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Full text of "Kants theoretische Philosophie in Friedrich Paulsens und Ludwig Goldschmidts Kant-Auffassung [microform]"

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MASTER 
NEGA TIVE 

NO. 93-81187-24 



MICROFILMED 1993 
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES/NEW YORK 



as part of the 
"Foundations of Western Civilization Preservation Project" 



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NATIONAL ENDOWMENT FOR THE HUMANITIES 



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would Involve violation of the Copyright law. 



AU THOR: 



HEGENWALD, HERMANN 



TITLE: 



KANTS THEORETISCHE. 



PLACE: 



GREIFSWALD 



DA TE : 



1907 



COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES 
PRESERVATION DEPARTMENT 

BIBLIOGRAPHIC MTCRnFORM TARHFT 



Original Material as Filmed - Existing Bibliographie Record 



193KD 

Z8 

V.7 



Hegenwald, Hermann, 1884- 

Kante theoretische philoaophie in Friedrich 
Paulrens und Ludwig Goldschmidte Kant- auf f aasung 
Greif swald, 1907. 

66 p« 24om. 

ThesiB, Greif swald. 




Master Negative # 

-5!L-J5iL«?-JL4 



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MRNUFflCTURED TO fillM STflNDfiRDS 
BY APPLIED IMRGE. INC. 




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1931^ 



KANTS THEORETISCHE PHILOSOPHIE 

IN FRIEDRICH PAULSENS UND LUDWIG 60LDSCHMIDTS 

KANT-AUFFASSUNG. 




:ie HC INAUGURALDISSERTATION DER HOHEN 
PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT DER KÖNIG- 
LICHEN UNIVERSITÄT GREIFSWALD ZUR ER- 
LANGUNG DER PHILOSOPHISCHEN DOKTOR- 
WÜRDE VORGELEGT VON ^ * * * * * 



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HERMANN HEGENW^ÄLD. 



GREIFSWALD 
PUFF & PANZIG 



Gedruckt mit Genehm iguii er 
der hohen philosophischen Fakultät der Künigl. Universität 

Greifs wald. 

Dekan: Professor Dr. Eehmke. 



Eeferent: Professor Dr. Rehmke. 






Meinen Eltern 



in Dankbarkeit 



gewidmet. 



I 



Disposition. 



I 



Seite 

Einleitung 6 

I. Kants „formalistischer Rationalismus.** 

a) K.'s Transsrondental-Philosophic 7 

b) Erscheinung und Ding an sich 11 

IL Kants Verhältnis zu Hume und Paulsens „historisch-genetische 

Methode" 17 

III. Die Kritik der reinen Vernunft. 

a) Die analytischen und synthetischen urteile 28 

b) Das Problem der Kritik und se'irft Formulierung .... 35 

c) Die transsc. Ästhetik 39 

d) Die transsc. Analytik der Begriffe 48 

e) Die Analytik der Grundsätze 62 

f) Die Dialektik 71 

g) Kants „Metaphysik" 78 

Schluß 84 



tl 



Einleitung. 



Friedrich Paulsens Kant -Darstellung in Frommanns 
Klassikern der Philosophie (^ 1898; ' 1904) gibt nach einer ein- 
leitenden Erörterung der weit- und zeitgeschichtlichen Stellung 
K.'s eine eingehende Behandlung des Lebens und der philo- 
sophischen Entwicklung des großen Denkers. Darauf folgt 
im I. Buch die Darlegung und kritische Erörterung der theo- 
retischen Philosophie K.'s mit KinschluÜ vonK.^s „Metaphysik" 
während das IL Buch K.'s praktische Philosophie, also seine 
Ethik, Rechts- und Staatslehre und schließlich die Lehre von 
Religion und Kirche behandelt. Im Vordergrund des Inter- 
esses überhaupt steht naturgemäß die theoretische Philosophie, 
und in Bezug auf diese hat P.'s Auffassung besonders viele' 
Widersprüche erfahren. Besondere Beachtung verdient ein 
Buch von Ludwig Goidschmidt: „Kantkritik oder Kant- 
Studium?« (Gotha 1901), in welchem der Verfasser die 
Paulsensche Auffassung zu widerlegen sucht. — 

Diese beiden heterogenen Ansichten über K.'s theoretische 
Philosophie — mit steter Bezugnahme auf die übrigen in 
Zeitschriften etc. veröffentlichten Einwände gegen P.'s Auf- 
fassung — vom kantischen Standpunkt gegeneinander abzu- 
wägen und aus den prinzipiellen Gesichtspunkten ihrer Autoren 
zu verstehen, ist der Zweck vorliegender Arbeit^). 

') Ich zitiere K.'s Kr. d. r. V. und die Proleg. nach der Reklam- 
Ausgabe und gebe die sonstigen Anführungen aus K.'s Schriften nach 
der neuen K. Ausgabe der Preuß. Akademie der Wiss. 



I. Der „formalistische Rationalismus" in Kants Philosophie. 

a) Kants „Transcendental**-Philosophie. 



Paulsens charakteristische Grundauffassung des gesamten 
kantischen Systems offenbart sich in dem Bestreben, in der 
kantischen Philosophie eine Gedankenströmung bloßzulegen, die 
er meta[)hysischen Idealismus nennt, und die er neben den 
anerkannten Gedankenkomplexen des praktischen Idealismus 
und des erkenntnis- theoretischen Idealismus als ebenbürtig, 
vielleicht als noch wichtiger anerkannt wissen will. Dieser 
Gesamtanschauung der kantischen Philosophie fügt sich P.'s 
Auffassung von den 5 Momenten, die seines Erachtens in der 
Kritik der reinen Vernunft besonders hervortreten, folgerichtig 
ein. Er unterscheidet in der Kr. d. r. V. I. den erkenntnis- 
theoretischen Idealismus, II. den formalen Rationalismus, III. 
den Positivismus oder die kritische Grenzbestimmung, IV. den 
metaphysischen Idealismus, V. den Primat der praktischen 
Vernunft^). Von diesen 5 Momenten stellt P. den formalen 
Rationalismus in den Vordergrund^). 

Untersuchen wir also, ob P. berechtigt ist, ein meta- 
physisch-monistisches Element, den Rationalismus, als 
Grundprinzip der Ki*. d. r. V. anzunehmen im Gegensatz zu 
dem transcendental- dualistischen Ausgangspunkt, der als der 
eigentlich Kantische in der Kr. d. r. V. gewöhnlich bezeichnet 
wird. P. beschäftigt sich mit dem Begriffe „transcendental" 
als grundlegendem für das Verständnis K.'s überhaupt nicht. 
Er erwähnt ihn gelegentlich, und dann — wie Goldschmidt 
mit Recht bemerkt — bedient er sich seiner als einer Art 
Zauberformel, durch die jede unbequeme Erörterung abge- 
schnitten wird. 



1) P. * S. 122. 

2) P. * S. 124. 



— 8 — 



In Bezug auf den Charakter des ganzen kantischen 
Systems unterscheidet P. zwischen Kants Transcendental-Phi- 
losophie und seiner Metaphysik. Letzterer widmet er einen 
ganzen Abschnitt seines Buches, in welchem er ausführt, wie 
K. doch stets an dem Dasein und der rationalistischen Denk- 
barkeit der „Dinge an sich", der intelligiblen Welt festgehalten 
und daß er diese ganz wie die alte Schul-Metaphysik aus einem 
monistischen Prinzip konstruiert habe. Nicht, wie die Kan- 
tianer wollen, ist für P. K.'s Transc- Philosophie eine neue Meta- 
physik, durch die er die alte dogmatische verdrängen wollte; 
sondern sie ist eine Vorstufe für dieselbe, sie bahnt ihr den 
Weg. Daher gipfelt K.'s Gesamtsystem für P. in den Dingen 
an sich, in der intelligiblen Welt, und die Kritik zeigt nach 
P. an, wie reine Erkenntnis a priori für den Menschen 
möglich sei, wodurch Kants Kr. d. r. V. seines Erachtens 
dem Eationalismus ein neues Fundament gibt. 

Chamberlain 1) definiert den kantischen Begriff „trans- 
scendental" als eine Gleichsetzung zweier Ideen, z. B. Gleich- 
setzung des Gedankens der Zweckmäßigkeit und der An- 
schauung der Lebensgestalt — also zweier Ideen, die logisch 
nicht miteinander zu vergleichen sind, weil die eine auf der 
Anschauung, die andere auf dem Denken basiert. Wir erhalten 
hier also eine strenge Scheidung zwischen zwei Prinzipien, deren 
Verknüpfung im menschlichen Erkenntnisvermögen den transsc. 
Charakter der Erkenntnis bedingen soll. In Chamberlains 
Darstellung haben diese beiden Seiten durchaus analoge Be- 
rechtigung, sie ergänzen sich und halten sich völlig im Gleich- 
gewicht. Wir haben hier den Begriff transscendental in seiner 
weitesten Fassung. Er setzt voraus ein erkennendes Subjekt 
mit einem doppelten Erkenntnisvermögen: Sinnlichkeit und 
Verstand, welches in einem psychologischen 'Seinsverhältnis 
zu der Wirklichkeit steht. 

Eine Fassung des Begriffes „transscendental", die dem 
von Kant Gewollten näher kommt, haben wir bei Goldschmidt^). 
Nach ihm legt die transsc. Untersuchung K.'s den Zusammen- 
hang formaler und realer Erkenntnis bloß. In dieser Unter- 
scheidung formaler und realer Erkenntnis offenbart sich ein 

^) Chamberlain : Immanuel Kant S. 4S6 
n G. S. 46. 



9 — 



Seinsgegensatz, der bei Chamberlain auch zu konstatieren war, 
aber mit dem Unterschiede, daß Chamberlain beide Faktoren : 
Sinnlichkeit und Verstand in eine Linie stellt und beide eigent- 
lich nur in ihren psychologischen Funktionen betrachtet. Bei 
Goldschmidt steht der Verstand in einem ursprünglicheren 
Verhältnis zum erkennenden Subjekt überhaupt, man kann 
ihn vielleicht mit letzterem identifizieren, und man erhält dann 
die Voraussetzung des Menschen als denkenden Bewußtseins, 
dem durch die Sinnlichkeit Gegenstände vermittelt werden. 

Das ist wohl der eigentliche Sinn des Kantischen Ge- 
dankens. K. schreibt^): „Ich verstehe unter einer transsc. 
Erörterung die Erklärung eines Begriffs als eines Prinzips, 
woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Urteile a priori 
eingesehen werden kann." In der Vorrede äußert er sich 
über den Hauptzweck der Kritik ^) : „Ich verstehe unter ihr 
nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des 
Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, 
zu denen es, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag." 
Die Hauptfrage ist nach ihm immer, „was und wieviel kann 
Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen*'^). 
— Diese Frage löst Kant in dem Sinne, daß wir Erkenntnis 
zwar nur von Gegenständen der Erfahrung gewinnen können, 
insofern sie Objekte der sinnlichen Anschauung, also Erschei- 
nungen, sind. Andererseits können wir doch eben dieselben 
Gegenstände auch als Dinge an sich selbst denken, „denn 
sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Er- 
scheinung ohne etwas wäre, was da erscheint*)". In diesem 
Gedanken K.'s, den er in der Dialektik systematisch ent- 
wickelt, offenbart sich am deutlichsten das tatsächliche Vor- 
handensein einer rationalistischen Strömung in seinem Denken, 
denn als Beleg für dieselbe wird man sowohl die Ideen, wie 
auch die Dinge an sich betrachten können. Das Ding an 
sich fällt auch insofern aus dem streng transsc.-dualistischen 
Schema heraus, als die ihm auf Seiten der Sinnlichkeit 
korrespondierende „reine Anschauung" nicht im geringsten 
eine Analogie darstellt zu der Bedeutung, welche die Position 



1) K. : Kr. d. r. V. S. 53. 

3) K. : Kr. d. r. V. S. 5. 

8) K. : Kr. d. r. V. S. 8. 

*) K. : Kr. d. r. V, S. 23. 



— 10 — 



des Dinges an sich im gesamten ka. tischen System hat Die 
«reine Anschauung" ist für sich allein bedeutungslos; erst 
dadurch, dafj Begriffe, also vorstandesmäÜige Funktionen, in 
Ihr konstruiert werden, wird auf sie der a,,o<]iktische Charakter 
der Mathematik begründet. Ganz anders beim Ding an sich 
Dieses wird zum Fun.lament dos kantischon Systems übürhau„t • 
es wird die Brücke und .1er Übergang von "der theoretischen 
zur praktischen Philosophie. 

Nicht iml Unrecht weist fornor Adickes') darauf hin, 
daU K. 8 Behandlung der Sinnlichkeit sein vorwiegend ratio- 
nahst.sches Interesse verrät. So grolJe Bedeutung K. im 
Gegensatz zu den Zeitgenossen in Deutschland der Sinnlich- 
keit zuschreibt, so führt er .loch nicht alle 15egriffo auf An- 
schauungen zurück und laut für .lic Sinnlichkeit selbst nur 
den C haraktor der Iteceptiv.tilt gelten, im Gegensatz zur 
hpontuncität, die nur dem andern Erkenntnisfaktor in, Menschen 
dem Verstände, zukommen soll. 

Mit diesem von Adickes bemerkten Faktum hängt meines 
hrachtens eng ein an.leres zusammen, welches ebenfalls als 
Belog lur das rationalistische Grundelemont der Kr d r V 
^u betrachten ist. Kant gibt einen Schematismus .lor Verstandes-' 
begriffe, durch den das in der Anschauung Gegebene den reinen 
Begriffen vermittelt wir.l. Würde er nun genau die transsc. Mittel- 
linie innegehalten haben, so würde er eine entsprechen.leTat.sache 
auf Seiten der Sinnlichkeit zu konstatieren gesucht haben, 
etw^a einen Symbolismus der Anschauung; denn nach K. sind 
nicht nur unsere Gedanken leer, in denen wir kein Anschau- 
ungsmaterial erkennen, sondern auch unsere Anschauungen 
bl.n. , wenn sie nicht der Synthesis von Begriffen unterstellt 
werden. K. begnügt sich mit dem Schematismus der Be- 
gr.lte weil er nur dem Verstände als dem Vermögen der 
Begriffe Spontaneität zuschreibt. 

n,.. ^. .Vo'-^'f «"Jem scheint mir festgestellt zu sein, .laß 
man tatsächlich von einem rationalistischen Grundelement im 
kantischen Denken sprechen kann. Daß aber P.'s Versuch 
auf Grund dieser rationalistischen Faktoren eine positive doir' 
matische Metaphysik K.'s aufzubauen, unberechtigt ist, wird 
die^folgende Einzeluntersuchung zu zeigen haben. Verständ- 

') Adikes .\nm. m seiner Ausg. der Kr. d. r. V. S. C7 f. 



»?% 



— 11 — 

lieh wird P.'s Standpunkt, wenn man in Betraeht zieht, daß 
nach ihm der eigentliche bleibende Kern der kantischen Ge- 
danken in der Dissertation vom Jahre 1770 enthalten sei und 
nicht in der Kr. d. r. V. In der Dissertation ist allerdings 
noch in positivem Sinne von dem mundus intelligibilis die 
Hede — und P.'s Gesamtauffassung könnte richtig sein, wenn 
jene Voraussetzung keine irrtümliche wäre. 



b) Erscheinung und Ding an sich. 

Für das Vorherrschen rationalistischer Strömungen in 
dem theoretischen Teil der kantischen Philosophie ist die 
Position des Dinges an sich ein wichtiges Zeugnis. P. widmet 
der F]rklärung und Deutung der Begriffe Erscheinung und 
Ding an sich einen besonderen Teil seines Buches*). Er geht 
von K.'s Begriff der Erscheinung aus und erklärt diese als 
das, „was die gewöhnliche Sprache Ding und zwar a {)otiori 
das körperliche Ding nennt: das unabhängig vom Subjekt 
existierende perdurable Objekt mit seinen wechselnden Tätig- 
keiten und Beziehungen-)." 

G. erklärt diese Erörterung P.'s als die „verkehrteste 

Art den kantischen Begriff zur Einsicht zu bringen". 

Kr vermißt die Erscheinungen des innern Sinnes, die in der 
gew()hnlichen Sprache doch nicht als Dinge bezeichnet werden 
— übersieht dabei aber P.'s Anmerkung an .einer Stelle ^^), 
nach welcher P. im Anschluß an L. Busses Aufsatz über die 
Schwierigkeit, den Begriff der P>scheinung auf innerseelische 
Vorgänge anzuwenden, die Erörterung der Erscheinungen des 
innern Sinnes abzulehnen scheint. 

Nach G.'*) hat P. ferner die Begriffe „perdurabel" und 
„unabhängig vom Subjekt" zur Erläuterung des Unterschiedes 
zwischen Erscheinung und Ding an sich sehr ungünstig ge- 
wählt, weil der Leser dadurch auf eine Kategorie, die der 
Substanz, hingewiesen werde, und doch wolle K. in dem Be- 
griffe der Erscheinung ausdrücken, daß wir kein Recht haben, 
auf eine unabhängig vom Subjekt existierende Substanz zu 



1) P. » S. 144-S. 155; * S. 155-166. 

2) P. * S. 155. 

3) P. Anm. zu 1 S. 146; 4 S. 157. 
*) G. S. 49. 



— 12 — 

8chli(3l3on. — DioHer Kinvvand GoldschniidtH, so borochti^t or 
zu sein Hcheiut, ist es doch nicht. Aus der GoHaintdarstelhm^r 
P.s geht hervor, (hifi or die kunfiNcho „KrHclininung" immer 
als eine transHc-ondontalo Verknüpfung von Anschauung und 
Vorstandestätigkoit aufgefaßt hat, wodurch die das Subjekt 
affizierende „Kmpfindung" z,uu Krfal.rungsgegenHtand, also 
zur Krscheiuuug wird. P. hätte besser die Erscheinung als 
das scheinbar uuabbängig vom Subjekt existierende perdu- 
rable Objekt charakterisieren sollen. 

Fm übrigen gibt auch Goldschmidt (mie keinc.swegs ein- 
wandfreio, zum mindesten aber keine erschr.pfende Erklärung 
des kantischen Begriffs der Erscheinung'): „Erscheinung ist 
nun nach Kant jeder mögliche, noch unbestimmte Gegenstand 
der Erkenntnis", und G. denkt bei dieser Erklärung vielleirht 
an K.'s eigene Definition^): „Der unbestimmtn (Jogenstand 
einer empirischen Anschauung lieilit Erscheinung." Man 
konnte aber demgegenüber fragen, ob ein allseitig bestimmter 
also in seinen gesetzmäßigen Beziehungen erkannter Gegen-' 
stand nicht mehr „Erscheinung", sondern etwa schon Ding 
an sich sei; und in diesem Gegensatze liegt doch der eigent- 
hohe Sinn des kantischen Begriffs der „Erscheinung", so wie 
er von K. immer »päter vor wendet wird. 

In der Kritik dieser Paulsenschen Dreiteilung übersieht 
G. ganz den psychologischen Charakter der Paulsenschen 
Darstellung überhaupt. P. will die Einzelwahrnehmung rein 
psychologisch aufgefaßt wissen („ein vorübergehender Vorgang 
m einem empirischen Einzelwesen ')"). Demgegenüber kommt 
für die kantische „Erscheinung" in Betracht, was nach J. St. 
Mill „die empirische Realität eines Dinges (Erscheinung) be- 
deutet: permanente Möglichkeit solcher und solcher koexistie- 
render Wahrnehmungen^)". Die „Erscheinung" wird also 
auch nach P., zum Objekt des „Bewußtseins überhaupt", und 
so allem ist deshalb auch seine Bemerkung, die „Erscheinung 
sei unabhängig vom Subjekt [Individuum] aufzufassen," zu 
verstehen. Die „Erscheinung" ist damit dem psychologischen 
Bewußt sein des einzelnen Menschen entzogen und von P. als 

G S. 53. 

*) K. : Kr. d. r. V. S. 48. 

») P. * S. 156. 

*) P. * S. 157. 



J 



-- 13 — 

„pordurablos", als dauerndes Objekt möglicher Wahrnehmung 
überhaupt bezeichnet. 

