz undekannt in ihrem Eleinen Häuschen zu Raza- 
reth, verrichtete ihre täglichen Werke, unb ernaͤhrte fich ehrlich 
und reblich von der Arbeit ihrer Hände. So war ihr Leben 
den einen Tag wie den anderen, mit der einzigen Ausnahme, 
daß fie alle Jahre nach der Vorfchrift des Geſetzes die Reiſe 
auf das Feſt nach Serufalem mit ihren Landsleuten und mit 
den Juͤngern und Süngerinnen ihres Sohnes zu machen pflegte. 

Und doch hat fie, bei dieſer ganz einfachen, gewöhnlichen 
Lebensweiſe fhon hier auf Erden die größte Begnabigung, Die 
je einem Menſchen zu Theil geworden, fo wie bort im Him⸗ 
mel die größte, überfchwengliche, ewige Belohnung gefunden. 
9, m. 3.! wenn wir dad recht bedenken: fo müflen wir barin 
wahrlich die größte Ermunterung finden. Denn nur wenigen 
Menfchen tft eö gegeben, durch außerordentliche Werke und Tha⸗ 
. ten bei ihren Nebenmenfchen und bei dee Welt auf eine befon- 
dere Art fich verdient zu machen. Wie wenige haben dazu Ans 





— 4117 — 


laß und Gelegenheit, wenn auch einige derfelben Kraft und Wil 
len haben möchten! Wie wenige haben Zeit und Muße zu uns 
gewöhnlichen Andachtsuͤbungen, zu vielem Faſten und ſchweren 
Abtödtungen des Fleifches! Wenn das Alles ganz nothwendig 
erfordert würde, um felig zu werden: o wie viele taufend und 
taufend Menſchen müßten dann an ihrem ewigen Helle verzas 
gen! DO, wie fo fehr Unrecht haben daher Jene aud den gerins 
geren Ständen, bie in ihrem Herzen oft denken, manchesmal 
auch fprechen: „ich kann nichtd Gutes thun, ich muß den gan⸗ 
zen Tag arbeiten!” Gehet! auch Maria mußte, um leben zu 
Eönnen, ebenfalld den ganzen Tag arbeiten, und hat im Aeu⸗ 
Berlichen gerade das nämliche Leben geführt, wie ihr ed führen 
müffet. Und doch hat fie fo große Gnade vor Gott gefunden. 


IL, 


Müffen wir nun nicht ein großes Verlangen haben, zu 
wiſſen, wodurd fie denn eine fo große Gnade vor Gott gefuns 
den hat? Und wir brauchen uns wahrlich mit unferem Nach⸗ 
denken nicht viel anzuftrengen, um bie Antwort auf biefe Frage 
zu erfahren. Mögen wir ed nennen, wie wir wollen; mögen 
wir fagen: fie Hat von Jugend auf fich eifrig bemüht, Gottes 
Wort zu erkennen und treu zu erfüllen; oder: fie hat nach dem 
Willen Gottes immer ihr Leben eingerichtet, ift immer mit Got⸗ 
te8 Willen zufrieden gewefen; oders fie bat fi) von Jugend 
auf eifrig bemühet, rein und unfträflich vor Gott zu wandeln: 
dad Alles find nur verfchiedene Worte, die aber alle auf Eines 
binausfommen; und diefes Eine befteht darin: nachdem fie durch 
Gottes Wort ihre Beftimmung für dieſes zeitliche und für je⸗ 
nes ewige Leben kennen gelernt hatte; hat fie ſich mit ihrer 
Seele ganz dazu hingegeben, bier auf Erden nach Gottes Wort 
fo zu leben, damit fie dereinft ewig felig werden möchte. In 
ihrer früheren Jugend hatte fie das Beifpiel frommer Eltern 
vor fih, hörte von denfelben ſchon manche gute Lehre, hörte 
von ihnen dad Wort Gottes über Alled loben und greifen. 
Darum wurde ihr das Wort Gottes fhon bald über Alles 
werth und theuer, weil ed einzig und allein. ihr den rechten 

ar Thl. 2te Aufl. "797. 