P. sucht diese „Formen der Wirklichkeit": Einzelwahr- 
nehinung, Erscheinung, Ding an sich durch ihre „Korrelate,** 
die Formen der Intelligenz zu erläutern. Er unterscheidet 
eine tierische, eine menschliche und eine göttliche Intelligenz. 
Obwohl P. beklagt, daß sich in K.'s Philoso[)hie nirgends ein 
biologisch-genetischer Gesichtspunkt findet, trägt er an dieser 
Stolle seine eigene Vorstellung völlig unberechtigt in die 
kantische Philosoijhio hinein und erregt in dem Leser die 
irrtümliche Auffassung, als ob es sich hier um eine evolutio- 
nistischo Entwicklung handle von der Sinnlichkeit der tierischen 
Intelligenz aufwärts zum Verstände der menschlichen, der dann 
schlieülich in die Vernunft der göttlichen Intelligenz übergehe 
— eine Auffassung, die in ihrer ganzen Unfafibarkeit tat- 
sächlich von P. festgehalten zu werden scheint und damit 
meines Erachtens P.'s „historisch-genetische Methode" einfach 
ad absurdum führt. — AufJerdem ist im kantischen Sinne die 
Dreiteilung verfehlt. Der Vorstand steht doch zur Sinnlichkeit 
in einem ganz andern Verhältnis wie die Vernunft zum Ver- 
stände. Verstand und Sinnlichkeit gehören zusammen und 
ergeben in ihrer transsc. Verknüpfung die Erfahrung. Beiden 
gegenüber steht als das Vermögen der reinen Ideen die Ver- 
nunft. Ferner hat die Sinnlichkeit in der Form wie sie bei 
P. auftaucht gar keine erkenntnistheoretische Bedeutung — 
sie ist bei ihm einzig das Organ psychologischer Einzelwahr- 
nehmungen, während K. ihr durch die apriorischen Anschau- 
ungsformen erkenntnistheoretische Bedeutung beizulegen sucht. 

Der fundamentale Unterschied zwischen Goldschmidt und 
Paulsen in ihrer Kant-Auslegung läßt sich schon hier klar 
fixieren: P. geht von der „Natur" im kantischen Sinne aus 
und betrachtet sie in ihrem möglichen Verhältnis zur erkennen- 
den Vernunft. G. nimmt streng den kantischen Standpunkt 
ein; er kommt von der Vernunft her und untersucht ihre ver. 
schiedenen Beziehungen zu den Dingen, die von jener bald 
„erkannt", bald nur „gedacht" werden können, je nachdem 
sie in der Anschauung gegeben sind oder nicht: „Die Be- 
stimmung kennt nur Sinnenwesen, der problematische Gedanke 
auch das Ding an sich^)". Dann gibt G. dem Paulsenschen 

1) G. S. 55. 



w 



— 14 — 

Standpunkt gegenüber auch zu: „Man wird leicht gewahr 
daö man von der Art seiner Erkenntnisfaktoren als slt; 

s;;.;i'd r: ~ '''-''' ''''-'- '-' '^^ '- ^^^^^^^ 

P r.!^' l^Z^'f'^. "'"^ '"'' ^'' ^"-^ •i«'- Erkenntnisfaktoren- 
BrüXn ^^'"^'"•'''J■^''''^' -'i --hen beiden sind vid' 
facht aL~s-^"iM '°"f "'^^ geschlagen. Goldsch„>idt unte 

und P dTe iZ . "'' ^'T'"' """' ^^^-"f' ^m Mensche", 
Jnd l. die Ihnen korrespondierenden Objekte: Wahrnehmung/ 
itirscheinung und Welt nn ^;„u „ ,■ ""«rnenmung, 

era,,iristis.h n n 1 ! / ^ ~ allerdings etwas einseitig 

IIA :i r:i3rE~ - -^^ 

Fraeet' ^'^'T""'^ ^egen P. richtet sich schon gegen P 's 
■^^agö j. „Was können wir im Sinno v ^ . ^«^ r-. s 

an sich aussagen?« G meint^, . ^"'''\:°° ^'^ ^ing 

den Zweck die ITn« '^ T ' • ^^""^^ ^""'^ h^»»« ""«• 
^wecK, „die ünerkenn barkeit des Dintres an <„VK 

lehren' ." Wir haben von dem Din*« . . ^" 

negativen Begriff« In Z ^^ ^ "°*' ""'' ""'"e" 

auch P ,.lhl"„u j , . ■ °" °" "8"'™ P'MikM«, «nn 

»tf.;. w i:i ;l: ^zt 'i '""""": '-•"■'•° «»»» 

Dine an sir-h .lo n f Aussage charakterisiert das 

De'zreit nennt «r" 1"'='' """"^'^^^ Anschauung. 
Denkens doch der B^^ff hT"*'"'. ^^°" ''"'^•^"'''^- 
pos.ive Bedeutun-gt fj^ dl:^e^etrm":ts 3 '^^^ 
bloßes X, das der Verstand dem en^pirischerGegenstand 

stg rb^rt: srrÄr'r " ^- "^- 

-anschauenden Verstaf d^t f .^ ge lill f d^ 

G. S. 58. 
') P. * S. 163. 
') G. S. 64. 
*) G. S. 61. 



— 15 — 

leeren problematischen Begriff einen Inhalt geben, indem er 
die Dinge an sich als Verstandeswesen bestimmt; ihre Einheit 
sei ein ,niundus intelligibilis im [)Ositiven Sinne ^)" — ein 
bloßes V^ort, bei dem man sich aber nichts vorstellen kann. 
P. glaubt dieses Positive gefunden zu haben in der Beant- 
wortung, die er der Frage gibt: „Haben die Kategorien Anwen- 
dung auf die Dinge an sich?;" und er meint bei K. eine doppelte 
Bedeutung der Kategorien annehmen zu müssen: eine „rein 
logisch-transscendente" und eine „transscendental-physische". 
Im orsteren Sinne lege Kant den Dingen an sich eine wenn auch 
nicht empirische, so* doch intelligible Realität, Kausalität und 
Substantialität bei, während die transscendental-physische Be- 
deutung der Kategorien sich auf die in möglicher Wahr- 
nehmung gegebenen Gegenstände bezieht. Die Kategorien in 
ihrer Anwendung auf die Dinge an sich haben nur eine 
Wirklichkeit für das Denken, und jene intelligiblen Be- 
ziehungen können nicht anschaulich vorgestellt w^erden, also 
überhaupt keinen gegebenen Inhalt haben. — 

G. scheint diese Paulsensche Darlegung nicht zu Ende 
gelesen haben. Er ist bei der Bemerkung stehen geblieben: 
nach K. hätten die Kategorien nur Gültigkeit für die Er- 
scheinungswelt, würden dann aber doch immer auf die Dinge ' 
an sich angewandt. Hiergegen wendet er sich in scharfer 
Polemik, indem er unterscheiden lehrt zwischen Denken und 
Bestimmen. Die ganze Metaphysik habe zu allen Zeiten Dinge 
an sich „gedacht", nämlich in den reinen Denkformen; daß 
letztere die Dinge an sich auch von sich aus „bestimmen" 
können, das habe K. als unmöglich erwiesen. G. hat nicht 
bemerkt, daß er mit seiner Unterscheidung: Denken und Be- 
stimmen genau P.'s Unterschied zwischen logisch-transscen- 
denter und transscendental-physischer Bedeutung der Kategorien 
wiedergibt! — 

Als Resultat der Paulsenschen Ansicht über das Ding 
an sich ergibt sich kurz folgendes: K.'s Ding an sich erfüllt 
seine wesentliche Bestimmung nicht einzig und allein als ne- 
gativer Grenzbegriff, vielmehr steht diese Seite des Dinges 
an sich ziemlich im Hintergrund. Ihre wesentlich positive 
Bedeutung erhalten die Dinge an sich in der dogmatisch- 
idealistischen Metaphysik, welche P. dem Königsberger Trans- 

1) R* S. 164. 



— le — 



scendental -Philosophen vindiziert und für eine moderne 
Strömung der idealistischen Metaphysik fruchtbar zu machen 
sucht '). Demgegenüber leugnet G. die wirkliche Existenz der 
Dinge an sich im Sinne des kantischen Systems gänzlich — 
worin er sicherlich auch zu weit geht, denn die existentiale 
Bedeutung der Dinge an sich bleibt schon notwendig als Ur- 
Sache der „Erscheinung", welche ohne jene Annahme „unge- 
reimt« sein würde nach K., und nur als Wirkung eines Dinges 
an sich gedacht — wenn auch nicht erkannt — werden kann. — 
Vom Standpunkte des kantischen Systems lassen sich 
gegen beide Bedeutungen des Dinges an sich wichtige Be- 
denken äußern. Ihrer Auffassung als rein negative Grund- 
bestimmung gegenüber erhebt sich die Frage: „Wie ist denn 
überhaupt ein Wissen von einer Erkenntnisgrenze möglich 2)?" 
Werden aber die Dinge an sich als wirkliche und durch den 
Verstand denkbare Gegenstände betrachtet, so müssen sie doch 
Objekte des menschlichen Bewußtseins sein; und die von ihnen 
behauptete Ünerkennbarkeit, die auf dem oben berührten 
Gegensatz von Denken und Bestimmen beruht, ist unbegreiflich 
und hinfällig. K. selbst hat augenscheinlich die reale Existenz 
der Dinge an sich nur am Anfang der Kr. d. r. V. ange- 
nommen und zwar unter dem Druck der Denkmöglichkeit 
der als ihre Wirkungen zu betrachtenden „Erscheinungen«. 
Später, als er durch dieses Sprungbrett in den Sattel der 
Transscendental-Philosophie gelangt war, hält er einzig ihre 
Bedeutung als negative Grenzbegriffe fest. — 

P.'s Auffassung der Dinge an sich fügt sich konsequent 
in seme prinzipielle Grundauffassung der kantischen Philosophie 
überhaupt ein : K. ist vorwiegend Rationalist — also kann nach 
P. die negative Grenzbestimmung des Dinges an sich nicht 
den wesentlichen Sinn desselben erfüllen; die Dinge an sich 
müssen vor allem einen positiven Inhalt haben, und den er- 
halten sie durch die ihnen zuerkannte intelligible Eealität, 
womit dann auch der zweiten Grundüberzeugung P.'s in Bezug 
auf K.'s Philosophie Genüge getan ist: K. ist metaphysischer 
Idealist; und auf den Dingen an sich als festen Wesenheiten 
baut P. dann K.'s Metaphysik auf. ~ 

') P. * S. XX. 

2) Rehmke: Welt als Wahroehmung u. Begr. S. 5. 



— 1? -- 



iL Kants Verhältnis zu Hume; und Paulsens 
„historisch -genetische Methode". 

P. hat schon im Jahre 1875 in seinem „Versuch einer 
Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie" 
Hume als denjenigen bezeichnet, durch dessen Studium K. 
den ersten Anstoß zur Konzeption seiner kritischen Philosophie 
erhielt. In seiner K. -Darstellung hält P. diese Auffassung in 
ihren Grundzügen aufrecht, kombiniert sie dann aber mit B. 
Erdmanns ^) Versuch, die Antinomien als den ursprünglichen 
Anstoß zur Unterscheidung der sensiblen und intelligiblen 
Welt zu betrachten. Der Einfluß Humes war nach P. mehr 
negativ, er bewog K. zur Umkehr von dem Wege des Em- 
pirismus und führte ihn zu der Ansicht von der Idealität von 
Raum und Zeit. P. entscheidet sich nun dahin ^), daß der 
erste Gedanke von der Idealität von Raum und Zeit K. bei 
Gelegenheit der Antinomien aufgegangen sein mag, woran 
sich dann die Auflösung des Humeschen Zweifels von selbst 
anschlösse und, wie P. dann weiter meint: die Erkenntnis der 
Möglichkeit einer „sicher begründeten Metaphysik", indem er 
sie in der Dissertation mit der Mathematik unter eine Me- 
thode zusammenzufassen suchte. Später „in der Erinnerung 
verflechten sich die beiden Momente so, daß je nach der Art 
der Veranlassung bald das eine, bald das andere mehr in das 
Bewußtsein trat'^)" — womit P. verständlich machen will, daß 
K. an verschiedenen Stellen bald Hume und bald die Anti- 
nomien als Ausgangspunkt der kritischen Untersuchung hin- 
stellt. Goldschmidts Einwand gegen P. an dieser Stelle be- 
ruht auf einem Mißverständnis. G. fragt ^): „Ist denn das 
Causalproblem Humes samt dem aller Kategorien überhaupt 
nicht das Problem der Antinomien? Sind denn die philo- 



^) B. Erdmann: Ausgabe d. Proleg. S. LXXXIII ff. und: Einleitung 
zu den Reflexionen Bd. II S. XXIV ff. 
») P. * S. 107 f. 
3) P. * S. 108. 
«) Goldschmidt: S. 143. 

2 



— 18 -• 



feophischen Arbeiten Humes und Kants kapitelweise in dem 
Bewufitsein dieser Männer gewesen, oder hingen dort die 
Gedanken in einer Vernunft zusammen?" Das Problem ver- 
schiebt sich unter G/s Händen. Die ganze Betrachtung bei 
Ihm läuft darauf hinaus, die inhaltliche Abhängigkeit, vielleicht 
sogar die Identität jener beiden Probleme zu erweisen, obwohl 
es hier darauf garnicht ankommt; denn P. will die Fraije 
untersuchen, durch welches der vielen in der Kritik aufire- 
worfenen Einzelprobleme K. den Anstoß zu seiner ganzen 
Untersuchung erhalten hat. Sicherlich hingen die Gedanken 
der beiden Philosophen in einer Vernunft zusammen, aber G 
kann uns nicht glauben machen wollen, daü K., der 12 .Jahre 
an der Ausarbeitung seines Hauptwerke.s gearbeitet hat 
gleichsam durch eine göttliche Inspiration in einem Augen' 
blick das ganze feine Gewebe der Kritik vor sich sah und 
OS nur niederzuschreiben brauchte; sicherlich hat sich doch 
bei Ihm ein Problem an das andere gereiht, bis das ganze 
Werk fertig war „in einer einheitlichen Vernunft" Gold- 
Schmidt fragt, ob sich jene Momente verflechten müssen, da 
sie doch eines sind; aber P. behauptet garnicht eine Ver- 
flechtung jener beiden Probleme ineinander, sondern nur eine 
\euflechtung der kantischen Erinnerung an jene beiden An- 
Stöße und Triebkräfte der kritischen Philosophie: Humes 
Skepsis und die Antinomien, so daü er bald der Meinung ist 
Hume habe ihm den ersten Anstoß gegeben, während er an 
anderer Stelle die Antinomien als den Ausgangspunkt der 
Kritik bezeichnet. — 

G. wollte an dieser Stelle ein Beispiel von P.'s „historisch- 
genetischer Methode- geben, um dieselbe ad absurdum zu 
fuhren Aber gerade hier, wo es sich einzig um eine historische 
Aufgabe handelt, ist P.'s Methode am rechten Platz, was man 
keineswegs immer behaupten kann, wo sie auftaucht - 

Im übrigen hat G. überhaui>t den Sinn jener Paulsenschen 
Methode nicht richtig verstanden. Er interpretiert ]>.'8 For- 
derung einer historisch-genetischen Methode in der Philosophie 
dahin, daß bei P. K. aus Hume verstanden werden soll - 
und demgegenüber betont G. dann: „Daß K. in bezug auf 
Hume einen wichtigen Unterschied auf eine bestimmte Formel 
einen bestimmten Begriff bringen will, und daß hierin eiJ 
i^ ortschritt liegt ~ das ist alles für die histonsch-genetische 



— 19 — 

Forschung gleichgültig^)". Ebenso versteht auch Cohen P. s 
erstrebte historisch-genetische Methode nur als die Tendenz, 
das kantische System aus den früheren geschichtlich zu ent- 
wickeln. Klar und deutlich hat P. sich leider über das, was 
er darunter verstanden wissen will, nirgends geäußert; nach 
seiner Einleitung in die Philosophie^) charakterisiert sich die 
Philosophie des 19. Jahrhunderts in dem Bestreben, die 
physische und die geistig-geschichtliche Welt zusammenzu- 
biegen zu einer Gesamtanschauung. Das kann nach P. allein 
dadurch geschehen, daß die künftige Philosophie nicht mehr 
wie die Kantische von einer „an der Mathematik orientierten 
aprioristisch-dogmatischenDenkweise'^)" beherrscht wird, sondern 
nur dadurch, daß sie unter dem Szepter der historisch-gene- 
tischen Methode steht. Meines Erachtens führt uns der 
richtige, von Goldschmidt und Cohen verkannte Kern dieses 
Gedankens zu einer Erörterung des Begriffs der Wissenschaft 
bei Kant. K. erkannte nur die mathematisch-naturwissen- 
schaftlichen Disziplinen als „eigentliche Wissenschaften" an; 
denn für ihn war die mathematische Apodiktizität das not- 
wendige Kriterium einer echten Wissenschaft. Das 19. Jahr- 
hundert hat nun eine Reihe von Wissenschaften zur reichen 
Entfaltung gebracht, von denen K.'s Zeitalter sich kaum eine 
Vorstellung machte: die historisch-philologischen Disziplinen, 
denen man heute den echt wissenschaftlichen Charakter nicht 
mehr wird vorenthalten können. Für sie ist K.'s Kriterium 
einer echten Wissenschaft, nämlich die Mathematik, nicht an- 
wendbar. Auf jeden Fall geht P. nun aber viel zu weit, wenn 
er behauptet, daß jene „an der Mathematik orientierte Denk- 
weise" „mit ihren Voraussetzungen dem 18. Jhd. angehört"; 
und daß das 19. Jhd. sie überall verlassen und die historisch- 
genetische an ihre Stelle gesetzt habe. — Immerhin bedarf 
K.'s Begriff der Wissenschaft einer Revision in dem Sinne, 
daß man für den wissenschaftlichen Charakter jener geistig- 
geschichtlichen Disziplinen andere Kriterien wird suchen 
müssen. K. zog nur die mathematisch-naturwissenschaftlichen 
Disziplinen in Betracht, sah sich aber infolge seines prin 



») (^oldschmidt S. 77. 

2) Paulsen: Einl. i. d. I>hil. » S. VlII. 

») P. ♦ s. \m. 



— 20 — 



zipiellen Standpunktes häufig genötigt, den streng erkenntnis- 
theoretischen Gang der Untersuchung durch psychologische 
Erörterungen zu unterbrechen^). Paulsen dagegen will nur 
die historisch-psychologische Methode gelten lassen und zieht 
m die psychologische Art seiner Behandlung die ganze Er- 
kenntnistheorie mit hinein. Biologisch müssen nach ihm die 
jetzigen apriorischen Ausstattungen des Individuums allmählich 
in der Gattung entwickelt sein und müßten sich auch ferner 
umbilden, und diesen Prozeß will er verstehen 2). Dadurch 
würde eine Erkenntnistheorie völlig unabhängig von der 
Psychologie ihre Berechtigung verlieren, eine Meinung, die 
auf der falschen Voraussetzung beruht, als ob die Erkenntnis 
der gegebenen Welt abhängig sei und innerlich zusammen- 
hänge mit dem die Erkenntnis vermittelnden Bewußtsein in 
seiner subjektiven Entwicklung — was selbst nur verständlich 
wird vom Standpunkt eines erkenntniss-theoretischen Dualismus, 
nach welchem zwei verschiedenes Seiendes im Erkenntnis- 
prozeß zueinander in Beziehung tritt! 

Will P. die ganze Erkenntnistheorie psychologisch fun- 
dieren, so scheint Goldschmidt die entgegengesetzte Neigung zu 
haben und die Erkenntnistheorie weit über den ihr zugehörigen 
Kreis auszudehnen. Er betont mit Recht^): „Die Geschichte 
der menschlichen Erkenntnis und ihre Kritik sind völlig ver- 

Chamberlain überschreibt einen Abschnitt seines Hiiches: Trans- 
scendental-Philosophie ist nicht Psychologie! (S. 042). Zu -roüen Wort 
Wird man seinen Au.sführim-on *^ nicht beimessen können; beruhen 
sie doch auf der erstaunlichen Überzeugun- dali Psychologie nie und 
unter keinen Umständen Wissenschaft werden kann, wenngleich sie zum 
Stoffsammeln auf dem zweideutigen Gebiet zwischen echten verschiedenen 
Wissenschaften auch weiter dienen könne !! — „Psyche ist eine Allegorie, 
und von einer Allegorie kann es unmöglich eine ' Wissen.schaft geten.« 
„Wo aber die Seele — und gar noch mit der Anmaßung, eine besondere 
wissenschaftliche Disziplin ihr eigen zu nennen - sich zwischen die 
Physiologie des Nerv^ensystems und die Wissenschaft der Erkenntnis 
einschiebt, da schafft sie eine scliier heillose Verwirrung und führt zu- 
letzt zu dem Chaos, in dem wir uns heute befinden, wo Physiker über 
,die Seele der Pflanzen' Bücher schreiben und Gehirnanatomen Lehr- 
bücher der Seelenkunde verfassen; während die berufsmäßigen ,Seelen- 
lehrer' neugeborene Küchlein befragen, ob der Kaumsinn ,angeboren' 
oder ,erworben' sei .... I ! 

') P. * S. 217. 

'») G. S. 32. 



— 21 



schiedene Aufgaben." Dann aber meint er: „Ist der Mensch 
mit einem Vermögen begabt, das man Vernunft nennt, so 
hat man auch ein Recht, sie isoliert als ein V^ermögen der 
Erkenntnis zu beschreiben" und ferner^): „Wie leicht sagt 
man heute: Apriorische Erkenntnis gibt es nicht, ohne auch 
nur zu ahnen, daß man damit den eigenen Verstand verleugnet." 
In dieser Identificierung von apriorischer Erkenntnis und Ver- 
standerkennen wir K.'s Bestimmung des Verstandes als Vermögen 
der Begriffe wieder. Doch kann der Verstand als solcher, 
insofern er die Seele als denkendes Bewußtsein bedeutet, nur 
Gegenstand der Psychologie sein ; nur sie hat es mit der Frage 
zu tun: was machen wir, wenn wir urteilen? Die Erkenntnis- 
theorie hat sich allein an das Gegebene zu halten und dieses 
zu erkennen, d. h. bis zu fragloser Klarheit zu bestimmen. 

In P.'s Stellungnahme zu der Kantischen Unterscheidung 
der Urteile in analytische und synthetische glaube ich eine 
Bestätigung meiner Auffassung der von P. erstrebten histo- 
risch-genetischen Methode der Philosophie im Sinne einer 
psychologischen B]rkenntnistheorie erblicken zu dürfen. Nach 
P. sind rein analytische Urteile nicht möglich, da alle Urteile 

eine Synthesis voraussetzen eine Synthesis allerdings 

wohl, aber sie gehört in Wirklichkeit in die Psychologie und 
ist auch dort nur auf Grund einer ursprünglicheren Unter- 
scheidung möglich. P. aber, der eine strenge Scheidung 
zwischen psychologischem Bewußt- Werden und erkenntnis- 
theoretischem Bewußt-Sein nicht kennt, zieht jene psycholo- 
gische Synthesis — nämlich das schlechthin Gegebene von 
vornherein als Vereintes zu haben — mit in die Erkenntnis- 
theorie. 

Verständlich wird allerdings P.'s Standpunkt in dieser 
Beziehung etwas, wenn man seine eigene psychologische Ent- 
wicklung im Auge behält. P. kommt von spezialwissenschaft- 
licher, historisch-philologischer Seite, an die Philosophie heran, 
er hat sich als Litterarhistoriker mit der einzelnen Persönlich- 
keit beschäftigt 2). Aber er hat die notwendige und unüber- 
schreitbare Grenze, die der psychologischen Betrachtung ge- 
zogen ist, nicht beachtet. Bei dem psychologischen Prozeß 



») G. S. 35. 

2) Vgl.: Paulsen: Hamlet, Mephistopheles und Schopenhauer. Drei 
Bilder des Pessimismus; 



— 22 - 



des Bewußtwerdens ist das tatsächliche Bewußtseinsverhältnis 
zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem schlechthin Gegebenen 
immer schon vorausgesetzt, und es ist ein undenkbarerGedanke, 
dieses erkenntnistheoretische Verhältnis biologisch aus dem' 
Tierreich heraus für die menschliche Vernunft historisch-gene- 
tisch zu begreifen — eine Vorstellung, die Chamberlain zu 
der andern in Analogie setzt, zeigen zu wollen, wie der Stoff 
nach und nach träge würde! 

Keineswegs ist aber K.'s Philosophie selbst frei von 
psychologischen Elementen. Als Beispiel können wir hier 
ebenfalls K.'s Unterscheidung der Urteile in analytische und 
synthetische anführen. K. nimmt als das ursprüngliche in 
seiner Erkenntnistheorie den Begriff an und baut darauf seine 
Lehre von den beiden Urteilsgattungen auf, indem er in den 
analytischen Urteilen nur das im gegebenen Begriff Vereinte 
deutlich macht, im synthetischen Urteil aber den gegebenen 
Begriff durch etwas außer ihm, von ihm Unterschiedenes er- 
weitert wissen will — wo also der psychologische Charakter 
dieser Unterscheidung sich offenbart, weil ein Gegensatz 
zwischen rein logischer und realer Beziehung nur unter Vor- 
aussetzung eines psychologischen Seins-Verhältnisses aufzu- 
stellen ist. — Der von P. behauptete Ursprung der Begriffe 
und Urteile aus vorhergehender Synthesis — die selbst noch 
eine ursprünglichere Unterscheidung voraussetzt — beruht psy- 
chologisch in dem Wesen der Seele als denkenden Bewußt- 
sems, dem immer schon Unterschiedenes und Vereintes als 
Besonderheiten seiner Bestimmtheit gegeben ist. Der er- 
kenntnistheoretischen Behandlung ist das Gegebene selbst so- 
fort als Unterschiedenes und Vereintes gegeben, d. h. es ist 
schon in irgend einer, wenn auch noch so unklaren AVeise 
Begriffenes. Die Erkenntnistheorie und Logik haben nicht 
mehr ncitig besondere Urteile aufzustellen, welche das Ver- 
einte, zu einem Begriff gehörige, und das Unterschiedene als 
solches auseinanderhalten sollen, wie es doch der Sinn der 
Kantischen Unterscheidung der Urteile ist. Das Problem der 
Logik hat mit dem der Psychologie: „Was machon wir, wenn 
wir urteilen?" nichts zu tun; denn urteilen ist keine Synthe- 
sis, wie P. meint, indem er alle Urteile auf synthetische zu- 
— '^^^L^^^^^"^^ ^^°^^' '*^'^^' trennen die Urteile, wie Adickes^) 
Adickos. Ausg. d. Kr. d. v. V. Anm. zu S. 45. 



23 — 



will, der alle Urteile infolgedessen als analytische er- 
weisen möchte — sie trennen seines Erachtens das in der An- 
schauung Verbundene in Subjekt und Prädikat! — In Wirk- 
lichkeit trennen die Urteile ebensowenig als sie verbinden; 
denn das Urteil als logische Funktion ist ein Ineinssetzen, 
das Wiederfinden eines schon vorher Gehabten — es hat immer 
schon Unterschiedenes und Vereintes zu seinem Gegenstande. 

In Bezug auf Kant und Hume kommt P. zu dem zu- 
sammenfassenden Resultat'): ,,K.'s Denken zeigt an diesem 
Punkte eine fatale Neigung sich im Kreise zu drehen." K. 
will Hume gegenüber die Allgemeingültigkeit und Notwendig- 
digkeit des Causalsatzes beweisen, wobei er aber mit der Vor- 
aussetzung der Apodiktizität der Wissenschaft denselben vor- 
wegnimmt-). Keineswegs kann auch in dem Sinne, wie hier 
das Causalitätsproblem von P. gefaßt wird, letzteres dadurch 
als gelöst betrachtet werden, daß die Causalität als eine reine 
Verstandesform proklamiert wird. Goldschmidt meint, der 
Fortschritt zwischen Kant und Hmne bestehe darin, das Hume 
zwar die Tatsache des Causalgesetzes anerkenne, daß aber erst 
Kant dasselbe zur Einsicht bringe — meines Erachtens aber 
zu einer Einsicht, die mehr den Charakter einer Durchhauung 
des gordischen Knotens trägt als den einer wissenschaftlichen 
Erkenntnis. 

G. untersucht P.'s Behandlung des Causalgesetzes und 
bemerkt mit Genugtuung, daß P. den Unterschied des sub- 
jektiven Vorstellungsverlaufes von dem objektiven scharf hervor- 
hebt; dagegen gelingt es ihm nicht, P.'s schließlicher Zurückfüh- 
rung des objektiven Vorstellungsverlaufs auf den subjektiven, also 
derCausalitätsfolge auf eine subjektiveZeitfolge, gerecht zu werden, 
Wir haben es bei P. hier mit einerKonsequenz der historisch-gene- 
tischen, an der Psychologie orientierten Auffassung zu tun. Diese 
zieht ebenso wie die gesamten erkenntnistheoretischen Probleme, 
so auch den objektiven Vorstellungsverlauf völlig in den Bereich 
psychologischer Betrachtung, wogegen G. zwar Recht behält, 
wenn er fragt, wie P. dazu käme, überhaupt einen objektiven 
und einen subjektiven Vorstellungsverlauf zu unterscheiden. 



») P. ♦ S. 216. 

i) Vgl. J. Rehmke: Welt als Wahrnehm. u. Begr. S. 199: „K.'s 
Antwort auf die PVage: warum erkennen wir Causalität in der Welt? 
ist im Grunde keine andere als die: weil wir Causalität erkennen." 



» 



— 24 — 

wenn er sich doch allein auf die subjektive Zeitfolge stützt; 
aber er hat Unrecht, daß er aus dem tatsächlichen Unter' 
schied zwischen beiden die Berechtigung entnimmt, einen mit 
apriorischen Denkformen ausgestatteten isolierten Verstand vor- 
auszusetzen, denn damit wäre auch der objektive Vorstellungs- 
verlauf als eine Seinsbeziehung, nämlich als ein psychologisches 
Verhältnis zwischen dem nur konkret, also individuell, denk- 
baren apriorischen Verstände und einer an sich unabhängig von 
ihm existierenden Wirklicheit gefaßt. — Wenn nach P. sich 
in dem beobachtenden Menschen zunächst eine „allgemeine 
Disposition" bildet, nach welcher er die zeitlichen Vorgänge 
verknüpft und so zu dem Causalsatz gelangt, so beachtet P. 
nicht, daß doch etwas Vorhandensein muß, welches die psy- 
chologische Synthesis zu einer solchen des objectiven Causal- 
vr .ältnisses bestimmt, sei es ein apriorischer Verstand, sei 
e las schlechthin mit allen seinen innern Beziehungen und 
Vehältnissen Gegebene, welches von dem selbst garnicht in 
Betracht kommenden Subjekt in immer größerer Klarheit ge- 
habt wird. 

In P/s Behandlung der synthetischen Grundsätze findet 
sich folgende Behai- ^ ung ^) : „Es ist ein Zusammenhang der 
Erscheinungen in Kaum und Zeit denkbar, logisch denkbar, 
der keine Gesetzmäßigkeit zeigte, oder dessen Gesetzmäßigkeit 
so kompliziert wäre, daß unser Verstand sie nicht zu erreichen 
vermöchte. Wie eine Konstitution des kosmischen Svstems 
denkbar ist, die uns niemals Eegelmäßigkeit der Bewegungen 
hätte entdecken lassen, obwohl sie für einen umfassenden 
Blick und Verstand darin wäre, so ist auch eine Konstitution 
der Anschauungswelt überhaupt denkbar, deren Gesetzmäßig- 
keit unser Verstand nie erreichte.« — Die Konzeption dieses 
Gedankens bei P. setzt meines Erachtens ein doppeltes voraus: 
1, P/s transscendente Neigung nach einer metaphysischen 
Welt mit absoluter, intelligibler Gesetzmäßigkeit, die uns aber 
verborgen ist, und 2, eine dualistische Trennung des er- 
kenntnistheoretischen Bewußtseins-Verhältnisses in die zwei 
Faktoren einer psychologischen Seinsbeziehung: erkennender 
Verstand und objektive, von ihm unabhängige Welt. Daß in 
unserer menschlichen Erkenntnis diese beiden Faktoren tat- 
sächlich zu sammenstimmen, also daß für uns Erfahrung 
') P. * S. 204. 



— 25 — 

möglich ist, das ist nach P. ein „glücklicher Zufall^)". Von- 
diesem Standpunkt aus kann P. allerdings eine Notwendigkeit 
und Allgemeingültigkeit des Causalgesetzes nicht anerkennen; 
er kann ihm nur präsumtive Gültigkeit zusprechen. Es ist 
hieraus klar ersichtlich, wie unter Voraussetzung jener beiden 
Faktoren im Paulsenschen Denken seine Auffassung des Causal- 
gesetzes sich völlig konsequent entwickelt. — Goldschmidt 
konstatiert innerhalb P.'s Darstellung selbst einen Widerspruch 
seiner Auffassung des Causalsatzes und zwar zwischen P.'s 
Ausführungen auf Seite 190 und 191 der 1. Auflage^). An 
ersterer Stelle sagt P. : „. . . . zeigte sich bei genauester Be- 
obachtung, daß auf einen bestimmten Stoß unter ganz gleichen 
Umständen bald diese, bald jene Bewegung einträte, so würden 
wir an ihm [dem Causalgesetz] irre werden und es endlich 
fallen lassen." Und an 2. Stelle: „Der Behauptung, daß in 
einem bestimmten Fall eine Abweichung vom Causalgesetz 
vorliege, würden sie [die Physiker] ganz mit derselben Zu- 
versicht wie Kant gegenübertreten, daß genauere Beobachtung 
die Einordnung in die allgemeine Gesetzmäßigkeit ergeben 
werde." Goldschmidt meint ^): „Auf S. 190 müßten wir also 
den Causalsatz unter denselben Bedingungen aufgeben, unter 
denen wir ihn S. 191 beibehalten sollen." Ich glaube, wenn 
man den Unterschied zwischen „genauester" und „genauerer 
Beobachtung" bei P. beachtet, wird man keinen Widerspruch 
in jenen beiden Sätzen finden. Wir müßten nach P. das 
Causalgesetz fallen lassen, wenn „genaueste Beobachtung" 
uns von seiner Unhaltbarkeit überzeugt; wenn ihm aber nur 
der erste Augenschein zu widersprechen scheint, dann können 
wir darauf vertrauen, daß „genauere Beobachtung" die 
Richtigkeit des Causalgesetzes auch in diesem Falle gewähr- 
leisten wird — und das im übrigen jene „genaueste Beob- 
achtung", die es widerlegen könnte, niemals vollzogen werden 
wird; denn*) „die Unmöglichkeit einer naturgesetzlichen Er- 
klärung kann durch kein Fehlschlagen jemals genugtuend 
bewiesen werden." — 

Vielleicht ist es nicht überflüssig, das Verhältnis der 



») P. * S. 204. 

2) P. * S. 204 und 205. 

») G. S. 157. 

*) P. ♦ S. 203. 



— 26 — 



Psychologie und Erkenntnistheorie hei Goldschmidt kurz zu 
erörtern. Wie schon bemerkt, tritt bei ihm die Neigung 
hervor, auch psychologische Probleme in die erkenntnis- 
theoretische Behandlung hineinzuziehen, von demselben Ge- 
sichtspunkte aus. wie wir es auch bei Kant selbst beobachten. 
Der psychologischen Forschung weist G. die „Gelegonheits- 
ursachen')« zu, an denen der Verstand sich entwickelt; jene 
Unterscheidung und jene Synthesis, durch die der Verstand 
überhaupt erst zu Objekten, nämlich zu Unterschiedenem und 
Vereintem kommt, fällt bei ihm völlig ins Gebiet der Kr- 
kenntnistheorie, woraus sich dann das von ihm vertretene 
erkenntnistheoretischo (?) Seinsverhältnis zwischen dem apri- 
onschen Verstände und der ihm gegenüberstehenden Welt an 
sich ergibt. Von diesem Dualismus aus verstehen wir das 
Unzureichende seiner Polemik gegen P.'s Fiktion einer an 
sich wohl gesetzmäfjigen Welt, deren Jiegelmäfjigkeit für 
unsern Verstand aber unerkennbar sein kr,nne — also seine 
Auffassung von dem „glücklichen Zufall" der Möglichkeit der 
Erfahrung. G. meint ^j, um jenen (Jedanken vollziehen zu 
können, muß P. einen Aussichtspunkt zur Verfügung haben 
von dem unser eigener Verstand ebenfalls „einschlielilich des 
gesamten apriorischen Inbegriffs der Erfahrung selbst" zufällig 
erscheint. Abgesehen von diesem „apriorischen Inbegriff der 
Erfahrung", in welchem G. das Demonstrandum immer wieder 
vorwegnimmt, könnte V. sich auf seine „idealistische Mota- 
Physik" berufen und sagen, daß er sich denken könne, die 
absolute Gesetzmäßigkeit der als wirklich gedachton meta- 
physischen Welt gehe in den menschlichen Verstand nicht 
em. G. konstatiert an dieser Stelle«) ein völliges Mißver- 
ständnis P.'s in Bezug auf K.'s Lehre vom problematischen 
Urteil. Nach K. wird bei einer Reproduktion der Vorstellungen 
immer ein Grund apriori vorausgesetzt. „Würde ein gewisses 
Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigelegt oder auch 
dasselbe Ding bald so bald so benannt, ohne daß hierin eine 
gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unter- 
worfen sind, herrschte, so könnte keine empirische Synthesis 
der Reproduktion stattfinden." Also das „Axiom der Mög- 
üchkei^er Erfahrung-, wie P. jene Tatsache nennt, wird 

') G. S. 152. 
*) G. S. 153. 
') G. Anm. zu S. 154. 



27 



vorausgesetzt. Dieses Axiom aber genügt P. nicht, weil für 
ihn Erfahrung kein Produkt aus zwei Faktoren: Sinnlichkeit 
und Verstand ist; er erkennt nur logische Funktionen des 
Verstandes an, keine transscendentalen und glaubt daher die 
eigentliche Grundlage des Causalgesetzes in der tatsächlichen 
,, Angemessenheit'* des Verstandes zum Begreifen der gege- 
benen Erscheinungen und ihrer Beziehungen zu einander 
genügend klargelegt zu haben — wobei er leider versäumt, 
uns näheres über diese eigentümliche prästabiJierte Harmonie 
mitzuteilen. Das ist es doch gerade, was Kant geben wollte: 
eine Möglichkeit der „Erfahrung \)," also ein Begreifen jener 
„Angemessenheit". P. lehnt K. ab, hat aber nichts besseres 
an seine Stelle zu setzen, weil er selbst Psychologisches und 
P^rkenntnistheoretisches nur mangelhaft und unklar scheidet. 
Auch an dieser Stelle ist deutlich der alte dualistische Ansatz 
zu erkennen zwischen einem Verstände und einer außer ihm 
und unabhängig von ihm existierenden Welt, die infolge 
jener „Angemessenheit" des Verstandes von ihm begriffen 
werden soll. — 

P.'s Neigung, als letzten Schiedsmann in erkenntnistheore- 
tischen Fragen den Physiker heranzuziehen und ihn schließlich 
beispielsweise zu befragen, ob er mit Hume ebenso gut auskomme 
*wie mit Kant, wird durch ein treffendes Beispiel G.'s ad ab- 
surdum geführt. Goldschmidt sagt^): ebensowenig wie der 
gemeine Mann durch den Streit berührt wird, ob diese oder 
jene Luftarten in der Atmosphäre, die er atmet, enthalten 
sind, interessiert es den Physiker als solchen, ob diese oder 
jene Theorien über die Begreifbarkeit der Causalbeziehungen 
in der Natur aufgestellt werden; jener atmet die Luft ein, 
und diesar wendet das ('ausalgesetz an — beide ganz unab- 
hängig von den Theorien über die wissenschaftliche Begreif- 
barkeit! Das Verhältnis ist vielmehr ein umgekehrtes: K.'s 
Philosophie setzt die Wirklichkeit einer erfolgreichen Natur- 
wissenschaft und Mathematik — nämlich der P'rfahrung selbst 
voraus. An ihr orientiert sie sich und erkennt dann als ihre 
Aufgabe, für die Möglichkeit jener Wissenschaften, deren 
Wirklichkeit uns erfahrungsgemäß gewährleistet wird, eine 
befriedigende Lösung zu finden. — 

') Von Cohen u. a. ist K.'s ganze Philosophie als „Theorie der 
Krfahrunp^'* bezeichnet worden, 
») Goldschmidt S. 1.j9. 



— 28 — 



III. Kants Kritik der reinen Vernunft. 

a) Analytische und synthetische Urteile. 

Die von K. mehrfach als die eigentliche Grundlage 
seiner Transsc- Philosophie gepriesene „klassische" Unter- 
scheidung der analytischen und synthetischen Urteile charak- 
terisiert P. als „überflüssig" und „bedeutungslos". Für den 
Bau der kritischen Philosophie komme sie insofern nicht in 
Betracht, da sie erst nachträglich gefunden und dann ge- 
zwungen in das Fundament der Kritik eingefügt sei — worin 
meines Krachtens nichts Tadelnswertes besteht, da es doch 
auf die richtige historische Reihenfolge, in der die Gedanken 
sich zueinander fügen, nicht ankommt. In Bezug auf P. aber 
wird man in jener Bemerkung ein Dokument seiner Neigung 
zur „historisch-genetischen Methode" erblicken können. 