— 48 — 


Weg zum ewigen Leben anzeigte. Und ed war damals für 
fie gewiß nicht leicht, fich eine richtige und reine Erkenntniß 
von dem wahren Worte Gottes zu erwerben. Wahrfcheintich 
hatte fie das gefchriebene Wort Gottes, die heil. Schrift nicht 
einmal felbft im Beſitz, daß fie zu Haufe darin hätte leſen, 
darüber hätte nachdenken können; weil folche Abfchriften damals 
fehr felten und nur in den Häufern der Reichen und Großen, 
und in den Synagogen waren. Sie Eonnte allo dad Wort 
Gottes nicht anders, ald am Sabbat, beim Öffentlichen Vor⸗ 
Vefen und Auslegen in der Synagoge Fennen lernen. Und wie 
lernte fie dad Wort Gottes dafelbft Fennen? — Mit allen den 
menſchlichen, willkuͤrlichen Zufägen und folchen Auslegungen, 
derer die Lehrer in Iſrael damals fich fhuldig machten, wo- 
durch fie dad reine, wahre Wort Gottes fo ganz und gar ver- 
drebeten und verunftaltelen, daß Faum eine Spur von demſel⸗ 
ben mehr übrig blieb, weswegen ja unfer Heiland 3. ©. fie 
fo oft und fo nachdruͤcklich getadelt, und fie blinde Führer der 
Blinden, und dad Volk eine zerfireuete Heerde ohne Hirten ge 
nannt hat. Ungeachtet eined fo fchlechten Unterrichts, der fo 

vol von Irrthuͤmern war, gelangte doch die h. Sungfrau zu 
einer ganz reinen, lauteren Erkenntniß des göttlichen Worts, 
wie wir es am beften aus ihrer Unterredung mit dem Engel, 
und aus ihrem herrlichen Lobgefange, den wir dad Magnificat 
nennen, einfehen koͤnnen. Gott belohnte ihre große Treue, in- 
dem es ihr bei der Erkenntniß des göttlichen Worts einzig und 
allein darum zu thun war, daſſelbe mit der gewiffenhafteften 
Treue zu befolgen, ihr ganzes Leben darnach einzurichten. So 
fehben wir auch in ihrem Beifpiele beftätiget daS ermunternde 
Wort, was nachher ihr göttlicher Sohn ſprach: „Mer fucht; der 
wird finden.” 

Dur Gottes Wort belehrt, war fie denn zu der hellen 
Einficht gelangt, daß Gotted Willen thun das Gute, Seinen 
Willen übertreten das Boͤſe, die Sünde fey; daß es Gottes Wille 
fey, uns in Reinheit und Unfhuld zu erhalten, und mit allen 
Kräften nach wahrer Zugend zu ſtreben; daß Gott demjenigen, 
der nur den aufrichtigen Willen habe, rein und gut zu werben, 





— 49 — 


und Ihn mit Vertrauen um Seinen Beiſtand anflehe, auf alle 
Art mit Seiner Gnade zu Huͤlfe kommen werde; daß Gott 
dem menſchlichen Geſchlechte, um daſſelbe von der Sünde zu 
befreien und mit Sich wieder audzufühnen, einen Erloͤſer fenden 
werde, durch Den wir zu Kindern Gotted wieder follten auf- 
genommen, durch Den und der Himmel, der und durch die 
Sünde verfhloffen war, wieder follte eröffnet werden; und daß 
derjenige, der auf ſolche Weile nad) Gottes Willen in Diefer 
Furzen Zeit ein reines, guted Leben führe, dereinft in dem Him- 
mel über allen Begriff follte belohnt und dort auf’3 innigfte 
mit Gott Selbft für die ganze Ewigkeit folle vereinigt werden; 
dag Gott Selbft fein überaus großer Lohn feyn werde. Das 
war. ihre Erkenntniß; und nach diefer Erkenntniß bat fie mit 
aller Treue ihr Leben eingerichtet. Daher denn ihre ftiller 
Umgang mit Gott, ihre Wandel vor Gott, in Seiner Gegen- 