Viel sympathischer ist unserm Verfasser eine auf jene 
Unterscheidung bezügliche Formel, welche B. Erdmann aus 
einer Vorlesung K.'s über Metaphysik mitteilt^): „Das Ver- 
hältnis, was per analysin entsteht, ist logisch, was per syn- 
thesin entsteht, ein reales." Dieser Kantischen Formel glaubt 
P. die Berechtigung entnehmen zu können, jenen Satz aus 
der Dialektik: „Alle Rxistentialurteile sind synthetisch" um- 
zukehren in den Satz: „Alle synthetischen Sätze sind P]xisten- 
tialsätze-)". Gegen diese Umkehrung wendet G. ein 3), die 
Kategorie der Existenz sei keine Leistung logischer, sondern 
der transsc. Verstandesfunktion; es handele sich um synthe- 
tische Urteile a priori; nur diese kämen bei Existentialsätzen 
in Betracht. Er wirft dann die Frage auf, ob ein mathe- 
matisches Urteil, also 2X2:= 4, welches doch synthetisch a 
priori ist, ein Existentialurteil sei! — Meines Erachtens setzt 
G. m dieser Frage das Demonstrandum voraus, nämlich die 
Berechtigung synthetischer Urteile a priori oder der transsc, 

») Philos. Monatshefte 1884 S. 74. 

2) P. S. 142. 

3) G. S. 67. 



— 29 — 



Vorstandesfunktion überhaupt. P. unterscheidet nur zwischen 
logischen und realen Urteilen ; für ihn gibt es nur eine „rein 
begriffliche (mathematische) Erkenntnis" und eine „Erkenntnis 
der Tatsachen^)". Die mathematischen Urteile gehören nach 
P., der sich hier an Hume anschließt, zu den Verhältnissen, 
welche per analysin entstehen und können also deshalb keine 
Existentialurteile sein. „Er [der Verstand] bringt die Gegen- 
stände der Betrachtung selbst hervor; den Punkt, die gerade 
Linie, die Parabel, das Dreieck, den Kreis, den Kegel gibt 
es nirgends in der Welt als allein im Begriff und in dem 
dem Konstruktionsprinzip der Definition gemäß entworfenen 
Gebilde der Einbildungskraft und so in der Arithmetik^)". P. 
kehrt damit also völlig zu dem Standpunkt Humes zurück — 
leider verrät er uns nicht, wie der Verstand zu der Kunst 
komme, jene Gebilde aus sich selbst heraus hervorzubringen. 
G. sucht im Sinne K.'s begreiflich zu machen, daß für die 
mathematischen Sätze der Satz des Widerspruchs als Kriterium 
der Richtigkeit nicht genügt, aber alle seine positiven Äuße- 
rungen über die mathematischen Urteile basieren auf der 
Aprioiität der Raumanschauung und treffen P.'s Kritik der 
analytischen und synthetischen Urteile nicht, weil P. jene 
Apriorität nicht anerkennt, was unten näher zu behandeln 
sein wird. — 

„Gold ist ein gelbes Metall" ist nach K. ein analytisches 
Urteil, weil der Prädikatsbegriff in dem Subjektsbegriff ent- 
halten sei und diesen nur erläutere, nicht erweitere. P. 
zweifelt daran und meint"^), die Aussage beziehe sich nur auf 
die wandelbare Wortbedeutung von ,,Gold*'. Jenes Urteil sei 
nur solange analytisch, als nicht ein Körper gefunden sei, der 
alle Eigenschaften des Goldes habe, nur daß er weiß oder rot 
sei! Schon hier offenbart sich bei P. die empirische Rich- 
tung seines Denkens, die sich mit seiner idealistisch-meta- 
physischen Neigung so merkwürdig vereint. Sicherlich kann 
von einer absoluten Gültigkeit der kantischen Unterscheidung 
der Urteile in analytische und synthetische keine Rede sein. 
Diese Unterscheidung ist vielmehr nur relativ in Bezug auf ein 
Kriterium, an dem man die wesentlichen Eigenschaften eines 



1) P. S. 145. 
«) P. S. 145. 
») P. S. 143. 



— 30 — 



Dingos von den unwesentlichen scheidet, und ers^ero in ana- 
lytischen, letztere in synthetischen Urteilen zum Ausdruck 
bringt. Solch ein Kriterium kann vielleicht das spezifische Ge- 
wicht der Körper sein oder ihre chemische Zusammensetzung, 
von wo aus dann die Farbe immer in einem synthetischen Urteil 
von den Dingen ausgesagt würde. Will man aber, abgesehen 
von solchen Kriterien, noch bestimmte Eigenschaften schon als 
im Begriff der Dinge gegeben betrachten, dann sieht man 
sich allerdings mit Paulsen auf den Sprachgebrauch verwiesen, 
der selbstverständlich für erkenntniskritische Untersuchungen 
keine grundlegende Bedeutung haben kann. Denn wollten 
wir uns einfallen lassen, durch Analyse des Namens analytische 
Urteile zu bilden, so können wir Fausts Wort von den 
Teufeln : 

„Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen 

Gewöhnlich aus dem Namen lesen," 
getrost als allgemeines Krkenntnisprinzip proklamieren, und 
die Etymologie wäre der oberste Gerichtshof für die richtige 
Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile. 

Leider vermissen wir bei P. völlig den Vorsuch, die 
Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile aus der 
Kantischen Voraussetzung über das Wesen des Begriffes zu 
verstehen. Hier haben wir meines Erachtens im Kantischen 
Denken verschiedene Strömungen auseinanderzuhalten. P. 
bemerkt mit Recht, daß die platonisch-metaphysische Auf- 
fassung des Begriffs als „feste Wesenheit" maßgebend gewesen 
sein muß für die Formuherung jenes Unterschiedes, und P. 
hat sich diese Auffassung K.'s vom Wesen des Begriffs für 
seine Tendenz, K. zum Kationalisten und zum idealistischen 
Metaphysiker zu stempeln, in übertrieben-einseitiger Weise zu 
Nutze gemacht. Unter dieser Voraussetzung des Begriffs im 
Sinne des alten Realismus erhält dann die Unterscheidung 
sicherlich einen Sinn: analytische Urteile sind solche, in denen 
man das im Subjektsbegriff tatsächlich Gedachte und substan- 
tiell Enthaltene zur Deutlichkeit bringt; synthetische Urteile 
solche, in denen man den Inhalt dieser Begriffe durch Auf- 
deckung von Beziehungen, die sie zu andern haben, erweitert. 
In der Kritik selbst taucht nun aber eine ganz andere Auf- 
fassung des Bogriffs auf, die den Wert jener Unterscheidung 
in Frage stellt und den Gedanken nahe legt, daß es sich bei 



— 31 — 

dieser Unterscheidung nur um ein Sprungbrett handelt, durch 
welches K. sich am bequemsten in die Behandlung seines 
eigentlichen Problems hinein versetzt. In der Lehre von den 
Definitionen in der Methodenlehre ^) ist K. der Meinung, daß 
man einen empirischen Begriff garnicht definieren könne; 
„denn, da wir an ihm nur einige Merkmale von einer ge- 
wissen Art Gegenstände der Sinne haben, so ist es niemals 
sicher, ob man unter dem Worte, das denselben Gegenstand 
bezeichnet, nicht einmal mehr, das andere Mal weniger Merk- 
male desselben denkt Man bedient sich gewisser 

Merkmale nur solange, als sie zum Unterscheiden hinreichend 
sind; neue Bemerkungen dagegen nehmen welche weg und 
setzen einige hinzu, der Begriff steht also niemals 
zwischen sichern Grenzen". Sahen wir K. oben einen 
metaphysisch fundierten erkenntnistheoretischen Dualismus 
vertreten, indem er das Seiende in dem Begriff, der als „feste 
Wesenheit" allen Wahrnehmungen zu Grunde liegt, durch 
analytische und synthetische Urteile zu Bewußt-Seiendem 
werden läßt, so haben wir hier K. als erkenntnistheoretischen 
Monisten, nach welchem die im Bewußtsein gegebene Wahr- 
nehmung selbst real ist und durch Aussagen bestimmt wird. 
Da in diesem Sinne der Begriff nie ,, zwischen sichern Grenzen 
steht", so ist P.'s Anschauung von dem Fluß, in dem die 
Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische 
sich befindet, völlig berechtigt, wenn wir bei ihm nur nicht 
die Beobachtung machen müßten, daß er trotzdem dort, wo 
es ihm für seine Tendenz vorteilhaft erscheint, jene an dieser 
Stelle mit der Unterscheidung der analytischen und synthe- 
tischen Urteile abgelehnte rationalistische Auffassung des Be- 
griffs bei K. wieder aufnimmt und sich auf dieselbe stützt. 
So taucht in seiner Behandlung der Kantischeu Metaphysik, 
die in dem Sinne wie P. sie darstellt und konstruiert, auch 
noch für die Gegenwart den vollen Beifall unsers Verfassers 
findet, der Begriff in jenem rationalistischen Sinne wieder 
auf^); und er wird dort zur Grundlage der Kantischen Meta- 
physik gemacht, nämlich in der Gestalt des Dinges an sich. — 
In seiner Kritik der Kantischen Unterscheidung der Urteile 



») Kr. d. r V. S. 558. 
=«) P. S. 200 ff. 



— 32 — 

in analytische und synthetische akzeptiert?, die empirische 
Auffassung des Begriffs bei K. aus der Methodenlehre, und 
er kommt zu dem Eesultat: „Die analytischen Urteile gehen 
allemal auf synthetische zurück, die Synthesis nämlich, wo- 
durch der Begriff gebildet ist^)". Die Frage, ob in unserm 
Denkprozeß die Synthesis oder die Analysis von Gegenständen 
ursprünglicher sei, kommt für die Erkenntnistheorie, die auf 
das Gegebene selbst sieht, welches immer schon als Unter- 
schiedenes und Vereintes vorliegt, garnicht in Betracht. 
Kommt man aber von psychologischer Seite an die Frage 
heran, so wird man schwerlich mit P. die Synthesis als das 
ursprünglichere anerkennen können. Denn: „da die Seele in 
jedem Augenblick die Einheit mehrerer besonderer Bestimmt- 
heiten ist, so muß sie, weil sie demnach jederzeit Mehreres 
,hat', auch jederzeit dieses Mehreren sich bewußt sein. Als 
Bewußtsein Mehreres haben heißt dann aber wiederum nichts 
anderes als Unterschiedenes haben oder unterscheiden 
Dieses ursprüngliche Denken ist freilich ausnahmslos nur 
unterscheidendes Denken =^)**. Aber auch dort, wo man in 
Konsequenz zu der [Annahme gewisser apriorischer Kategorien 
Analyse und Synthese in den Bereich erkenntnistheoretischer 
Betrachtung ziehen muß, wird man die ursprünglichste 
Synthese immer auf eine Analyse des Gegebenen als Bewußt- 
seinsinhaltes zurückführen. „Synthese setzt also Unterscheidung 
voraus (z. B. die eines Vereins von Sinnesqualitäten an be- 
stimmtem Orte von der Veränderung des Ortes) und meint 
die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit des Unterschie- 
denen^)**. Für P. allerdings ist jenes In-den- Vordergrund- 
rücken der Synthesis verständlich als Konsequenz der sich 
auch in seiner „Einleitung in die Philosophie** klar offen- 
barenden Vermischung erkenntnistheoretischer, psychologischer 
und metaphysischer Gesichtspunkte. Es scheint, als ob er 
nirgends zu einer klaren Formulierung eines erkenntnis- 
theoretischen Standpunktes gelangt. Er liest z. B. die er- 
kenntnistheoretische Behauptung *) : „die Summe meiner 
Wahrnehmungen und Vorstellungen ist die Welt, und außer- 

1) P. S. 143. 

2) Rehmke: AUg. Psych. ^ S. 404. 

3) Schuppe: Logik S. 98. 

*) Paulsen: Einl. i. d. Phüos. » S. 378. 



- 33 — 



dem gibt*s überhaupt nichts Wirkliches;** und vermag diese 
Behauptung nur im Sinne des Solipsismus zu verstehen^), aber 
nicht auch als allgemeine Bewußtseins-Beziehung zwischen Ich 
und Nicht-Ich überhau})t, deren gegenseitige Setzung dasGogebene 
und das Wirkliche ausmacht. An anderer Stelle-) spricht er 
eben davon, daß Köiper Erscheinungen für ein ,, Bewußtsein 
überhaupt** sind, was ihn aber nicht hindert, gleich darauf zu 
behaupten: „Jedermann glaubt, daß die Welt mehr als eine 
Phantasmagorie in seinem Bewußtsein, daß die erscheinende 
Kürperwelt auf irgend ein An-sich-seiendes hinweist;** wobei 
er also prompt erkenntnistheoretisches „Bewußtsein überhaupt'* 
und psychologisch-subjektives Individual-Bewußtsein als das- 
selbe zusammen A'irft; denn als Erscheinungen für ein ,, Be- 
wußtsein überhaupt'* waren die Körper von ihm zuerst be- 
zeichnet worden, während er dann die Körperwelt als eine 
Phantasmagorie in einem einzelnen konkreten Bewußtsein 
versteht — eine Verwechslung von „Bewußtsein überhaupt** 
und einzelnem konkreten Bewußtsein, in der man viel- 
leicht den Schopenhauerianer, als den P. sich gern ausgiebt, 
erkennen kann. In dieser Mischung zeigt sich bei P. als Drittes 
dann noch der metaphysische Idealismus, der als Fortschritt 
von dem erkenntnistheoretischen aus eingeführt wird, und 
welcher jene an sich seiende Wirklichkeit „aus unserm Innen- 
leben deuten** soll*^) — womit dann die Wissenschaft der 
Philosophie meines Erachtens völlig ins Reich der Dichtung 
verwiesen wird. — 

Goldschmidt exemplifiziert in seiner Verteidigung der 
Kantischen analytischen und synthetischen Urteile besonders 
auf die Sätze der Mathematik, die nach K. zu den synthetischen, 
nach Paulsen-Hume aber zu den rein logischen im Gegensatz 
zu den realen Urteilen gehören. Schöndörffer*) beruft sich 
P. gegenüber auf K., der schon darauf aufmerksam gemacht 
habe, daß es sich bei den mathematischen Urteilen garnicht um 
Begriffe handele, sondern um Konstruktionen von Begriffen; 
und einen Begriff konstruieren heißt nach K.^) „die ihm 



i) P. a. a. 0. » S. 379. 

«) P. a. a. 0. 9 S. 398. 

3) P. a. a. 0. ^ S. 399. 

*) Altpreuß. Monatsschr. 1899. S. 549. 

i) Kr. d. V, V. S. 548. 



34 — 



— 85 — 



korrespondierende Anschauung a priori darstellen.*' Aber 
dieser Einwand hat nur unter der Voraussetzung Sinn, daü 
P. die Apriorität des Raumes, in welchem dann die korre- 
spondierende Anschauung dargestellt werden kann, anerkennt. 
Das ist nicht der Fall, also fällt auch dieses Argument gegen 
P. — G. untersucht nun den Begriff der „Graden'' und den 
der Zahl „12" selbst. Er meint : „es mag noch so schwer 
sein, auszusprechen, was man im Begriff der Graden denkt, 
in diesem Begriffe liegt nichts, was eine Größe aussagte')."' 
Ob es aber in Betreff der Graden irgend ein Urteil gibt, 
welches von Anschauung ganz absieht, das ist mir zweifel- 
haft; durch letztere aber wird nach G. der Begriff der Graden 
seinem Inhalte nach beständig vermehrt^). Die Erörterung 
des Raumes und der Anschauung überhaupt hat in der 
Aesthetik und bei der Behandlung derselben ihren Platz. 
Sieht man aber von der Raumanschauung als apriori gegeben ab, 
so kommt es lediglich auf die Auffassung des Subjektsbegriffes 
an, ob man die mathematischen Urteile analytische oder syn- 
thetische nennt. In dem Urteile z. B. 7 -f 5 = 12 kann 
man den Subjektsbegriff entweder als die mögliche Summe 
von 7 und 5 fassen; dann haben wir dort ein synthetisches 
Urteil, oder wir verstehen ihn als: die Summe (7 + 5), dann 
ist jenes ein analytisches Urteil. Ähnlich lassen sich dann 
auch die geometrischen Urteile behandeln."^). — 

Gegen P.'s Behandlung des analytischen Urteils: „Gold 
ist ein gelbes Metall" wendet G. ein: neben der lexikalischen 
Aussage: dieser Körper wird in deutscher Sprache Gold ge- 
nannt, müßten auch noch andere lexikalische Aussagen 
vorausgesetzt werden: ist, gelb, Metall etc. P.'s J5ehauptung, 
daß jedes analytische Urteil eine Synthesis voraussetze, glaubt er 
mit dem Hinweis auf die synthetische Einheit der Apperception 
erledigt*), ist aber weit davon entfernt zu bemerken, daß 
diese synthetische Einheit der Apperception nur in einem 
psychologischen Subjekt gedacht werden kann, wudurch also 
die Unterscheidung in analytische und synthetische Urteile, 



I 



wenn sie auf jene synthetische Einheit der Apperception zu- 
rückgeführt wird, ihren logisch-erkenntnistheoretischen Charak- 
ter aufgeben müßte, und einzig psychologische Prozesse an- 
deutete. 

Als Resultat obiger Untersuchung über die Unterscheidung 
analytischer und synthetischer Urteile erhalten wir zunächst 
in Bezug auf K., wenn wir uns auf den erkenntnistheoretischen 
Standpunkt des Gegebenen stellen mit Ablehnung aller apriori- 
schen Verstandesformen: daß jene Unterscheidung erkennt- 
nistheoretisch haltlos ist, da die Erkenntnistheorie und Logik 
nicht die Frage zu untersuchen hat: Was machen wir, wenn 
urteilen?" also keine Synthesis und auch keine Analysis zu 
ihrem Gegenstande hat. Jene Prozesse sind psychologischer 
Natur, indem die Seele in ihrer ursprünglichen Bestimmtheit 
als denkendes Bewußtsein immer schon Unterschiedenes und 
Vereintens hat und zwar zunächst und ursprünglich Unter- 
schiedenes, welches immer vorausgesetzt werden muß, damit 
sie Vereintes haben kann. Damit richtet sich P.'s Meinung, 
daß jedes analytische Urteil auf eine Synthesis zurückgehe, 
von selbst; denn sie setzt ein Affiziertwerden des Subjekts 
durch „Empfindungen" voraus, die dann synthetisch zusammen- 
gefaßt werden sollen — eine Meinung, mit der sich nach 
obigem kein Sinn verbinden läßt. — Was nun P.'s von Humo 
übernommene Einteilung aller Urteile in logische und reale 
und die Einordnung der mathematischen Sätze in die erstere 
Gruppe anbetrifft, so ist der dualistische Charakter der zu 
Grunde liegenden „Erkenntnistheorie" unverkennbar und damit 
auch die Einmischung eines realen Seins-Gegensatzes in die 
streng erkenntnistheoretische Bewußtseins-Beziehung. Gehen 
wir von derVoraussetzung aus, daß uns überall in der gegebenen 
Welt Raum und Empfindung untrennbar gegeben sind, so 
reihen sich die mathematischen Urteile zwanglos in die Reihe 
der einfachen Erkennungsurteile ein. 



*) G. S. 72. 
») G. S. 72. 

3) Kehmke: Welt als Wahrn. u. Begr. S. 167 ff u 171 f 
*) G. S. 81. 



b) Das Problem der KritiK der reinen Vernunft. 