wart nach dem Worte, welches Gott zu Abraham geiprochen 


hatte: „Wandele vor Mir, und fey vollfommen !” Daher waren 
die göttlichen Gebote die Richtfehnur ihres Lebens, daher fah 
fie bei al? ihrem Thun und Laffen einzig und allein auf Got: 
tes Willen; daher ihre große Wachfamkeit über fih felbft, um 
fih vor alem Böfen zu bewahren und in allem Guten immer 
mehr zuzunehmenz daher ihr gifriged Ringen, immer befjer zu 
werden; daher ihr anhaltendes Gebet, ihr heißed Flehen um 
Hülfe und Beiftand; Daher ihr dringendes Verlangen nach dem 
verheißenen Erlöfer, in dem allein fie für fih und für das 
ganze Menfchengefchlecht Hülfe und Rettung erwartete; daher 
denn endlich ihr reiner Sinn, ihre Tugend ohne Makel und 
Flecken, ihr feſtes Vertrauen auf. Gott, ihre gänzliche Hinge⸗ 
bung in Seinen h. Willen, ihre tiefe Demuth und ihre heilige 
Liebe. Feſt hatte fie in ihre Seele aufgenommen ben großen 
Entfchluß, hier ein folches Leben zu führen nach Gottes Lehr'e 
daß ihr nach Gotted Verheißung die ewige Seligkeit zu Theil 
würde. Ungewöhnliche, außerordentliche Begebenheiten haben 
ſich freilich in ihrem Leben mit ihr ereignet, wie Fein anderer 
Menfch fie je erfahren hatz aber ungeachtet derfelben war. und 
blieb doc von ihrer Seite ihr Außerliches Leben ganz gewöhn- 

| 27 * 


? 





— 4120 — 


lich, wie ed dad Leben vieler anderer Menfchen von geringem 
Stande zu ſeyn pflegt. 


III. | 

So gemöhntich aber ihr Außerliches Leben war, fo ganz 
ungewöhnlich und ohne Beiſpiel war dagegen ihr inneres Leben, 
welches jie in flilleer WVBerborgenheit vor Gott und mit Gott 
führte, war die Feſtigkeit ihres Entfchluffes, ein ganz reines, 
Gott gefälliges Leben zu führen, fih Gott und Seinem Willen 
ganz hinzugeben. Denn ganz ungewöhnlich und ohne Beifpiel 
war ihre Wachfamkeit über fich felbft, ihr Eifer, ganz rein und 
gut zu werden; ihr Nachdenken über Gotted. Wort, ihr Gebet 
und ihr ſtiller Umgang mit Gott, obſchon ihre täglichen Arbei: 
ten ihr nur fo wenig Beit dazu ließen; eben fo ungewöhnlich 
auch ihre Treue im Berufe, ihre Arbeitfamkeit; ungewöhnlich) 
und ohne Beilpiel ihr Vertrauen auf Gott, ihre Ergebenheit in 
Gottes Willen, ihre unmandelbare Demuth bei den größten 
Erhebungen und Gnadenbezeigungen, wie ihre unerfchütterliche 
Ruhe und Zufriedenheit in den tiefften Erniedrigungen, bei den 
fehmerzlichften Leiden und Prüfungen. Vor der Welt, vor den 
Menſchen, die nur auf dad Aeußere fehen, galt fie daher als 
eine ganz gewöhnliche Perſon; vor Gott aber, Der auf das 
Innere, auf dad Herz fieht, war fie, „vol der Gnade," die 
Auserwählte vor Allen. ; 

IV, 

Wie überaus Iehrreich und ermunternd ift und dieſes Bei- 
fpiel! Laß ed dich alfo nicht beunruhigen, wenn es dir an Ge- 
Vegenheit fehlt, ‚außerordentliche Werte zum Nuben anderer 
Menfchen verrichten zu koͤnnen; wenn es bir an Zeit. fehlt, alle 
Tage viele und lange Gebete verrichten, oder dich lange in der 
“Kirche aufhalten zu koͤnnen, wenn dein Stand ed nicht zuläßt, 
durch vieles Faften, oder andere Uebungen dich felbft abtödten 
zu Finnen! Das aber fey dein fefter Entfchluß,. hier dein Xe= 
ben fo einzurichten, daß dir dereinft nach Gottes Barmberzigfeit 
dad ewige Leben nicht ‚fehlen kann! Habe daher unäbläffig 


-y 
. 