Mit der Kantischen Unterscheidung der analytischen 
und syntlietischen Urteile hängt aufs engste die Formulierung 

des Problems der Kr. d. v. V. zusammen: „Wie sind syn- 

3* 



iin™'a«iMawt.ij;,Ti ■■ 



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— 36 



I ;- 



— 37 — 



thetische Urteile a priori möglich ^)?" Den Sinn dieser Formel 
erläutert P.: „Wie ist es denkbar, daß das, was das reine 
Denken als ihm einleuchtende Wahrheit ausmacht, auch für 
die gegenständliche Wirklichkeit, die doch unabhängig vom 
Verstände da ist, verbindlich ist-)?** Und die Formel, die er 
an Stelle der von K. gefundenen vorschlägt, lautet: „Wodurch 
und wieweit ist es möglich, durch reine Vernunft (a priori) 
zur Erkenntnis von Gegenständen zu gelangen?" Diese 
Formel trifft sicherlich den Kantischen Gedanken. Von der 
Formulierung K.'s aber unterscheidet sie sich durch die ge- 
ringere Klarheit und Prägnanz. In K.'s Formel tritt die 
transsc. Verknüpfung zwischen der Anschauung — im Begriff: 
synthetisch — und dem reinen Verstände — im Begriff: a 
priori — scharf hervor. P. ist überzeugt 3), daß die Unter- 
scheidung der Urteile in analytische und synthetische „gerade 
durch eine Art falscher Klarheit mehr dazu beigetragen hat, 
das Problem zu verwirren, als aufzuhellen.*' Demgegenüber 
betont G.^): „Man sieht, wie mit dem Unterschiede analyti- 
scher und synthetischer Urteile das Problem der Kritik d. r. 
V. schlechthin gegeben ist.** 

Sicherlich hängen beide eng zusammen, und durch unsere 
Ablehnung jenes Unterschiedes wird auch das Problem der 
Kritik selbst in Mitleidenschaft gezogen; trotzdem aber hängt 
beides nicht so eng zusammen wie G. meint; es läßt sich, 
wie P. zeigt, sehr wohl eine treffende Formulierung des 
Problems unabhängig von jenem Unterschied finden, wenn 
auch nicht in so durchsichtiger Prägnanz wie mit demselben. 
— P. untersucht die Frage, wie K. dazu kam, an Stelle der 
einfacheren und seiner Meinung nach klareren Formulierung, 
die er vorschlägt, jene „unbestimmte** und „fließende** auf 
Grund der analytischen und synthetischen Urteile zu geben. 
Nach Heman^) gehört die Untersuchung P.'s „mit zu dem 
feinsinnigsten, was das Buch bietet**. 

P. findet zwei Gründe**) I. K. wollte die Metaphysik in 

») P. * S. 140 ff. 

») P. * S. 147. 

•») P. * S. 142. 

*) G. S. 73. 

*) Heman: Zs. f. Phüos. u. philos. Kr. 114 S. 265. 

«) P. ♦ S. 149. 



die gute Gesellschaft der Mathematik und zwar der reinen 
Mathematik bringen, da diese die gewisseste und unbezweifelste 
aller Wissenschaften ist. Das Begriffspaar: analytisch und 
synthetisch war K. schon bekannt, nur hatte er bisher die 
Begriffe der Metaphysik denen der Mathematik als syntheti- 
schen gegenübergestellt. In der Kritik faßt K. auch die Be- 
griffe der Metaphysik als synthetische; denn nur unter diesem 
Begriff können beide: Mathematik und Metaphysik zusammen- 
gefaßt werden. Der einseitigen Betonung dieser Tatsache 
durch P. gegenüber weist G. mit Recht auf den himmelweiten 
Unterschied hin, der nach K. zwischen mathematischen und 
und metaphysischen Urteilen besteht, und den K. besonders 
in den Prolegomenen klar ausspricht: ,, Während man sonst 
in der Metaphysik immer auf Mathematik sich berief, ent- 
scheidet hier die Mathematik in einem negativen, den dog- 
matischen Irrtum vermeidenden Sinn.** Den eigentlichen Kern 
des Paulsenschen Mißverständnisses hat G. leider nicht berührt. 
Er liegt in P.'s irrtümlicher Auffassung des Begriffs der Me- 
taphysik im Kantischen Sinne. K. braucht den Begriff: Me- 
taphysik namentlich in seinen spätem Schriften immer identisch 
mit Transscendental-Philosophie, nur bisweilen schränkt er 
den Begriff auf diejenigen Fragen und Probleme ein, die er 
speziell in der Dialektik behandelt und zwar dort in negativem 
Sinne. 

Bei P.'s Behandlung der Kantischen „Metaphysik** tritt 
klar hervor, daß er den Begriff gerade voizugsweise im 
zweiten eben erörterten Sinne und zwar positiv faßt. Über 
das Wesen der Metaphysik im zweiten Sinne hat K. sich an 
jener soeben angeführten Stelle der Proleg. ausgesprochen; 
während er dort, wo er meint, sie in die gute Gesellschaft 
der Mathematik gebracht zu haben, Metaphysik identisch mit 
Transscendental-Philosophie faßt. Jene Parallelstellung zur 
Mathematik soll dann besagen: ebenso wie die Sätze der Ma- 
thematik in ihrer Notwendigkeit und Allgemeinheit nur mit 
Rücksicht auf die objektive Gültigkeit der reinen Anschauung 
eingesehen werden können, so sind auch die Begriffe und 
Sätze der Metaphysik — in ihrer Bedeutung als Transsc- 
Philosophie — nämlich die Kategorien und Grundsätze des 
reinen Verstandes nicht anders verständlich als mit Rücksicht 
auf mögliche Erfahrung, ohne welche die Begriffe leer und 



— 38 — 

die Grundsätze hohle Schemen wären ; woraus dann notwendig 
folgt, daß eine Einsicht in Bezug auf die eigentlichen Pro- 
bleme der Metaphysik im engeren Sinn: Gott, Unsterblichkeit, 
Freiheit: unmöglich ist. Diese beiden Bedeutungen des Be- 
griffs der Metaphysik werden von P. nicht auseinandergehalten, 
und daher rührt P.'s Mißverständnis jener Stelle, wo K. da- 
von spricht, daß er die Metaphysik in die gute Gesellschaft 
der Mathematik bringen will. K. identifiziert dort Metaphysik 
mit Transsc.-Philosophie, während P. sie an dieser Stelle im 
Sinne der alten dogmatischen Schul-Metaphysik faßt. 

11. Noch einen zweiten Grund führt P. an, der K. zu 
der Wahl seiner Problem-Formulierung in der Kr. geführt 
haben soll: K.'s rationalistischen Glauben an die absolute 
Eealität der Begriffe, den P. zurückführt auf den Satz Wolffs: 
Dasein ist complementum possibilitatis und auf Leibnitz 
Schöpfungstheorie: Alles Denkbare ist ein ens possibilitatis. Von 
hier aus wäre dann der Unterschied der analytischen und 
synthetischen Urteile leicht zu verstehen — nach P.! G. hat 
gegen diese ganze Erörterung eine Fülle von berechtigten 
Einwänden, sodaß sie als ganz unhaltbar betrachtet werden 
muß. 

Die rationalistische Auffassung des Begriffs bei K. sucht 
P. durch die verschiedene Art zu erläutern, wie K. und Humo 
den Begriff der Ursache fassen. Hume will diesen Begriff 
aus den empirischen Wissenschaften heraus richtig formulieren, 
also allein aus der empirischen Erfahrung. K. nimmt das 
Causalgesetz als notwendige Beziehung zweier aufeinander- 
folgender Zustände an und sucht ihre Möglichkeit zu verstehen. 
Hier kommt P. allerdings das mehrdeutige Wesen der Kanti- 
schen Kategorien als Denkformen und als Begriffe entgegen; 
trotzdem aber wird man den Versuch P.'s, diese Begriffe als 
rationalistisch-metaphysisch zu betrachten, ablehnen. (P. ver- 
mißt neben der Behandlung der synthetischen Urtetle a priori 
die Behandlung der synthetischen Urteile a posteriori, in 
welchen er eine „contradictio in adjektio*' erblickt^). P. mag 
trotz G. im strengen Sinne einer Kantischen Erkenntnistheorie 
Recht haben, denn nach dieser müssen alle wissenschaftlichen, 
also alle Erkenntnisurteile ihren apodiktischen Charakter den 



P. * S. 155. 



"s. 



— 39 — 






apriorischen Denkformen des Verstandes verdanken, müssen 
also ausnahmslos synthetisch a priori sein. P. hat aber über- 
sehen, daß K. in den Proleg. auch den synthetischen Urteilen 
a posteriori ein Hintertürchen offen gelassen hat, nämlich in 
den bloßen Wahrnehmungsurteilen mit nur subjektiver Gül- 
tigkeit, die K. den Erfahrungsurteilen mit objektiver Gültig- 
keit gegenüberstellt. „Uie letzteren [Wahrnehmungsurteile] 
bedürfen keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der 
logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denken- 
den Subjekt.*'^) Hier besteht nach K. tatsächlich ein Unter- 
schied zwischen synthetisch a priori und synthetisch a pos- 
teriori, wo es sich nämlich um den Gegensatz des objektiven 
Erkenntnisurteils zum subjektiv-psychologischen Wahrneh- 
mungsurteil handelt. 

c) Die transscendentale Ästhetik. 

Die transscendentale Ästhetik wird bei K. durch eme 
metaphysische und eine transscendentale Beweisführung be- 
handelt. Schon hierin wittert P. ein Dokument des verderb- 
lichen Einflusses, den nach seiner Meinung der Kantische 
Schematismus auf den ganzen Bau seiner Philosophie ausübt» 
Bei der Behandlung der Zeit habe K. zwar die Selbständig- 
keit der transsc. Erörterung gefordert und auch einen Para- 
graphen mit jener Überschrift eingerichtet, sei dann aber bald 
in der Darstellung erlahmt und habe auf No. 3 der metaphy- 
sischen Deduktion verwiesen, wo er die betreffenden transsc. 
Erörterungen schon vorweggenommen habe. P. fragt 2): 
„Wollte K. dem Leser gleich am Anfang einen Wink geben, 
er möge sich durch den sonst so ängstlich und oft pedantisch 
durchgeführten Schematismus nicht für verpflichtet erachten, 
die Sache allzu ernst zu nehmen?'* Meines Erachtens wollte 
K. es dem Leser überlassen, die Betrachtung bei der Zeit 
parallel zu derjenigen des Raumes anzustellen und die von 
K. gegebene metaphysische Deduktion nach der Seite trans- 
scendentaler Erörterung selbst umzugestalten. Letztere erhält 
bei K. erst in der zweiten Auflage einen besonderen Abschnitt, 



1) K.:Proleg. § 18. Reklam: S. 77. 
*) P. Anm. zu S. 167. 



» 



— 40 — 

während sie, wie Paulsen richtig bemerkt, in der ersten Auf- 
lage als No. 3 in die mataphysische Deduktion eingefügt ist. 
P. sucht die Kantische Auffassung von Raum und Zeit, 
so wie sie uns in der Kritik vorliegt, aus der Dissertation 
von 1770 heraus zu verstehen, die nach der Meinung unsers 
Verfassers überhaupt den eigentlichen philosophischen Stand- 
punkt K.'s klarer widergibt als die spätem Hauptwerke dos 
großen Königsberger Philosophen. Aus der Entstehungsge- 
schichte und aus dem Verhältnis der Kantischen Meinun<^r zu 
den Auffassungen der früheren Philosophen erscheint ihm 
dann das Hervortreten der metaphysischen Erörterung bei K. 
in der Kritik erklärlich; denn die Idealität von Raum und 
Zeit war K. schon lange klar, und die Fassung derselben von 
1770 hat er nach P. „im ganzen*' in die Ästhetik übernommen. 
Auch die transsc. Deduktion ist schon in der Dissertation 
vorgezeichnet, besonders in ihrem Verhältnis zu den An- 
schauungen von Newton und Leibnitz, die in diesem Punkte 
gegensätzlich zu einander stehen. Newton sieht Raum und 
Zeit als absolut seiende „receptacula" der Wirklichkeit an, 
Leibnitz sucht beide als Beziehungen zwischen existierenden 
Dingen und Vorgängen za verstehen, die mit diesen selbst 
verschwinden. Erst K.'s transsc. Auffassung bringt nach P. 
allen Anforderungen vülhges Genüge! Und gerade dieser 
Charakter derselben sei in der Dissertation klar zum Ausdruck 
gebracht worden. — 

P.'s Mißverständnis besteht meines Erachtens in dieser 
letzten Annahme. Er sieht nicht, wie vieles in der Kritik 
geklärt und differenziert ist, was die Dissertation nur roh 
gemischt und unklar enthält: z. B. die ^r^oße Scheidung' von 
Sinnlichkeit und Verstand, während in der Dissertation nur 
immer von den apriorischen Formen des „Geistes" übeihaupt 
die Rede ist. Von hier aus werden die von P. behaupteten 
Beziehungen zwischen K. und Leibnitz, K. und Newton und 
zwischen K. und Berkeley am be.sten verständlich — Be- 
ziehungen, die G. in seiner Polemik gegen P. als schwer- 
wiegende Unterschiede enthüllt, während er leider den 
eigentlichen Kern der irrtümlichen Auffassung P.'s, das Ver- 
hältnis der Kritik zur Dissertation betreffend, ganz außer 
Betracht läßt. Nur wenn P. jene Ausführung der Dissertation, 
wo gesagt wird, daß „die Raumanschauung durch die Natur 



— 41 — 

des Geistes ursprünglich gegeben" sei^), als die maßgebende 
erklärt, nur wenn P. Kant Aussagen machen läßt von zwei Ele- 
menten „unserer sinnlichen Erkenntnis y, kann man ver- 
stehen, wie P. zu der Behauptung kommt, K.'s Lehrbegriff 
von Raum und Zeit sei , .eigentlich auch Leibnitz's Ansicht" 
gewesen. Bei Leibnitz waren Raum und Zeit Funktionen 
des Verstandes, wie G. näher ausführt, und wenn P. in bezug 
auf K. nur von apriorischen Formen des „Geistes" spricht, 
so bleibt der fundamentale Unterschied verborgen, nämlich, 
daß in der Kritik dieser ,, Geist" zerlegt wird in Sinnlichkeit 
und Verstand, wo dann Raum und Zeit Anschauungsformen 
der Sinnlichkeit im Gegensatz zu den reinen Denkformen des 
Verstandes werden, wodurch also die scheinbar nahe Be- 
ziehung zwischen Leibnitz und K., die beide nach P. „eigent- 
lich" derselben Ansicht sind, sehr gelockert wird. — Bei 
Newton wird der Raum völlig zum empirischen Begriff, der 
von den sinnlichen Gegenständen abgezogen wird, und bei 
Berkelev wird der Raum mit der Materie idealistisch ins Sub- 
jokt verlegt. Bei beiden geht die Materie also transscendental 
der Form voraus, während nach K.*^) „die Anschauung des 
Gegenstandes vor dem Gegenstand selbst" vorhergeht. Aber 
die Formen, die a priori gegeben sein sollten, durften auch 
hier nicht einfach dem „Geiste" zugesprochen werden, wie es 
noch in der Dissertation geschieht, sondern sie mußten als 
apriorische Formen der Anschauung scharf von den Verstandes - 
formen gesondert werden, wenn die Möglichkeit objektiver 
Erkenntnis, nämlich ein objektiver Stoff, in dem die Formen 
des Verstandes sich betätigen, geschaffen werden sollte; und 
das geschieht erst in der Kritik, die also trotz P.K.'s eigentliche 
Meinung wiedergibt. In der Dissertation sind Raum und 
Zeit ideal und subjektiv, weil sie auf den „Geist," also vor- 
wiegend auf den Verstand bezogen werden ; in der Kritik da- 
gegen sind sie objektiv gültig und empirisch real, weil sie als 
Formen der Anschauung den Stoff dem Verstände vermitteln. 
Hiervon wird sowohl beim Raum als auch bei der Zeit durch 
K. noch die transsc. Idealität unterschieden „in Ansehung der 
Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen 



') Oiss. §^ 14. 15. 

2) P. * S. 174. 

^) K. Proleg. §45 8. 9. 



— 42 



werden^)". Daher erhalten bei K. die mathematischen Sätze 
sogar dieselbe Bezeichnung wie die Begriffe und Grundsätze 
des reinen Verstandes, nämlich objektiv real, wovon dann 
nur noch die „schlechthin objektive Eealität" der Noumena 
unterschieden wird-). 

Als einen Mangel der Kritik d. r.V. jener Dissertation gegen- 
über faßt P. die Tatsache, daß in der transsc. Deduktion das 
eigentliche Ziel derselben, die gegenständliche Gültigkeit der 
mathematischen Sätze zu beweisen, nicht rein herauskommt. Hier 
nun wirkt schon der Fluch der oben erörterten falschen Auf- 
fassung P.'s, in betreff des Kantischen Schematismus, der nun 
bei ihm fortzeugend Falsches gebärt. Sicherlich ist es der Sinn der 
gesamten Kantischen Meinung, daß nicht nur die reine, son- 
dern auch die angewandte Mathematik objektive Gültigkeit 
habe. Aber dieses Problem gehört nach K. keineswegs voll- 
ständig in die Ästhetik; K. trennt gerade die reine Anschauung 
von der empirischen. Im Rahmen der ersteren bewegt sich 
nach K. die reine Mathematik; zur Gegenständlichkeit der- 
selben muß aber noch ein Faktor hinzukommen: das Schema, 
welches in der Analytik der Grundsätze behandelt wird. 
Nicht wie P. meint, hat der Schematismus Schuld daran, „daß 
die eigentliche Deduktion ... aus der Ästhetik in die Analytik 
verlegt worden ist (unter dem Titel: „Axiome der Anschauung'')," 
sondern ein klarer Kantischer Gedanke, nämlich die gegen- 
ständliche Gültigkeit der reinen Mathematik und der reinen 
Kategorien durch den „Schematismus** vermitteln zu wollen, 
liegt vor, dessen Berechtigung oder Nichtberechtigung den 
Kantdarsteller zunächst noch nichts angeht, sondern nachher 
erst den Kantkritiker zu beschäftigen hätte. Jener Unter- 
scheidung der reinen und empirischen Anschaung wird P. 
nirgends gerecht; und wenn er schreibt^): „Wäre man von 

1) Anra. Die wesentlichen Stellen aus der Dissertation, die hier in 
Betracht kommen, sind: 

§ 14,5 tempus non est objectivum aliquid reale. 

§ 15: d spatium non est aliquid objectivi et realis . . . 

Absatz e: quamcjuam horum principium non sit nisi subjectivum. 

Demgegenüber Kr. d. r. V. S. 56/56. S. 62. S. 72. Vgl. dazu Barth • 
Recension von P.'s Kant. Kantstudien III. S. 224. f. 

») K.-Kr. d. V. V. S. 231. 

•'') P * S. 173. 

*) P * S. 174. 



— 43 — 

der Dissertation ausgegangen, so hätte niemals ein Zweifel 
darüber entstehen können, daß es sich ursprünglich bei der 
neuen Konzeption in erster Linie um den Beweis dafür han- 
delte, daß die mathematischen Sätze ohne Verlust ihrer Not- 
wendigkeit und Allgemeinheit auch von empirisch gegebenen 
Größen gelten;" — so können wir daraus nur schließen, daß 
K. später diese Aufgabe einzig in der Weise lösen zu können 
glaubte, daß er das Problem in zwei gesonderte auseinander- 
legte, und zunächst die Allgemeingültigkeit der reinen Mathe- 
matik in der Ästhetik, dann die der angewandten in der Analytik 
behandelte. Diese strenge Teilung des Problems läßt sich 
auch in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Natur- 
wissenschaften" nachweisen, wo K: sagt^): „Reine Vernunft- 
erkenntnis aus bloßen Begriffen heißt reine Philosophie oder 
Metaphysik, dagegen wird die, welche nur auf der Konstruk- 
tion der Begriffe vermittelst Darlegung des Gegenstandes in 
einer Anschauung a priori ihr Erkenntnis gründet, Mathematik 
genannt." Im weiteren Verlauf dieser Erörterung wird diese 
„Darlegung des Gegenstandes in Anschauung a priori" 
aber streng unterschieden von dem Gegenstande selbst, wel- 
chem wir nach K. eine „Natur" beilegen, während „dem Gegen- 
stand in Anschauung a priori" nur ein „Wesen*' zukommt^): 
„Wesen ist das erste, innere Prinzip alles dessen, was 
zur Möglichkeit eines Dinges gehört. Daher kann man 
den geometrischen Figuren (da in ihnen nichts, was ein Dasein 
ausmachte, gedacht wird) nur ein Wesen, nicht aber eine Na- 
tur beilegen." Auf das, was K. hier das „Wesen'* nennt, 
kommt es bei der reinen Mathetik allein an, nämlich auf die 
in der Ästhetik behandelte „reine Anschauung", die jeder em- 
pirischen schoi\ zu Grunde liegen muß. 

In Goldschmidts Erörterungen, die vielleicht mehr den 
Zweck verfolgen, K's Meinung klar zur Darstellung zu bringen 
als gegen P. zu polemisieren, kommt der oben behandelte 
Mangel der Paulsenschon Darstellung nicht zur Geltung. 