— 21 — 


Gott vor Augen, und wandele in Seiner Gegenwart! Erhebe 
zu Ihm dein Gemüth, vorzüglich des Morgens, wenn du erwas 
heft, und ded Abends, wenn du dich zur Ruhe begibft! Ver⸗ 
liere Ihn nicht aus den Augen bei der Arbeit, uud vergiß Sei-. 
ner nicht bei deinen Vergnügungen! Sein h. Wort fey die 
Richtſchnur deines Lebens! Darum habe Acht auf Sein Wort, 
wenn ed dir des Sonntags verkündet wird; und was deiner 
Lage befonderd angemefjen ift, dad bemerfe, das behalte, dar⸗ 
über denke oft nad, das fuche treu auszuüben! Lerne, um zu 
thbun, um zu befolgen, was du gelernt haft! Bei al? deinem 
Thun und Laffen fich’ einzig und allein auf Gottes Willen! 
biefen zu erfüllen, fey dein einziges Beſtreben! „Kann ich da⸗ 
mit auch vor Gott beſtehen?“ das frage dich ſtets, ehe du et⸗ 
was anfängft und unternimmft! So diene Gott bei der Ar⸗ 
beit fowohl, indem du nur Seinen’ Willen zu erfüllen ſuchſt, 
als ir der Kirche! Kein Tag gehe dir vorbei, da du dich nicht 
durch filled Gebet zu Gott geflärkt haft! ein Tag ohne Gebet 
ift ein verlorner Bag. Prüfe dich oft, wie du vor Gott ſtehſt! 
Beſonders des Sonntags halte mit dir Rechenichaft, wie Du 
bie verfloffene Woche zugebracht haft! und ſtaͤrke dich durd) 
Neue und Vorfag für die neue Woche! Komm gern und oft, 
aber mit guter Vorbereitung zu den h. Saframenten, die und 
J. C. ald Sein beſtes Erbtheil hinterlaffen hat! 

Ein folches Leben kann Sedermann führen, in welchem 
Stande er auch feyn möge. Ein folches Leben ift, dem Aeu⸗ 
Berlichen nad), ein ganz gemöhnliched Leben, wie ed dad Leben 
Maris war. Ein folches ſtill verborgened Leben vor Gott und 
mit Gott ift das wahre Geheimniß des Heild. Mer ein fol- 
ches Leben hier auf Erden führt, der hat eben fo, wie Maria, 
den Gnadenbeiftand Gottes zu erwarten; dem wird Gott der: 
‚einft dad ewige Leben geben, Amen. 








— 42 — 


Zwei und dreißigite Rede. 


Erſte Rede am Jahresfeſte der Kirchweihe im 
Dom, welches zu Münſter am Sonntage nach 
dem 21. September gefeiert wird. 


— 


| Tert: 
„Heut iſt dieſem Haufe Heil wiederfahren.“ Luk. 19, 9. 


Thema: 
Auch unſer Haus ſoll eine Kirche ſeyn. 


n dem heutigen Jahrestage der Kirchweihe wird und dad 
Evangelium von der Belehrung des Zachaͤus zur Betrachtung 
vorgelegt, weil der Ausſpruch unfered Herrn: „heut ift diefem 
Haufe Heil wiederfahren,” einer ſolchen Weihe fo ungemein ans 
gemeffen iſt. Laffet und Daher dieſes lehrreiche, erhebende Evans 
gelium zuerft in Betrachtung nehmen! 


I. 

Auf Seiner letzten Feftreife nahm 3. €, mit Seinen Sün- 
gern den Weg durch Jericho; ehe Er in die Stadt Fam, heilete 
Er einen Blinden, der am Wege faß und bettelte. Ald Er 
nachher aus der Stadt auszog, machte Er zwei Blinde fehend. 
„Er ift umhergezogen,“ fprach nachher Petrus im Haufe des 


‚ Cornelius, „bat Wohlthaten erwiefen, und gefund gemacht Alle, 


die vom Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit Ihm. 
Und wir find Zeugen von dem Allen, was Er gethan im 
Lande der Suden und in Serufalem.” Apoftelg. 10, 31 — 39. 
Seinen Aufenthalt in der Stadt. Sericho felbft verherrlichte 
Er durch die Begebenheit, welche und in dem heutigen Evans 
gelium erzählt wird. 

. „Mnd Er zog hinein, und wandelte durch Jericho. Und 
ſiehe! da war ein Mann, mit Namen Zachaͤus; der war ein 








— 423 — 


Dberfter der Zöllner, und er, war reich.” Ein Zölner iſt es 
wieder, ein Mann, welcher feined Amtes und des gewoͤhnlich 
damit verbundenen fündlihen Wandeld wegen. bei ben Juden 
in großer Verachtung fland, ein folcher Mann ift ed wieder, 
dem ber Herr eine befondere Achtung erweifet und eine große 
Gnade ertheilt. „Die Menfchen fehen auf das, was aͤußerlich 
ift, Sott aber fieht das Herz an.” Nicht ein gemeiner Zöllner, 
fondern ein Oberzöllner, ein Generalpächter, Generaleinnehmer, 
wie wir ihn jetzt nennen würden, der viele Unterbeainte in 
feinem Dienfte hatte, war Zachaͤus; und fein Amt hatte ihm 
viele Gelegenheiten gegeben, durch Recht und Unrecht einen be- 
deutenden Reichthum fich zu erwerben; um deflo mehr war er 
bei den Juden verhaßt. 

„Und er fuchte, Jeſum zu fehen, wer Er wäre, und 
Fonnte nicht wegen der Volksmenge, denn er war klein von 
Much.” Dem Namen nad) mochte er den Herrn wohl ken— 
nen; ohne Zweifel hatte er von den Lehren und Wundern des 
Herrn gehört, hatte von der Auferweckung des Lazarus gehört, 
die vor einer Furzen Zeit in dem nicht weit entfernten Betha- 
nien gefchehen war, hatte vieleicht auch von der Heilung des 
Blinden gehört, die fo eben vor dem Stabtthore gefchehen, 
‚wovon der Ruf gewiß fchon in die Stadt hinein erfchollen 
war. Daher wünfchte er ben Herrn auch von Perfon zu ken⸗ 
nen, wünfchte zu fehen, wer Er wäre, wer der Mann wäre, 
Der ſolche Werke zu verrichten die Macht habe Nicht eitele 
Neugierde war aber die Duelle feined Verlangens, fonft würde ' 
der Herr dafjelbe nicht fo belohnt haben; der Herr Selbft hatte 
diefes Verlangen dur) Seine zuvorfommende Gnade in ihm 
angeregt. Seiner Schuld fich bewußt, hielt Ehrfurcht ihn ab, 
mehr zu verlangen. Da er im Volksgedraͤnge Ihn nicht fehen 
konnte, „lief er voraus, und flieg auf einen Maulbeerbaum, 
auf daß er Shn fahes denn allda würde er vorbeifommen.” 
Es war eigentlich ein wilder Feigenbaum, der zu einer merf- 
lichen Höhe wächlt, und dem Maulbeerbaum. ähnlich fieht. Auf 
diefem Baume figend erwartete er nun mit großem Berlangen 
ven vorübergehenden Heiland. Wir können und vorftellen, mit 


⁊. 


— 424 — 


welchem Hohn die Juden auf ihn werden hinaufgeblickt, wie 
ſie im Herzen uͤber ihn werden geurtheilt und geſpottet haben. 
Der Hert blidte auch hinauf; aber wie urtheilte Er, Der die 
Herzen Eennt, fo ganz anders über diefen Mann! 

„Und als Sefus ‚an diefe Stelle Fam, fah Er auf, erblidte 
ihn, und fprach zu ihm: Zachaͤus, fleig eilend herab, denn ich 
muß heute in dein Haus einkehren.“ Hier fehen wir die zu= 
vorkommende Gnade Gottes in ihrer lebendigen, kraftvollen 
Wirkſamkeit. Der Herr hatte dad Gemüth bedjenigen, bei 
welchem er einfehren wollte, vorbereitet. Der h. Auguftin fagt: 
„Zachaͤus ward von Sefus gefehen, und er ſah. Wäre er nicht 
gefehen, würde er nicht fehen.” Eine folche Gnade hatte Za⸗ 
haus nicht vermuthetz er hatte nur im Verborgenen ein gro= 
ßes Verlangen nach 3. E., diefed Verlangen belohnte ber Herr 
mit Seiner Gnabe, weil ed aus einem guten Herzen Fam, wel⸗ 
ches ſchon dadurch ſich offenbarte, daß der Mann fich nicht 
ſchaͤmte, vor allem Volke fih zur Schau zu fiellen, und ben 
Hohn und Spott nicht zu achten. Auf den Ruf des Herm 
ſtieg Zachaͤus eilend herab, und nahm Ihn auf mit Freude. 

Wie Zachaͤus um ded Herrn willen den Hohn und Spott 
des Volks nicht geachtet hatte: fo ertrug auch der Har um 
des Zachäus willen dad Murren ded Volks. Denn, „die es 
fahen,” wie der Here mit dem Zachaͤus nach deſſen Haufe ging, 
„murreten Alle, und fagten: bei einem Sünder fey Er einges 
kehrt.“ Zachaͤus fland alfo in dem Rufe eines äffe. !ihen Süun- 
ders; daß er ein Zöllner, ein Oberzöllner war, war ſchon genug, 
um in folchen üblen Ruf zu kommen; aus feiner Anrede an 
ben Herrn fcheint es aber doch hervorzugehen, daß biefer uͤble 
Ruf nicht ohne Grund war. 