Der kritische Gedanke, der, ohne allerdings an irgend 
einer Stelle klar ausgesprochen zu sein, P.'s Ausstellungen an 
K. leitet, ist der Zweifel an der Möglichkeit der „reinen An- 



1) „MeUph. Anf. d. Naturwiss." (Akad. d. Wiss.) S. 469, 
») K. a. a. 0. S. 467. (Vorr. Anm.J 



— 44 — 



— 45 — 



I* 



schauung." Ich glaube, hier wird auch jede Kritik an K.'s 
Ästhetik einzusetzen haben. K. gelangt zur ,, reinen An- 
schauung" durch Analyse der Erscheinung, in welcher er 
Materie, die der „Empfindung" korrespondieren soll und Form 
unterscheidet, indem er letztere dann als „reine Form der 
Anschauung" zu einem apriorischen Bestand der Sinnlichkeit 
machte. E. v. Hartmann macht mit Recht darauf aufmerksam, 
„daß es in aller Strenge eine unsere Fähigkeit übersteigende 
Aufgabe ist, eine von aller empirischen Empfindung gereinigte 
Anschauung des abstrakten Raumes zu gewinnen^)." Wenn 
wir es versuchen, so stellen wir uns immer ein irgend wie 
subjektiv erhelltes Gesichtsfeld vor; aber, fügt Rehmke hinzu, 
unsere Aufmerksamkeit ist so sehrauf Gestalt und Ausdehnung 
konzentriert, ,,daß es den Anschein erweckt, als ob wir in der 
Tat ,die reine Anschauung* als Anschauung für sich hätten;" 
— darnach ist also die Kantische „reine Anschauung" garnicht 
Anschauung, sondern Begriff. — 

Nach P. stehen die Prolegomena in Bezug auf die 
mathematischen Urteile in einem gegensätzlichen Verhältnis 
zur Kritik: es wird „das Verhältnis zwischen Beweisgrund 
und Beweisziel beinahe umgekehrt 2)." Nicht die Idealität 
von Raum und Zeit sei Grund der allgemeinen Gültigkeit 
mathematischer Erkenntnisse, sondern die Gewißheit und 
Wirklichkeit der Mathematik sei Beweisgrund für die Idealität 
von Raum und Zeit — K. fügt das Beiwort „kritisch" hinzu, um 
seinen Idealismus von dem „träumenden" oder ,, schwärmenden" 
Berkeleys zu unterscheiden^). Was diese von P. getadelte 
Umkehrung von Beweisgrund und Beweisziel anbetrifft, so 
erscheint diese Bemerkung unbegreiflich, wenn man K.'s Ein- 
leitung zu den Prolegomena gelesen hat, wo K. überhaupt 
eine Umkehrung der Methode der Kritik in Aussicht 
stellt. Dort — in der Kritik — sei er analytisch vorgegangen, 
und hier — in den Prol. — wolle er nun auf synthetischem Wege 
die gewonnenen Resultate entwickeln; wodurch dann eine Um- 
kehrung von Beweisgrund und Beweisziel nicht nur beinahe, 
wie P. meint, sondern gänzlich vor sich geht. 



») Siehe Rehmke: Welt als Wahrn. u. Begr. S. 32 f. 

2) P * S. 174. 

3) K. Prol. § 13. Anm. 3. 



Mit der Frage nach der objektiven Gültigkeit der 
Mathematik hängt aufs engste die Bedeutung der Zeit im 
Kantischen System überhaupt zusammen. P. verlegt jene 
schon gänzlich in die Ästhetik und übersieht infolgedessen 
die doppelte Funktion der Zeit resp. er sieht in der Bedeutung 
der Zeit in K.'s Schematismus der Verstandesbegriffe eine 
Konsequenz der scholastischen Systematik der kantischen 
Philosophie. Die Zeit ist es nach K. gerade, welche den Über- 
gang vermittelt zwischen der Ästhetik und der Analytik, 
zwischen der reinen und der angewandten Mathematik. In 
K.'s Ästhetik gewinnt es leicht den Anschein, als stände die 
Zeit völlig auf gleicher Linie mit dem Raum, während sie in 
Wirklichkeit eine doppelte Funktion bei K. erfüllt: einmal 
ist sie reine Form der innern Anschauung und dann ist sie 
das zwischen der reinen und der empirischen Anschauung 
vermittelnde Schema. — Leider wird auch bei Goldschmidt 
dieser doppelte Charakter der Zeit mit keinem Wort berührt, 
wodurch meines Erachtens seine Polemik gegen P.'s Ver- 
mischung der reinen und der angewandten Mathematik einen 
wichtigen Stützpunkt unbenutzt läßt. — 

Die von P. nicht im Sinne K.'s vollzogene Trennung 
zwischen der reinen und der empirischen Anschauung zeitigt 
bei P. sofort ein neues Mißverständnis über die Natur jener 
reinen Anschauungsformen: Raum und Zeit. P. glaubt sie 
im Sinne K.'s als „Anschauungsformen im Subjekte" zu de- 
finieren; „wobei dann natürlich nicht an präexistente ruhende 
Formen, die wie Gefäße bereit gehalten würden, zu denken 
ist, sondern an Funktionen der Anordnungen des Mannig- 
faltigen der Empfindung, die nur in der Funktion selbst 
Wirklichkeit haben ^)". In seiner „kritischen Stellungnahme 
zu den in der transsc. Ästhetik entwickelten Ansichten^)", 
meint P.: „K. hat Recht, daß Raum und Zeit als Auffassungs- 
funktionen vom Subjekt hervorgebracht, nicht aber von draußen 
,durch Erfahrung' aufgenommen sind." Darnach hätte K. 
in Wirklichkeit aber im Sinne P.'s nicht Recht, denn es ist 
K.'s Meinung keineswegs, daß Raum und Zeit „als Auffassungs- 
funktionen vom Subjekt hervorgebracht" sind, also vom Sub- 



») P. ♦ S. 170. 
2) P. * S. 176. 



— 46 — 



— 47 



III 



jekt aus „spontan" gewirkt werden. Man wird nicht fehlgehen, 
wenn man annimmt, daß P.'s hier gebrauchter Begriff des 
„Subjekts" mit dem von K. in der Dissertation verwendeten 
Begriff des ,. Geistes" gleichzustellen ist, er umfaßt also Sinn- 
lichkeit und Verstand, während dieKritikd.r.V. die spontaneTätig- 
keit und auch den Begriff der „Funktion", der von P. auch 
in Bezug auf die Sinnlichkeit angewandt wird, auf den Ver- 
stand beschränkt^). „Alle Anschauungen als sinnlich, beruhen 
auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen." In der 
Dissertation (§ 15) werden beide „Begriffe" nicht als ange- 
boren bezeichnet, sondern als eine „Tätigkeit des Geistes, die 
alles Wahrgenommene nach festen Gesetzen koordiniert"; 
während K. in der Kritik den rezeptiven Charakter der Sinn- 
lichkeit der spontanen Verstandestätigkeit gegenüberstellt — 
eine Meinung, die P. und Adickes, der im ganzen P.'s Kant- 
auffassung teilt, nicht als die eigentliche und wesentliche bei 
K. anerkennen. Adickes meint ^): Wenn K. in der Sinnlichkeit 
nur eine Rezeptivität sieht im (regensatz zu der Spontaneität 
des Verstandes, so sei das den „Grundsätzen der heutigen 

Sinnes - Physiologie total zuwider , da diese unsere 

Empfindungen nur als Reaktionen unseres Organismus auf 
Eindrücke von außen begreifen kann." Abgesehen davon, 
ob diese Auffassung von Adickes tatsächlich den Grundsätzen 
der modernen Sinnesphysiologie entspricht, hat Adickes leider 
übersehen, daß K. ganz dasselbe nur mit ein wenig andern 
Worten zunächst in Bezug auf die Zeit in einer Anmerkung 
zur 4. Antinomie ausspricht^): „Die Zeit geht zwar als formale 
Bedingung der Möglichkeit der Veränderungen vor dieser 
objektiv vorher, allein subjektiv und in der Wirklichkeit des 
Bewußtseins, ist diese Vorstellung doch nur, so wie jede 
andere, durch Veranlassung der Wahrnehmungen gegeben." 
K. will sich gegen das Mißverständnis schützen, als könnte 
das Subjekt in irgend einem Augenblick die reine Raum- 
und Zeitanschauung tatsächlich ohne Inhalt haben. Auch alle 
physischen Bedingungen des Wahrnehmungsprozesses, der 
ganze physische Organismus, der für die Sinnes-Physiologie 



in Betracht kommt, ist doch als Material der Sinnlichkeit zu 
verstehen, welche nach K. in den rezeptiv, nämlich rein 
empfangend zu Grunde liegenden Formen der Anschauung 
das Objekt der spontanen Verstandestätigkeit vermittelt. — 
Eine petitio principii glaubt Adickes darin entdecken zu 
müssen, „daß wir Empfindungen völlig ungeordnet bekommen 
und selbst erst durch die apriorischen Formen der Sinnlichkeit 
Ordnung in das Chaos bringen", wodurch dann nach Adickes 
eine Spontaneität der Sinnlichkeit zum Vorschein komme ^). 
Ich denke, wenn Adickes das hier vorliegende Verhältnis 
Spontaneität nennen will, so mag er es, nur ist es nicht die- 
selbe „Spontaneität," die K. für die Tätigkeit des Verstandes 
in Anspruch nimmt. Nach K. geben Raum und Zeit als An- 
schauungsformen der Sinnlichkeit vermöge der Synthesis der 
Apprehension dem Verstände Objekte zur Betätigung seiner 
Kategorien — bald dieser, bald jener Kategorien, je nach der 
speziellen Erkenntnis die ihn gerade interessiert — ; die Frage, 
wie der Verstand bald diese, bald jene Kategorie anwenden 
kann, beantwortet K. nicht, sie wäre ein besonderer Gegen- 
stand der Kantkritik — hier liegt nach K. also Spontaneität 
vor, während dort Raum und Zeit als allgemeine Formen der 
Anschauung bereitliegen, in welche alles, was überhaupt als 
Bewußt-Seiendes dem Menschen gegeben ist, eingehen muß. 
Bei der Behandlung der Analytik der Begriffe wirft P. 
die Frage auf, ob Raum und Zeit überhaupt als einzige An- 
schauungsformen von K. erwiesen seien. Nach P. hat K. 
versäumt, eine systematische Vollständigkeit der Anschauungs- 
forraen zu geben^). So viel ich sehe, ist dieser Vorwurf P.'s 
nicht gerechtfertigt; K. schreibt nämlich'^): „Daß schließlich 
die transsc. Ästhetik nicht mehr als diese zwei Elemente, näm- 
lich Raum und Zeit enthalten könne, ist daraus klar, weil alle 
andern zur Sinnlichkeit gehörigen Begriffe, selbst der der 
Bewegung, welcher beide Stücke vereint, etwas Empirisches 
voraussetzen." Damit glaubt K. doch den von P. vermißten 
Beweis gegeben zu haben — ob er genügt, das wäre allerdings 
eine besondere Frage der Kantkritik. 



1) K. Kr. d. r. V. S. 88. 

*) Adickes: Ausgabe der Kr. d. r. V. Anm. zu S. 67. 

») K. Kr. d. r. V. Anm. zu S. 374. 



1) Adickes: a. a. 0. Anm. zu S. 68. 

«) P. * S. 181. 

3) K.: Kr. d. r. V. S. 65. 



— 48 



_ 4Ö - 



!■ 



I, 



Als besonderen Vorteil des transsubjektiven Charakters 
der Sinnlichkeit betrachtet P. die damit verbundene 
„Möglichkeit einer idealistischen Metaphysik." Die Vernunft 
wird in Freiheit gesetzt, sich die Wirklichkeit als Ideen- 
welt, frei von den Schranken von Raum und Zeit, zu kon- 
struieren. Durch das Bewußtsein der Idealität von Ranm und 
Zeit übersieht die Vernunft ihre Lage „und mag einmal die 
Mittel finden» ans Tageslicht der intelligiblen Welt harauszu- 
treten, wenn nicht durch spekulative, so durch praktische 
Ideen geleitet^).** 

Wir haben hier die Konse(iuenz der Paulsenschen Grund- 
tendenz, auf K.'s Schultern und, wie er meint, in seinen FuiJ- 
tapfen eine positive idealistische Metaphysik aufzubauen (!!) 
trotz der vielen gegenteiligen Äußerungen K.'s und vor allem 
trotz des großen Widerspruchs, in dem dieses Unterfangen 
zum Grundgedanken der ganzen Kantischen Gedankenarbeit 
steht! — 

d) Transsc. Analytik der Begriffe. 

Die transsc. Analytik bildet den eigentlichen Kern der 
kantischen theoretischen Philosophie. Die vornehmste Schwie- 
rigkeit dieses Hauptteiles der Kr. d. r. V. glaubt P., indem er 
sich auf Schopenhauer beruft, darin zu finden, daß bei K. 
das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand unklar ge- 
blieben sei. P. formuliert diese Schwierigkeit so: „Findet er 
[der Verstand] die Ordnung in der Zeitfolge als gegeben vor 
oder bringt er sie erst durch seine synthetische Funktion in 
die Empfindungen, die der Sinnlichkeit als ein bloß chaotisches 
Gewühl gegeben sind, hinein? Anders ausgedrückt: Sind die 
empirischen Gegenstände der Anschauung gegeben, oder wer- 
den sie erst durch die Tätigkeit des Verstandes hervorgebracht^)?'* 
Schon in der Fragestellung offenbaren sich die bösen Früchte, 
die P.'s schiefe Auffassung der Ästhetik für seine Behandlung 
der Analytik treibt. Die kantische Antwort lautet meines Er- 
achtens so: Absolut gegeben sind dem menschlichen Erkennt- 
nisvermögen, also der Sinnlichkeit und dem Verstände, nur 



die Affektionen des Dinges an sich, also unangeschaute und 
ungedachte „Empfindungen"; diese werden durch die Sinn- 
lichkeit in einer apriorischen Raumordnung und Zeitfolge an- 
geschaut; und vermöge der Einheit der Apperzeption, die das 
menschliche Erkenntnisvermögen als solches den Tieren gegen- 
über charakterisiert, fallen die in Raum und Zeit angeschauten 
Empfindungen zugleich den apriorischen Begriffen zu, durch 
welche der Verstand spontan Gegenstände erkennt! Die 
Alternative, die wir bei P. aufgestellt finden: „Sind empiri- 
sche Gegenstände der Anschauung gegeben oder werden sie 
erst durch die Tätigkeit des Verstandes hervorgebracht" be- 
deutet in dieser Form gerade die Aufhebung der Kantischen 
Tat, nämlich der transsc. Verknüpfung zwischen Sinnlichkeit 
und Verstand, wodurch eben der Streit der früheren Richtun- 
gen der Metaphysik: des Empirismus und des Rationalismus, 
kritisch geschlichtet werden soll — und nun kommt P. und 
bringt gerade diese beiden Richtungen als ein Entweder — Oder 
an die Kantische Auffassung heran! Seiner Grundtendenz ge- 
mäß, bei K. überall die rationalistischen Elemente aus dem 
Gesamtzusammenhang herauszulösen und sie als die eigentliche 
Meinung K.'s zu proklamieren, deutet er Kants Absicht an 
dieser Stelle rationalistisch um, indem er ihn in der Ästhetik 
darlegen läßt, daß Raum und Zeit nicht als ruhende Formen, 
sondern als Funktionen aufzufassen sind — „"^ie es K. doch 
wilP)" (?) — Funktionen, deren Ausübung dann der Verstand 
gemäß seiner Gesetzmäßigkeit bestimmt. Da hätten wir also 
den receptiven Charakter der Sinnlichkeit aufgegeben und 
Raum und Zeit als spontane „Funktionen" denen des Verstan- 
des an die Seite gestellt. Das ist kein Kantischer, wohl aber 
Schopenhauerscher Gedanke, und weder in der Ästhetik, noch 
in der Analytik findet sich irgend etwas, was ihn rechtfertigen 
könnte. — Naturgemäß muß P. nun, um auch den nicht ra- 
tionalistischen K. zu berücksichtigen, in ihm eine dieser 
eigentlichen Kantischen Auffassung widersprechende An- 
schauung konstatieren, die überall in die erstere hineinbricht 
und seiner Meinung nach große Unklarheit und Verwirrung 
anrichtet : die empiristische Anschaung : „Gegenstände und Kräfte, 



1) P. * S. 176. 
«) P. ♦ S. 178. 



i) P.* S. 178 



— 50 — 



— 51 — 



Zeitfolge und E-aumordnung sind gegeben^)." Schon die Zu- 
sammenstellung kennzeichnet die Unklarheit der eigentlichen Mei- 
nung P's. P. will das, was er meint, ^verständlicher machen durch 
einen Hinweis auf dieselbe Schwierigkeit, die wir bei den 
synthetischen Urteilen a posteriori vor uns haben. An der 
betreffenden Stelle haben wir das hier vorliegende Mißver- 
ständnis P's. dargelegt. 

Allerdings stellen uns K's Kategorien vor eine Alter- 
native, zu deren Beantwortung K. selbst nichts beiträgt: aber 
bei P. tritt sie nicht mit genügender Klarheit hervor. P. als 
Empirist geht von der empirischen Erfahrung aus und fragt: 
„Sind die empirischen Gegenstände der Anschauung gegeben 
oder werden sie erst durch die Tätigkeit des Verstandes her- 
vorgebracht?" Der Kantianer könnte antworten, daß empiri- 
sche Gegenstände der Anschauung erst durch die 
Kategorien aus dem Mannigfaltigen der Anschauung sich er- 
geben. Nicht das Verhältnis der ersteren zum Verstände 
steht also zur näheren Diskussion, sondern das Verhältnis 
zwischen dem Mannigfaltigen der Anschauung und dem Ver- 
stände. Es fragt sich höchstens, welches der Grund sei, 
„daß ich ,das Mannigfaltige der Anschauung' hier unter 
die , Einheit* dos Quantum, dort unter die des Quäle, jetzt 
unter die »Kategorie' der Substanz und ein anderes Mal ein 
Gegebenes unter die der Causalität bringe^)?" Es handelt 
sich in der kritischen Frage, die allerdings tatsächlich an 
dieser Stelle an das Kantische System zu stellen ist, um das 
Verhältnis, welches zwischen bestimmtem „Mannigfaltigen der 
Anschauung" und bestimmten Kategorien bestehe; wodurch 
sich erklären ließe, daß dieses Anschauungsmaterial gerade 
unter diese Kategorien fällt. In der Willkür des Ich kann 
der Grund nicht liegen, da wir selbst von jener Willkür 
nichts wissen; in der gegebenen Anschauung auch nicht, denn 
Anschauung und Begriffe stehen nach K. in völligem Gegen- 
satz zu einander^). 



K. täuscht sich nach P. über das Mangelhafte seiner 
Darlegung durch die dogmatische Form seines Schematismus 
hinweg, während er zu einer „genetischen Untersuchung" nicht 
kommt. Im übrigen komme bei K. „das begriffliche Denken 
mit seiner Form, der Klassifikation, zu kurz; „er sieht nur 
auf die Einordnung in den anschaulichen, räumlichzeitlichen 
Zusammenhang, nicht auf die Einordnung in das begriffliche 
System^)." 

Die Tatsache, die Chamberlain bei K. nicht genug rühmen 
kann^), nämlich daß er völlig dem Goethischen Satz gemäß sein 
System baut : „Alles Denken nützt zum Denken nichts," daß 
er die Anschauung in den Vordergrund seiner Theorie der 
Erkenntnis rückt, das wird ihm also hier bei P. zum Fehler 
angerechnet. Vielleicht aber übersieht P. selbst garnicht, 
daß dieser Vorwurf, den er gegen K. erhebt, noch weitere Gel- 
tung hat; denn eigentlich kommt bei K. sogar nur die räum- 
liche Anschauung in Betracht; bei ihm steht das Auge völlig 
im Vordergrund als der Sinn, der allein ihm Wahrnehmungen 
vermittelt; und das reine Erzeugnis der Sinnlichkeit erhält 
eben bei ihm die Bezeichnung „reine Anschauung." Schon 
in der Wahl dieses Begriffs könnte man die hervorragende 
Bedeutung des Gesichtssinnes bei K. erkennen. Eigentlich 
fallen aber nur die räumlichen Wahrnehmungen unter den 
Begriff „Anschauung," für die zeitlichen wird deshalb bei K. 
noch die besondere Bezeichnung der „inneren Anschauung" ge- 
genüber der räumlichen „äußeren" Anschauung gebildet — 
eine Unterscheidung, die keineswegs auf einem tatsächlichen 
Gegensatz von äußerm und innerm beruhen kann. — Gold- 
schmidt polemisiert gegen P's Ausstellungen an diesem Punkte; 
leider vermissen wir sowohl eine Verteidigung K's, als auch 



») P. * S. 179. 

2) Rehmke: Welt als W. u. Begr. S. 194. 