Laſſet und hier achten auf die Fortfchritte der zuvorkom⸗ 
menden Gnade in dem Herzen des Menfchen, auf die Beftäti- 
gung der Lehre: „Wer hat’ — wer braucht, was er hat, — 
„dem wird mehr gegeben, daß er die Fülle habe!” Der gerin- 
geren Gnade, welche dad Verlangen, ben Herrn zu fehen, in 
him erwedt hatte, war Zachäus gefolgt; zur Belohnung em⸗ 
pfing er die größere Gnade, daß ber auf ihn ſah, ihn beim 





> 
Namfen nannte, dadurch zu verftehen gab, daß Er ihn Eenne, 
ihm Vertrauen einflößete, bei ihm Sich einlud. Da er nun 
auch diefer Gnade treu folgte, eilend herabftieg, den Herrn auf: 


nahm mit Freude; empfing er zur Belohnung die größte aller 
Gnaden, wurde aber von feiner Sünde befehrt, und zum 


Glauben an den Herrn ald an den verheißenen Meffiad ge⸗ 


führt. ' 
Mas im Haufe ded Zachaͤus während der Mahlzeit vors 
gefallen ift, was der Heiland zu ihm gefprochen, und wie Er 
dadurch feine vollfommene Belehrung bewirkt hat; davon hat 
uns der Evangelift Lukas nichts erzählt, gibt es aber durch bie 
Mirkung, durch die Anrede ded Zachaͤus an den Herrn beutlich 
zu erkennen. Zachaͤus trat herzu, und fprach zu dem Herrn: 
„Siehe, Herr! die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, 
und wo ich Semand Unrecht gethban habe, gebe ich ed vierfältig 


wieder.” Die Habfucht, diefe Wurzel alles Böfen, wie die h. 


Schrift fagt, hatte ihn zu mancherlei Ungerechtigkeiten verlei⸗ 
tet, zu welchem ihm fein Amt fo viele Öelegenheiten, fo gefahr: 
liche Verfuhungen gab. Nun war im Gefehe vorgefchrieben: 
„wer ein Schaf geflohlen, und dafjelbe gefchlachtet oder verfauft 
hatte; follte den Werth vierfach erfegen. Fand man daffelbe 
noch im Leben bei ihm, ober gab er fich felbft als Thaͤter an, 
fo brauchte nur dad Doppelte des Werths erfebt zu werben. 
2 Mof. 22, 1. Nach dem Geſetze hätte alfo Zahäus nur das 
Doppelte erfeßen müffen; er wollte noch mehr thun, wollte das 
Bierfache erfegen. „Siehe!” wollte er zu dem Herrn fagen, „um 
gewiß zu feyn, daß ich alled Unrecht wieder gut gemacht habe, 
wil ich noch einmal fo viel, als das Geſetz fordert, erſetzen.“ 
Dadurh that er feinem Gewiffen genug; durch Außerliche 
Werke der Gerechtigkeit machte er die Werke der Ungerechtig- 
keit wieder gut. Was er aber noch mehr aus dem Grunde 
feined Herzens fprach, war ein Beweis, daß er auch innerlich 
von feiner herrichenden Leidenfchaft, der Habfucht, vollkommen 
geheilet war. „Die Hälfte meiner Güter will ich den Armen 
geben.” So tief hatte dad Wort ded Herrn in feinem Herzen 
> Wurzel geſchlagen; die Liebe hatte den Teufel der Habfucht 





— 46 — 


ausgetrieben, und ſein Herz in Beſitz genommen. Sehet da 
einen aufrichtig buͤßenden, einen vollkommen bekehrten Sünder! 
‚Denn darin beſteht die wahre Bekehrung, daß man feine Sün- 
den nicht nur innerlich bereuet und verabfcheuet, ſondern audy, 
fo viel man kann, Alles wieder gut macht, was man durch 
die Sünde gefchabet und verborben hat, Ohne biefen feften 
Entfhluß des Willens, ohne fchleunige Ausführung dieſes Ent- 
ſchluſſes, iſt Feine wahre Belehrung möglich. Zachaͤus wollte 
nicht bloß wieder gut machen, wollte auch feiner fündlichen Nei- 
gung, der Habfucht, durch Werke der Liebe Abbruch thun; feine 
Bekehrung war ganz vollfommen. Darum hatte J. C. Sich 
Selbft bei ihm eingeladen, um ihn von feinen Sünden zu 
heilen, um ihn für Wehrheit und Tugend, für Seine Nach⸗ 
folge zu gewinnen. 

Darum ſprach J. C. zu ihm: „Heute ift diefem Haufe 
Heil wieberfahren; indem auch Diefer ein Sohn Abrahams ift.“ 
Nicht dem Gebäude von Holz und Steinen, fondern den Ein- 
wohnern des Haufed, alfo nicht dem Zachaus allein, war Heil 
wiederfahren. Aus diefem Ausſpruche ded Herrn dürfen wir 
fbließen, daß Zachaͤus durch fein Beifpiel und durch feinen 
Eifer auch alle feine Hausgenoſſen zum Glauben an den Hei⸗ 
land werde geführt haben; daß er nun mit feinem ganzen 
Haufe glaubte, wie der Evangelift Sohannes von jenem koͤnig⸗ 
lichen Beamten es bezeugt. 

Wie tröftlich und ermunternd für ale Sünder, für uns 
Alle ift das Wort, weldhes 3. C. noch hinzufügte: „Denn des 
Menichen Sohn ift gekommen, zu fuchen und felig zu machen, 
was verloren war!” Gefommen ift Er, zu retten die Menfchen, 
die zwar verloren, aber doch nicht für ewig verloren, welche ber 
Hülfe und Rettung noch empfänglih, alfo verloren find auf 
folhe Art, daß fie noch wieder gefunden werden koͤnnen. 

Für diejenigen, die verflodten Herzens fich nicht befehren 
wollen, ift feine Hülfe und Rettung möglich. 

II. | 

Diefer Ausfpruh I. ©: „heut, ift dieſem Haufe Heil 

wiederfahren , findet nun die fchönfte Anwendung auf die er- 








—_ 4 — 


. habene $eierlichkeit, da eine Kirche durch uralte, ehrwürbige und 
bedeutende Gebräuche vom Biſchofe zum Gottesdienfte einges 
weihet wird; findet ebenfalls die fchönfte Anwendung auf den 
Sahrstag, an welchem dad Andenten an jene Weihe von einer 
ganzen Gemeinde in gemeinfchaftlicher Andacht wieder erneuert 
wird. Schon fünf hundert und fünfzig Mal ift diefer Jahres 
tag der Einweihung biefer bifchöflichen Kirche von der ganzen 
Stadtgemeinde feierlich begangen worden. So viele Jahre find 
jegt verfloffen, feit welchen diefer Tempel, nachdem der Ban 
vollendet, im Jahre 1272 am 30ften vieles Monatd September 
zu einer chriftfatholifchen Kirche ift eingeweihet worden. In 
dDiefen vielen Zahrhunderten, die mehr als ein halbes Jahrtau⸗ 
fend ausmachen, hat der Herr diefer Kirche Seinen audgezeich- 
neten gnädigen Schuß verliehen. In der traurigen Zeit der 
Slaubenötrennung ift in diefer Kirche, nachdem faft alle übrigen 
diefer Stadt zum Abfall fchon gezwungen waren, der Glaube 
und der Gottesdienſt in feiner Reinheit erhalten worden. Auf 
eine befondere Art hat der Herr diefelbe gefehlt in der ſtuͤr⸗ 
mifchen, fchredlichen Zeit der Miedertäufer, daß fie mit den 
Greueln und Schandthaten derfelben nicht befledt worben -tft. 
Sn unferer eigenen Zeit haben wir fowohl ihren Fall, als ihre 
Auferftehung erlebt; und noch vor kurzer Zeit iſt fie in ihre 

urſpruͤngliche Würbe, in die Mürde einer bifchöflichen Kirche, 
wieder hergeftellt worden. Billig und recht ift e3 daher, daß 
wir den Jahrtag ihrer Weihe, die und an fo viele und fo große 
Wohlthaten Gottes erinnert, mit frommem Andenken feiern. 

Billig und recht ift ed, daß wir an dieſem Tage dad Mort, 
das 3. C. zu Zachaͤus fprach: „Heut ift diefem Haufe Heil 
wieberfahren,” auf Diefe Kirche anwenden. Nicht dem Haufe 
bed Zachaͤus wiederfuhr dad Heil; fondern ihm felbft mit feinen 
Haudgenoffen, die Durch den Beſuch unferes Herrn 3. C. ges 
fegnet, gereiniget, geheiliget wurden. Der Herr befuchte dieſes 
Haus nur Ein Mal, und nur auf kurze Zeitz Er ging weg, 
und Fam nicht wieder; aber die Gnade, die Er zuruͤckließ, ift 
nicht von ihnen gewichen. So ift auch nicht diefem Haufe, 
von Holz und Steinen erbauet, das Heil wieberfahren, al3 der 