^) Zu einer scheinbaren Lösung führt Chamberlains „Zwischen- 
gebiet'* zwischen dem Reiche des reinen Verstandes und der reinen 
Sinnlichkeit, welches eben ausgefüllt gedacht wird durch „schematisierte 



Anschauungen" und „symbolische Begriffe", wobei er also annimmt, daß 
wir schon mit den empirischen Gegenständen beides: das Anschauungsmaterial 
gerade in diesen apriorischon Formen gegeben haben ! Abgesehen davon, 
daß bei K. „symbolische Begriffe" nirgends eine Rolle spielen, suchen 
wir gerade ein Verständnis jener Annahme, weshalb K. die Begriffe, die 
immer nur an den Anschauungen erkannt werden, also in ihnen sind, 
völlig von diesen treunt und ihnen sogar eine ganz andere Herkunft wie 
den Anschauungen, nämlich im Verstaude gibt. — 

1) P. * S. 182. 

2) Chamberlain a. a. 0. S. 251 ff. S. 577 ff. S. 580: „Aus der An- 
schauung entstehen für ihn die erkenntniskritischen Probleme". 

4* 



ft 



^ h'2 — 

überhaupt ein Verständnis der von P. gerügten alleinigen 
„Einordnung in den anschaulichen, räumlichzeitlichen Zusam- 
menhang" — was G. anführt, ist lediglich eine Wiederholung 
K's, der wie mir scheint, an dieser Stelle durchaus richtig 
von P. dargestellt und auch an der tatsächlichen Achillesferse 
durch P's Einwurf getroffen ist. 

Nach P. fehlt bei K. ferner „die eigentliche Form des 
begrifflichen Denkens, die systematische Über- und Unter- 
ordnung^)," also die Subsumtion. Dieser Vorwurf P's läßt 
sich nur verstehen unter der Voraussetzung, daü er den 
transsc. Gesichtspunkt K's, dem er nirgends in seiner Darstel- 
lung völlig gerecht wird, wieder einmal aus dem Auge ver- 
loren hat. Das 1. Buch der transsc. Analytik beginnt mit 
dem Satze: „Ich verstehe unter der Analytik derBegriffe nichteine 
Analysis derselben, oder das gewöhnliche Verfahren in philo- 
sophischen Untersuchungen, Begriffe, die sich darbieten, ihrem 
Inhalte nach zu zergliedern und zur Deutlichkeit zu bringen, 
sondern die noch wenig versuchte Zergliederung des Ver- 
standesvermögens selbst, um die Möglichkeit von Begriffen a 
priori zu erforschen." P. sieht nur auf die empirischen 
Gegenstände, welche unter Begriffe subsumiert werden sollen 
und mißversteht infolgedessen das Kantische Unternehmen. 
In der transsc. Logik soll die reine Synthesis der Vorstel- 
lungen auf Begriffe gebracht werden, nicht die Vorstellungen 
selbst, denn dies ist ein Geschäft der allgemeinen Logik^), 
und hier in der allgemeinen Logik, wo K. analytische und 
synthetische Urteile unterscheidet, da haben wir es nur mit 
Subsumtionen zu tun. — Bloße Wahrnehmungsurteile werden 
nach K. zu objektiven Erfahrungsurteilen, wenn in ihnen die 
logischen Urteile der Kategorien den allgemeinen Obersatz 
bilden. Die Subsumtion kann also niemals, wie P. will, auch 
als eine Kategorie in einer Keihe mit den Kategorien stehen, 
denn sie drückt den Charakter aller Kategorien aus, „die 
ihren Ursprung gänzlich a priori im reinen Verstände haben, 
unter die jede Wahrnehmung allererst subsumiert und dann 
vermittelst derselben in Erfahrung kann verwandelt werden^)." 



1) P. * S. 182. 

«) K.: Kr. d. r. V. S. 95. 

») K: Prol. S. 77. 



— 53 — 

Bei der Subsumtion handelt es sich also immer um einen 
empirischen Umfang und nicht um ein transsc. Verhältnis. 

Für das Gesamtproblem der Kr. d. r. V. erblickt P. in 
der Einführung der Kategorien nur eine Tatsache, die geeignet 
ist, „die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Problem ab- 
zulenken^)," nämlich von dem „eigentlichen Problem," welches 
P. dem K. nur zu behandeln gestattet, welches in Wirklichkeit 
aber, wie oben zu zeigen versucht worden ist, das Kantische 
Problem in Unklarheit und in rationalistischer Einseitigkeit 
wiedergibt. Das ganze Schema der Einteilung der Begriffe 
ist für P. eine „Künstelei;" und während Schopenhauer nur 
eine Kategorie beibehält: Die Causalität, möchte P. auch die 
Substantialität nicht missen — wenn überhaupt ein Aprioritäts- 
charaktor angenommen w^orden soll. Goldschmidt'^). glaubt 
P. hier bei einer lukonse(|uenz zu überraschen, weil P. hier 
zwei Kategorien anzuerkennen scheint und später in 
der Behandlung der Analytik der Grundsätze gerade gegen 
die Kategorie der Causalität einen lebhaften Kampf führt. 
Eine aufmerksamere Lektüre der allerdings nicht immer ein- 
wandfreien Darstellung und Ausdrucksweise P's muß uns 
aber überzeugen, daß P. in seiner Kantkritik, also für sich 
selbst, jede Apriorität tatsächlich ablehnt. G. citiert P. ganz 
richtig: „Ich würde noch eine ausnehmen, die Kategorie der 
Substantialität" — P. würde mit diesen beiden Kategorien 
auskommen, wenn er überhaupt einen Aprioritätscharakter 
des menschlichen Verstandes anzunehmen sich gezwungen sähe. 

Der Grund, den P. für die Auswahl dieser beiden Be- 
griffe anführt, ist allerdings geeignet, G's Spott hervorzurufen. 
P. schreibt'*): ,,ln der Tat sind es diese beiden, die K., wenn 
er Beispiele der Kategorien braucht, regelmäßig anführt." 
xlbgesehen davon, daß darin doch kein Beweis zu erkennen 
ist, vielleicht K. selbst sogar den Glauben an eine größere 
Apriorität dieser Kategorien den andern gegenüber zu vindizieren, 
ist diese Beobachtung P's keineswegs unanfechtbar. — Im 
übrigen hätte P. sich auf eine Richtung der modernen Philo- 
sophie berufen können, die das Kantische Apriori an sich 
anerkennt, die Zahl der Kategorien aber auf zwei: Identität 

») P. * S. 180. 
») G. S. 117. 
») P. ♦ S. 181. 



Wl 



i 



— 54 — 

und Causalität beschränkt*). Allerdings besteht hier ein 
wesentlicher Unterschied zu den Kantischen Kategorien: 
während sie getrennt von dem in der Anschauung Gegebenen 
gedacht werden sollen, existieren diese beiden nach Schuppe^) 
„in unserem Bewußtsein nur als Bestimmungen von Gegebenem, 
von etwas, was da identisch oder verschieden ist, und mit 
anderem etwas kausal verknüpft ist." — Die große Schwierig- 
keit eines Verständnisses P.'s an dieser Stelle liegt darin, daß 
er seine Meinung nicht systematisch geäußert hat, so daß wir 
nicht klar erkennen, in welchem Sinne er jene beiden Be- 
griffe aufgefaßt wissen will. Die Verwandtschaft mit Schui)pe 
iällt aber sofort ins Auge; es würde sich nur darum handeln, 
die enge Beziehung zwischen P's Kategorie der Substantiali- 
tät und Schuppes Identität zu erweisen. Bei der ersteren 
handelt es sich meines Erachtens, um mit K. zu sprechen, 
um ein Verhältnis der Inhärenz — also um die in dieses 
Verhältnis gehörige Gruppe der Kantischen Relationsurteile; 
bei Schuppes Identität handelt es sich um Urteile, die durch 
das Verhältnis der Dependenz charakterisiert werden — wel- 
ches schließlich dieselben Urteile sind, und was auf dasselbe 
herauskommt: Die Tasse ist weiß; der Garten ist rechteckig 
etc. sind Urteile, die sowohl P's Kategorie der Substantialität 
wie auch dem Schuppeschen Identitätsverhältnis zufallen. — 
Durch diese Exkursion sind wir nun in die Lage versetzt, P. 
gegen Goldschmidts Vorwurf in betreff dieser Auswahl der 
Kategorien zu verteidigen. G. möchte wissen, in welche der 
beiden von P. anerkannten Urteilsarten P. Urteile wie: „Die 
Winkelsumme im Dreieck ist gleich 2 R," ,,der Montblanc 
liegt 4800 m über dem MeeresspiegeP)" einordnen will. Ich 
glaube, P. würde sie unbedingt zu den Substantialitäts- oder 
identischen Urteilen rechnen, zu denen nach P. überhaupt alle 
mathematischen Urteile gehören, da sie für ihn nur ein logi- 
sches, kein reales Verhältnis ausdrücken*). 

P. vermißt in dem Kantischen Kategorien-Schema „manche 
logischen Formen, die wirklich ontologische Gültigkeit in 



— 55 — 

Anspruch nehmen".^) Den Satz des Widerspruchs, ferner 
Gleichheit, Verschiedenheit, Ähnlichkeit! Die Behandlung 
des Satzes vom Widerspruch fehlt aber in der Kritik keines- 
wegs; er wird als Prinzip der analytischen Urteile^) eingeführt 
und bedingt die Identität unseres Bewußtseins in unsern Be- 
griffen; nach Goldschmidf'^) ist damit dieser logischen Form 
völlig Genüge getan, und ebenso sind seiner Meinung nach 
Gleichheit und Verschiedenheit durch die Kantische Behand- 
lungunter den Reflexionsbegriffen^) als erledigt zu betrachten. — 
Ich bin überzeugt, daß K. P. gegenüber hier den richtigeren 
Standpunkt vertritt, wenn er Verschiedenheit und Gleichheit — 
oder wie er sagt: Einerleiheit, wodurch dann auch das Miß- 
verständnis vermieden wird, als ob es sich um „Gleichheit" 
bei der psychologischen Ideenassociation handelt, Gleichheit 
hat hier vielmehr den Sinn von Identität — nicht unter die 
reinen Verstandesbegriffe rechnet und sie damit erkenntnis- 
theoretisch verwendet, sondern ihnen psychologische Bedeutung 
zuschreibt — allerdings ohne es eigentlich zu wollen und sich 
der Tatsachen, die näher zu erörtern hier nicht der Ort ist, 
bewußt zu werden. Seine Unterscheidung in eine logische 
und eine transsc: Reflexion in Bezug auf diese Begriffe ver- 
liert allerdings schon dann jede Bedeutung, wenn sich seine 
Unterscheidung einer intelligiblen und sensiblen Welt als un- 
haltbar erweist. — Identität und Verschiedenheit tauchen bei 
K. in der Kritik noch einmal auf in der Kritik der spekulativen 
Theologie^). Dort wird Identität durch das logische Prinzip 
der Gattungen postuliert, welchem das der Arten entgegen- 
steht. Hier werden Identität und Verschiedenheit zu regu- 
lativen Ideen: „die Vernunft zeigt hier ein doppeltes, einander 
widerstrebendes Interesse, einerseits das Interesse des Umfangs 
(der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, anderer- 
seits des Inhalts (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannig- 
faltigkeit der Arten." K. nennt den sich hier offenbarenden 
Grundsatz „ein transsc. Gesetz der Spezifikation." — Die 



^) Schuppe: Logik S. 36. 
*) Schuppe a. a. 0. S. 37. 
») G. S. 118. 
*) P. * S. 144. 



1) P. ♦ S. 182. 

«) K.: Kr. d. r. V. 150 ff. 

3) G. S. 118. 

*) K.: Kr. d. r. V. S. 139 ff. S. 141 ff. 

») K. : Kr. d. r. V. S. 510 f. 



— 56 — 

dritte von P. vermißte Kategorie der Ähnlichkeit würde als 
abgeleitete sich aus den beiden andern ergeben. Sie faßt 
Gleichheit und Veischiedenheit in sich und hat ihre eigentliche 
Bedeutung einzig in dem Gesetz des Vorstellens, also in rein 
psychologischen Prozessen. 

In Bezug auf den Grundgedanken der Kantischen Ana- 
lytik unternimmt es G., der Paulsenschen Darstellung ein 
fundamentales Mißverständnis nachzuweisen, indem er bei 
P. eine Verwechslung zweier grundlegender Begriffe entdeckt'). 
P. bezeichnet die Natur ohne erkennenden Verstand angeblich 
mit K.'s Worten als ein „Gewühl von Empfindungen", 
während K. sich richtig ausdrückt „Gewühl von Erscheinungen." 
Meines Erachtens steht dieser Schreibfehler P.'s in keinem 
Verhältnis zu der Bedeutung, die G. ihm beilegt. Schwerer 
wiegt schon eine andere Verwechslung bei P., auf die G. 
aufmerksam macht-). Alle Verbindung des Mannigfaltigen der 
Empfindung stammt aus der spontanen Tätigkeit des Sub- 
jekts^). Vielleicht kann man in diesem Satze P.'s mehr wie 
einen Schreibfehler, sondern schon ein Mißverständnis K.'s 
und eine Reminiscenz an Schopenhauer erblicken. Es muß 
selbstverständlich heißen: Alle Verbindung des Mannigfaltigen 

der Anschauung Dieselbe Verwechslung findet sich 

bei P. noch einmal in der Behandlung der Antizipationen*), wo 
P. der „Empfindung" außer Extensivität auch Intensivität, 
einen Grad, zuspricht; während es sich in AVirklichkeit um die 

Kantische „Anschauung" handelt. P. schreibt im Sinne 

K.'s.^): ,,Daß wir die Wirklichkeit als eine einheitliche, von 
Gesetzen beherrschte Vielheit dauernder Dinge, als ein kosmi- 
sches System anschauen, das ist eine Folge nicht der Konsti- 
tution der Wirklichkeit an sich .... denn die Wirklichkeit 
an sich mit ihrer Gesetzmäßigkeit wandert nicht in unsere 
Vorstellung über, .... es ist vielmehr die Wirksamkeit des 
Verstandes, der seine Einheit und Gesetzmäßigkeit in die ge- 
gebenen Wahrnehmungselemente hineinträgt" Gold- 
schmidt wendet dagegen ein, daß der Rezeptivität der Sinn- 



G. S. 126 f. 

») G. S. 123. 

») P. * S. 183. 

*) P. * S. 184 und « S. 

*) P. * S. 184. 



197. 



— 57 



lichkeit ein transsc. Objekt korrespondiere, das wir notwendig 
„denken". „Wenn unsere Gesetze a priori sich nicht nach 
der Natur als ihrem , Muster' richten, sondern wenn es um- 
gekehrt ist, so ist doch damit nicht geleugnet, daß eben unsere 
»Anschauung' jenes , kosmischen Ganzen' die Folge eines 
transsc. Grundes sei')." Ich sehe nicht, daß P. im Sinne K.'s die 
Überzeugung G.'s leugnet; aber auf das transsc. Objekt 
kommt es an dieser Stelle garnicht an, soudern nur auf die 
Ursache der Gesetzmäßigkeit der Natur; oder will G. andeuten, 
daß wir in dem transsc. Objekt die Ursache zu suchen haben 
für die vom Aprioritätsstandpunkt so schwer zu beantwortende 
Frage, weshalb diese bestimmten ,, Anschauungen" sich gerade 
diesen bestimmten Kategorien unterordnen? 

K. gibt in der l. Auflage der Kritik eine ausführliche 
„psychologische oder subjective Deduktion" der Verstandesbe- 
griffe, die dann nach P. in der 2. Aufl. in den Begriff der 
„produktiven Einbildungskraft" zusammengezogen ist^j. K. gibt 
als Ursache dieser Änderung an, jene Deduktion sei entbehrlich 
und das Buch würde mit ihr zu voluminös werden; P. wittert 
andere Gründe: K. wollte der heiklen und mißverständlichen 
Erörterung über den „transsc. Gegenstand" „ausweichen;" „auch 
die innere Unentschiedenheit über die Grenzen der Wirksamkeit 
des Verstandes in Bestimmung der Sinnlichkeit mochte ihm 
drückend sein^)." Auf eine nähere, beweiskräftige Erörterung 
dieser Behauptungen läßt P. sich nicht ein. Adickes und 
Vaihinger sind der Meinung, daß K. durch Auslassung der 
subjektiven Deduktion den Gedanl:engang der Transscendental- 
Philosophie fester geschürzt habe. — Vielleicht kann man 
noch weiter gehen: K. hat eine Erörterung ausgeschaltet, die 
ihrem eigentlichen Wesen nach in einer erkenntnistheoretischen 
Untersuchung nicht am Platze ist. P. bezeichnet sie richtig 
als den „Versuch, den Hergang der Bestimmung der sinn- 
lichen Anschauung durch den Verstand zu beschreiben^)." 
Wenn aber von solchem „Hergang", also von einer zeitlichen 
Aufeinanderfolge einzelner Prozesse in dem in Frage stehenden 
Erkenntnisgange geredet werden kann, so würden wir K. wieder 



1) G. S 281.. 

2) P. * S. 185. 

3) P. * S. 187. 
*) P. * S. 185. 



— 58 — 



59 — 



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^ 






bei einer Vermischung der logischen und der realen Zerlegung, 
der erkenntniskritischen und der psychologischen Betrachtungs- 
weise überraschen — was K. in der 2. Aufl. besonders ver- 
meiden vvilP). Als Resultat jener Krürterungen ergibt sich 
der Nachweis, daß wir vermöge der transsc. Funktion der rei- 
nen Kinbildungskraft das Mannigfaltige der Anschauung mit 
der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen A[>perception 
in Verbindung setzen-). Diese Verbindung geht nach der 
1. Aufl. in einer dreifachen Stufenfolge vor sich: durch die 
Sinnlichkeit, die Einbildungskraft und die Apporception — also 
drei im Sinne K.'s rein transsc. aufzufassende Vorgänge, die 
P. als eine Reihe zeitlich aufeinanderfolgender Einzel[)rozesse 
betrachtet; und sicher nicht ganz ohne Grund. Dadurch ent- 
wickelt sich ihm ein Gegensatz zwischen der „psychologischen 
und subjektiven Deduktion" einerseits und der metaphysischen 
und transsc. andererseits. Goldschmidt folgert daraus^) eine 
völlige Unkenntnis auf Seiten P.'s in betreff des Kantischen 
Unterschiedes zwischen Erkenntniskritik und Psychologie. 
Da würde sich zunächt die Frage erheben, ob es in Wirk- 
lichkeit nur einen Gegensatz und eine feste gegenseitige 
Abgrenzung der Erkenntnistheorie und der Psychologie gibt 
oder ob K. für sich eine besondere in Anspruch nimmt, und 
in der Tat offenbart K.'s prinzipieller Standpunkt ein ganz 
neues Verhältnis zwischen psychologischer und erkenntnis- 
kritischer Betrachtung. Während Demokrit-Berkeley die Seins- 
frage aus dem Verhältnis des einzelnen Menschen zur 
Außenwelt zu lösen suchten, handelt es sich bei Descartes 
schon um das einzelne bestimmte Bewußtsein, welches 
zu der ihm gegenüberstehenden Welt auch den eigenen 
Leib gehörig betrachtet. Bei K. schließlich haben wir 
den Gegensatz von „Bewußtsein überhaupt" und der 
Welt, seinem Objekt schlechthin. Während die grundlegende 
psychologische Schwierigkeit dieses Standpunktes für G. nicht 
vorhanden ist, nämlich, wie die an sich seiende Welt dieses 
„Bewußtsein überhaupt" anders als in der konkreten Existenz 
eines Einzelbewußtseins affizieren kann — wo dann also von 



1) S. Anmerk. 3 zu S. 59. 
'^) K.: Kr. d. r. V. 133. 
») G. S. 129. 



vornherein eine psychologische Beziehung bestände — sucht 
G. die sonstigen psychologischen Elemente in der Kritik zu 
erklären: K.'s Untersuchungen seien „gleichsam noch mit den 
Eierschalen der ersten immer analytisch (regressiv) vor- 
gehenden Überlegung behaftet^)." „Sie zeigen uns den Weg, 
den die Gedanken des Philosophen selbst gegangen sind-)." 
Meines Erachtens wird man bei näherer Untersuchung schwer- 
lich zu dem Resultate kommen, daß jene offenbar psycholo- 
gischen Elemente in dieser Deduktion nur auf Rechnung 
der flüchtigen Darstellung K.'s zu setzen sind; sie liegen 
vielmehr im Wesen seiner ganzen Erörterung selbst^). 