— 428 — 


Herr vor fuͤnf hundert und fuͤnfzig Jahren in demſelben Seinen 
Wohnſitz genommen hat, um immer dort zu bleiben; ſondern 
allen den lebendigen Dienern Gottes, die in allen dieſen Jahr⸗ 
hunderten ihr Heil geſucht haben, iſt auch in demſelben das 
Heil wiederfahren, indem der Herr an ihnen erfuͤllet hat Sein 
Wort: „Des Menſchen Sohn iſt gekommen, zu ſuchen und 
‚Telig zu machen, was verloren war.” Und wie viele Tauſende 
und Zaufende werden in biefer langen Zeit, länger als ein hal- 
bed Jahrtaufend, in diefem Haufe ihr Heil gewirkt und gefun- 
den haben! Welcher endliche Geift vermag fie zu meflen und 
zu zählen die unermeßlihen und unzähligen Gnaden und Wohl- 
tbaten, die aus diefem Haufe in fo vieler Menfchen Seelen 
von dem Gnabenthrone unfered Herrn und Heilandes zu ihrer 
Rettung und zu ihrem Heile hinüberftrömt find! Wo der Herr 
Selbſt in folher Nähe ift, da iſt Heil und Segen. Erhebenber 
Gedanke! Viele Taufende haben in diefem Haufe ihr Heil ge: 
fucht und gefunden; für viele Tauſende iſt dieſes vaus eine 
Pforte des Himmels geweſen. 


Groͤßer aber, weit größer noch wird leider die Zahl ber: 
jenigen feyn, die feit jener Zeit zwar diefed Haus oft befucht, 
aber ungeachtet aller Aufmunterungen und Warnungen, Die 
ihnen in felbem gegeben, ungeachtet aller Gnaden und Wohl: 
thaten, die ihnen hier ertheilt wurden, ihr Heil nicht mit Ernft 
gefucht und nicht gefunden haben. Allwiffender! Dir allein tft 
die Zahl derjenigen befannt, die auch noch heut zu Tage dieſes 
Haus und überhaupf die Kirchen gar häufig befuchen, ohne 
aber je mit Ernſt ihre Heil zu fuchen, ohne je ihre Heil zu fin- 
ben. Wer möchte nicht fürchten, zu der Zahl diefer Unglüdfeli- 
gen zu gehören? und wem gibt fein Gewiſſen wohl die Sicher: 
heit, daß er nicht dazu gehöre? Welche ift wohl eine der wich- 
tigften Urfachen, weßwegen der auch noch fo oͤftere Kirchenbe- 
fudy bei vielen Chriften Fein Heil wirft, und Feine Frucht 
bringt? — Auf dieſe für und fo wichtige Frage wollen wir 
‚in dieſer Erbauungsftunde unfer Nachdenken noch richten. 








II. 

Bon Senen fol jest die Rede nicht feyn, die hauptfächlich 
aus wirklich fündlichen Abfichten, 3. B. aus Eitelkeit, wie das 
Spruͤchwort fagt: um zu fehen und gefehen zu werben, oder 
aud Verſtellung und Heuchelei, um bei Anderen den Ruf einer 
vorzüglichen Srömmigfeit fich zu erwerben, oder in der Ver⸗ 
ftodtheit ihres Herzens fogar aus unlauteren Abfichten die Kir⸗ 
chen befuchen, und fo vermeflen find, unter derr Augen des hier 
gegenwärtigen Heiland 3. C. Selbft eine Nahrung für ihre 
ftrafbare Leidenfchaft fuchen. Diefe mögen ed wohl bedenken, 
daß auch zu ihnen gefagt iſt dad furchtbare Wort des Herrn 
durch den Propheten Iſaias: „Diefed Volk ehrt Mich nur mit 
den Lippen, fein Herz aber ift weit von Mir: dieſes Wolf ift 
Mir zum Gräuel:” daß auch zu ihnen gefagt ift dad noch 
furchtbarere Wort 3. C. Selbft: „Mein Haus ift ein Bet: 
haus; ihr aber habet e8 zur Mörbergrube gemacht.” Auch von 
Senen, deren Zahl aber fehr groß feyn mag, fol hier nicht die 
Rede feyn, die nur des Beitvertreibed oder bed Zwanges, oder 
der Gewohnheit wegen die Kirchen befuchen, denen es genug 
ift, die beflimmte Zeit hier an diefem h. Orte zugebracht zu 
haben, ohne einmal recht zu bedenken und zu willen, was fie 
wollen. Wer fein Heil nicht einmal fuc