Von hier aus verstehen wir P. am besten, wenn er einen 
Bruch in K's transsc. Deduktion^) konstatiert und ihn entweder 
nach der Seite des Rationalismus oder des Empirismus über- 
wunden wissen will. Nach K. können nur die Gesetze, auf 
denen eine Natur überhaupt als die Gesetzmäßigkeit der Erschei- 
nungen in Raum und Zeit beruht, aus dem reinen Verstandes- 
vermögen entwickelt worden; während besondere Gesetze, 
welche empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, davon 
nicht abgeleitet werden können ; Erfahrung muß hinzukommen, 
um ihre Gesetzmäßigkeit kennen zu lernen. P. fragt sich mit 
Recht, wie das zu verstehen ist, da doch alle Verbindung 
aus dem Verstände kommen soll, also Verbindungen der 



V) G. S. 129. 

<!) G. S. 130. 

^) Übrigens ist dies nicht die einzige Stelle, wo die Erinnerung 
an den eigenen Weg der Entdeckung K. verieitet, die streng transsc. 
Darstellung durch psychologische Erwägungen zu unterbrechen und zu 
trüben. Man vergleiche Kr. d. r. V Einl. zur II. Aufl. S. 647. Am Be- 
ginn des Abschnitts scheint es, als ob unser reines Erkenntnisvermögen 
durchaus unabhängig von der Erfahrung in uns aufgefunden werde. In 
Wirklichkeit ist K. der Meinung, daß nicht nur der apriorische Charakter 
des Erkenntnisvermögens selbst, sondern auch die Erkenntnis dieser 
Apriorität von der Erfahrung unabhängig sei (siehe K. a. a. 0. und 
Adickes a. a. 0. Anm. S. 87 f.) - trotzdem spricht er am Schluß jenes 
Abschnitts von der Übung, deren es bedarf, bevor wir zu jener Ab- 
sonderung geschickt gemacht werden! — 

Kr d. r. V. S. 86 sagt K. ferner, die Begriffe liegen in ihren 
ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstände „vorbereitet" 
„bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt und durch 
eben denselben Verstand, von denen ihm anhängenden empirischen Be- 
dingungen befreit, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden." (! !) — 

*^ P. ♦ S. 189. 



i 



II 



— 60 — 

Erscheinungen nach Regeln, die aus der Sinnlichkeit kommen, 
nicht möglich sind. Es kann kein Zweifel sein, daß hier 
tatsächlich der transsc.-dualistische Gesichtspunkt K. 's versagt, 
wenn K. den Ursprung empirischer Gesetze in die Sinnlich- 
keit verlegt, zugleich aber alle Gesetzmäßigkeit und Vorbindung 
der Spontaneität des Verstandes und der Einbildungskraft 
zuschreibt. Wenn auch der kantische Widerspruch offenbar 
ist, so läßt P.'s Alternative zusehr die vorwiegend psychologisch 
„historisch-genetische" Auffassung jenes transsc. Verhältnisses 
von Seiten unseres Verfassers erkennen, w^ährend im Sinne 
K.'s und der Kantianer der eine vorliegende Erkenntnisprozeß 
transscondental zerlegt wird in die Synthosis der Apprehension 
und die transsc. Synthesis der Einbildungskraft. 

Für K. ist auch tatsächlich keine Seite der Paulsen- 
schen Alternative annehmbar. Den Eationalismus anzuneh- 
men hindert ihn die Setzung des Dinges an sich, und dem 
Empirismus steht die reine Anschauung entgegen, und da- 
mit die vorausgesetzte Allgemeinheit und Notwendigkeit der 
Mathematik und der mathematischen Wissenschaften. 

Goldschmidt bemerkt mit Recht, daß wir es hier mit 
dem fundamentalen Gedanken der ganzen Kritik zu tun haben*): 
„Was den Gegenstand formal bestimmt, können wir a priori 
erkennen, was ihn zu diesem bestimmten Objekt macht, das 
müssen wir ihn wohl oder übel selbst fragen." „Der Ver- 
stand gibt das Gesetz, die Erfahrung den Fall, der unter ihm 
steht^)." Das ist in der Tat der Kantische Gedanke, durch 
den er die Möglichkeit der gesetzmäßigen Erfahrung erwiesen 
zu haben meint: „Wenn K. immer wieder betont, daß es em- 
pirische Gesetze ohne Verstandesgesetzo nicht geben könne, 
so kann er nicht zu dem allen Tatsachen Hohn sprechenden 
Ergebnis gelangen, daß der reine Verstand empirische Ge- 
setze hervorbringen sollte'^)." Die Conclusio dieses Satzes ist 
nicht klar. Wenn der Verstand die Bedingung aller Gesetze 
ist, so muß er die Gesetze — selbstverständlich nicht den ma- 
terialen Inhalt auch — hervorbringen; wenn nicht, wo ist 
dann die Grenze zu ziehen zwischen den Gesetzen, deren Be- 



— ei — 

dingung er ist und den „empirischen Gesetzen?" Zu einem 
Resultat kann man hier nicht gelangen, und zwar liegt das 
an dem willkürlich konstruierten Gegensatz zwischen „be- 
stimmten Beobachtungen" und „allen Beobachtungen"; 
zwischen empirischen Gesetzen und reinen Gesetzen. Nach 
G. schließt das eine das andere nicht aus, „im Gegenteil" ; 
als „Beweis" (?) beruft sich G. darauf, daß „die Schärfe dieser 
Trennung und eine Einsicht in die Abstraktion selbst und 
ihre Bedeutung von der Urteilskraft, von dem Judicium dessen 
abhängt, der sie vollzieht*)".! 

„Zur Ermittlung des Gravitationsgesetzes ge- 
hören bestimmte Beobachtungen, ohne die man es ebenso- 
wenig hätte aufstellen können, als ohne mathematische Erkenntnis, 
der die objektive Wirklichkeit gemäß sein muß. Vor aller 
Beobachtung aber muß u. a. das Causalgesetz gedacht sein-)." 
Es fragt sich, ob ein solcher Gegensatz zwischen bestimmten 
Beobachtungen und allen Beobachtungen tatsächlich vorhanden 
ist. Sind nicht alle Beobachtungen auch bestimmte? Sind 
„alle Beobachtungen" etwas qualitativ anderes als einzelne 
„bestimmte Beobachtungen," so daß wir vor ersteren etwas 
Apriorisches annehmen müssen, wodurch die letzteren dann 
zu empirischen Gesetzen werden? Das was allen Beobach- 
tungen vorangehen muß, um auf einzelne und bestimmte an- 
gewandt zu werden, das kann doch analog dem logischen 
Verhältnis von „allen" zu „einzelnen" vorgestellt werden, also 
als eiiifache logische Überordnung und wäre dann durch alle 
empirischen Beobachtungen gegeben, brauchte also nicht als 
apriorisch dem Verstand zugeschrieben werden. — Übrigens 
ist OS immer noch fraglich und von G. keineswegs klargestellt 
worden, was denn das heißen soll, die Kategorien müssen 
als allen Beobachtungen vorhergehend gedacht werden. Wir 
haben bei K. 12 Kategorien; geht nun jede derselben allen 
Beobachtungen voraus? Dann hätten wir also eine zwölf fache 
Vorwegnahme der Synthesis der Anschauung im Verstände; 
das aber ist nicht der Fall, wie die flüchtigste Beobachtung 
zeigt. Die zwölf Kategorien teilen also „alle Beobachtungen" 
unter sich, jede bekommt einen bestimmten Ausschnitt — 



G. S. 131. 
») G. S. 134. 
3) G. S. 135. 



») G. S. 135. 
«) G. S. 137. 



— 6-2 — 

dann ist aber nicht zu verstehen, in welchem Sinne „u. a. das 
Causalgesetz" vor allen Beobachtungen nach G. vorhergehen 
soll. Ijetzteres ist in Wirklichkeit auch keineswegs der Fall; 
es sind auch nur bestimmte Beobachtungen, die wir nach dem 
Causalgesetz verknüpfen — lange nicht alle der zeitlichen 
Aufeinanderfolge allein. Zur Ermittlung des Gravitationsge- 
setzes gehören einzelne bestimmte Beobachtungen und zur 
Entdeckung des Causalgesetzes führten auch einzelne Beob- 
achtungen, wenn auch in bei weitem größerer und klarer zu 
Tage tretender Zahl, da die Geltung des letzteren Gesetzes 
eine viel umfangreichere ist, wie die des ersteren. G. eifert 
dagegen, daß es möglich sei, die Gravitation sich a priori zu er- 
denken; — das zu behaupten fällt P. aber garnicht ein, er 
geht auf die andere Seite des Problems aus, nämlich auf die 
empirische Begründung des Causalgesetzes. Es fehlt bei G. 
überhaupt nicht an mancherlei Mißverständnissen P.'s. Ebenso- 
wenig z. B. wie obiges zu behaupten, ist es P. eingefallen an- 
zunehmen, der Verstand habe in Galilei und Newton das Cau- 
salgesetz in die Welt gebracht^) ! ! — eine Behauptung, gegen 
welche G., wenn sie wirklich aufgestellt wäre, nicht mit Un- 
recht energisch zu Felde ziehen mußte. Aber G. zitiert P. falsch 
und mißversteht ihn. P. schreibt'^): „Wie der Verstand in 
Galilei und Newton für die unendliche Mannigfaltigkeit der in 
Ilaum und Zeit gegebenen Fallbewegungen eine Formel ge- 
bildet hat, wodurch sie begriffen werden können, so hat er 
[nämlich doch der Verstand überhaupt, nicht wie G. P. ver- 
steht: der Verstand in Galilei und Newton] auch das Causal- 
gesetz nicht als ein absolut reines und starres Verstandes- 
gesetz in die Welt gebracht sondern es an und für die in 
der Wahrnehmung gegebenen räumlich-zeitlichen Vorgänge 
gebildet". Die ganze hierauf bezügliche Erörterung G.'s ist 
also gegen Luftgespenster gerichtet. 

e) Transsc. Analytik der Grundsätze. 

Über P's Behandlung der Analytik der Grundsätze bleibt 
nicht mehr viel zu bemerken übrig. Sie ist größtenteils 



— 63 — 

schon bei der Analytik der Begriffe erledigt, und besonders 
Goldschmidts Polemik beschränkt sich gänzlich auf die Analj^tik 
der Begriffe, nimmt hier aber auch alle Einwände P.'s gegen 
die Kantische Behandlung der Grundsätze vorweg. 

Nach P. handelt es sich in der ganzen Analytik um^) 
„die apriorische und zugleich objektive Gültigkeit von Urteilen, 
nämlich gewisser allgemeinster Sätze der Naturwissenschaft." 
Der Nachsatz ist geeignet, ein Mißverständnis aufkommen zu 
lassen, welches wir zum Beispiel in Cohens Kritik des Paul- 
senschen Buches finden. Er rügt, daß bei P. nicht das Urteil 
das Mittel sei, Grundsätze aufzufinden, sondern die Sache selbst. 
Diese aber sei nach K. nicht nur in den Urteilen, sondern 
auch in den Bedingungen der Sinnlichkeit, die dem Urteile 
vorausgehen, enthalten; und ferner führen die Urteile noch 
garnicht unmittelbar, sondern erst „über die Leichname der 
Kategorien hinweg" zu den Grundsätzen; beide „sind nur 
Futter für die Grundsätze^)." In Wirklichkeit trifft dieser 
Vorwurf nicht P.'s Meinung, wohl aber seine unklare und 
mißverständliche Darstellung. P. faßt die Grundsätze 
durchaus nicht als einfache logische Urteile, sondern als das 
transsc. Analogen jener Urteile^). — Ahnlich mißverständlich 
in Bezug auf diese Frage ist eine Stelle in dem Abschnitt über 
die Methode der kritischen Philosophie^): „Behauptet K. mit 
Recht, daß die Grundsätze der reinen „Naturwissenschaft" 
in demselben Sinne rationalen Charakter haben wie die Sätze 
der reinen Mathematik oder der formalen Logik?" In Wirk- 
lichkeit behauptet K. das garnicht, denn er ist es gerade, der 
den irrationalen Faktor, nämlich die sinnliche Beobachtung in 
der reintn Naturwissenschaft betont. Mit Eecht hebt Cohen^) 
hervor, daß P. mit dieser Gegenüberstellung: Mathematik und 
Logik auf der einen Seite — und Physik auf der andern das 
ganze Problem umgehe. Es mischt sich an dieser Stelle wie 
auch sonst bisweilen in P.'s Kantdarstellung sofort der 
eigene Gesichtspunkt unseres Verfassers hinein; welcher 
jener Gegenüberstellung gemäß Erkenntnisse rein logischer 



1) G. S. 138. 
P. * S. 190. 



1) P. * S. 180. 

») Cohen : „Nation" 1899 No. 43, 44, S. 623. 

3) P. Anm. zu S. 139 f. 

♦) P. * S. 215. 

») Cohen a. a. 0. S. 623. 



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— ß4 — 

und realer Art unterscheidet, und wie wir oben sahen, die 
Mathematik zur ersten Art zählt. 

Nach P.^) haben wir infolge des Kantischen Schematismus 
,, eigentlich 2 Kategorientafeln, eine rein begriffliche und eine 
sensifizierte, eine rein logische und eine reale." Letztere hat 
Gültigkeit für die Erscheinungswelt. „Die logischen Kategorien 
haben Gültigkeit für alle Dinge, die überhaupt Gegenstand 
des Denkens werden können, also auch für die Dinge an sich 
selbst; und das ist der ältere und im Grunde stärkere Ge- 
dankengang." Wie P. mit dieser letzten Behauptung seine 
Auffassung der Kantischen Philosophie als agnostizistischen 
Monismus'-) vereinen will, ist nicht einzusehen. Letzteren de- 
finiert P. folgendermaßen: „Kürperwelt und Bewußtseinswelt 
verschiedene Formen des an sich Wirklichen, das wir nicht 
erkennen, aber als einheitliches und gleichartiges voraussetzen 
können." Was bedeuten aber die Worte „Einheitlichkeit" und 
„Gleichartigkeit" in Bezug auf eine unerkennbare Wirklichkeit 
an sich? Und ferner entsteht die frage: Setzt K. nun die 
Einheitlichkeit und Gleichartigkeit des an sich Wirklichen 
nur voraus, wenn er sie doch nach P. denken kann? Der 
Unterschied, der so häufig im Sinne K.'s zwischen „erkennen" 
und „denken" gemacht wird, kommt hier wenig in Frage; 
wie aber denkt P. sich hier den Unterschied zwischen „denken" 
und ., voraussetzen?'* — Nach P. hängt die Auffassung, daß 
K. die Dinge an sich durch die Kategorien zu denken glaubt, 
mit K.'s „metaphysischer Ichlehre'* zusammen, deren Behandlung 
durch P. uns noch zu beschäftigen hat^). 

Wie wenig P. dem Schematismus und den Grundsätzen 
eine selbständige Stellung und Vermittlung zwischen Ästhetik 
und Analytik zuerkennen will, resultiert aus seiner Meinung, 
der eigentliche Platz der Behandlung der Axiome der An- 
schauung sei die Ästhetik; die Axiome seien nur in die Ana- 
lytik verlegt (!), weil K. für den Titel der Quantität in der 
Kategorientafel keinen geeigneten Inhalt fand*). Der Kantische 
Schematismus wird von P. überhaupt sehr stiefmütterlich be- 



-. 65 — 

handelt und zwar ganz in dem Sinne, den wir bei Adickes 
finden, dessen Kantüberzeugung mit der P.'s mannichfAche 
Berührungspunkte zeigt. Nach Adickes wird die hier vor- 
liegende Schwierigkeit — Synthesis der empirischen Anschau- 
ungen unter reine Verstandesbegriffe — erst von K. geschaffen 
und zwar der Urteilskraft wegen ^). Die parallele Behandlung 
der Transsc. -Philosophie zur Logik verlangte, daß auch der 
Urteilskraft ein Abschnitt in der transsc. Logik korrespondiere. 
Für die Unmöglichkeit des Schematismus führt Adickes an: 
„Wo wegen Ungleichartigkeit eine Subsumtion nicht statt- 
finden kann, da kann sie auch nicht vermittelt werden", „man 
kann doch nicht sagen, man subsumiere zwei Pakete, welche 
man zusammenbindet, unter einen Bindfaden." Der letzte 
Grund für diese Auffassung von Adickes liegt in dem psycho- 
logischen Element, welches unbestreitbar der Trennung in 
rezeptive Sinnlichkeit und spontane Veratandestätigkeit bei 
K. zu Grunde liegt, obwohl er nun als tatsächlich vorliegend 
nur eine untrennbare Verknüpfung — schematisierte Begriffe 
oder symbolische Anschauungen — anerkannt wissen will, 
die nur erkenntnistheoretisch in jene beiden Faktorn zerlegt 
werden soll — also nicht real in dem Sinne, daß von einer 
tatsächlichen Seinsverknüpfung im Sinne von Adickes die Rede 
sein könnte. Nach K. sind dann die Schemata nicht nur so 
und so viele Arten Bindfaden, sondern das empirisch Gegebene, 
so wie es uns tatsächlich vorliegt-)^). 



P. * S. 194. 

2) Paulsen: Einl. in d. Philos. » S. 62. 

3) P. * S. 195. 

*) r. * s. lor,. 



») Adickes: Ausgabe d. Kr. d. r. V. Anm. zu S. 171. 

«) Der ablehnenden Haltung von P. und Adickes dem Schematis- 
mus gegenüber nimmt sich die zentrale Position, welche diesem Kanti- 
schen Gedanken bei Chamberlain zugewiesen wird, eigenartig aus. Er 
sucht die „trans.sc. Verknüpfung" scharf herauszuarbeiten und bemüht 
sich um die genaue Feststellung der Schnittlinie zwischen der Sinnlich- 
keit und dem Verstände. Zwischen diesen beiden äußersten Enden 
unsers Erkenntnisvermögens entdeckt er ein Zwäschenreich: die Mathe- 
matik, wenn dieses Zwischen reich in subjektiver Beziehung, — 
die Zeit, wenn es in objektiver Beziehung bestimmt wird. Die Ma- 
thematik offenbart uns eine anschauliche Seite, die aber in der Arithmetik 
doch nach der Seite des Verstandes gerichtet ist, und eine gedankliche 
Seite, die sich nach der Richtung der Anschauung wendet, in der Geo- 
metrie. In der ersteren haben wir das Schema, in der letzteren das 
Symbol (Vergl. K. : Kr. d. r. V. S. 551 : die Algebra ist eine symbolische 
Konstruktion!) — Nur in der Mathematik sind wir nach Ch. befähigt, 



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^ 66 — 

Am eingehendsten ist naturgemäß P.'s Behandlung der 
Analogieen der Erfahrung. Gegen das Kantische Grundgesetz 
der Substantialität wendet P. ein^): das Beharrende, welches 
alle Zeitbestimmung voraussetzt, brauche nicht absolut kon- 
stant zu sein, für die irdische Zeitbestimmung genüge die 
relative Beharrlichkeit der Bewegungen des Planetensystems. 
„Ein Uhrzeiger, dessen Spitze 100000 Jahre brauchte, um 
1/100000 eines Millimeters fortzuschreiten, stände für uns 
still." Ebensowenig ist es uns möglich und für uns not- 
wendig, den Satz: „Die Masse der Materie bleibt konstant" 
allgemeingültig und notwendig zu beweisen. Der Satz ist 
vielmehr nach P. nur eine „axiomatische Präsumtion," die 
aber völlig ausreiche! Barth wendet gegen diese Ausführungen 
P.'s ein 2): In den Bewegungen der Himmelskörper seien diese 
doch selbst beharrlich. Die Gleichmäßigkeit der Bewegung 
sei zur Messung wohl nötig; zur Erkenntnis der bloßen Folge 
genüge aber, daß die Zustände an einem und demselben Be- 
harrenden sich vorfänden. — Meines Erachtens ist in dem 
Sinne aber auch die Beharrlichkeit der Himmelskörper selbst 
immer nur relativ; denn auch sie entstehen und vergehen, 
befinden sich also in fortwährender Bewegung! 

„das Symbol in das Schema und das Schema in das Symbol restlos um- 
zusetzen" (S. 216). 



Schema: (a-f b)-i=a--f 2ab-|-b'^ Symbol: 



a- 



ab 






b^ 



(Ch S. 217). 



In objektiver Beziehung aber füllt die Zeit dieses Zwischengebiet aus; 
wir haben dann die Zeit als Bewegung im Schematismus nach der 
Seite der Kategorien, der Stammbegriffe, und die Zeit als Dauer im 
Symbolismus nach der Seite des Raumes, des Ausgedehnten (Ch. S. 201 ff.). 
Das Schauen wird dadurch als die eigentliche I]rkenntnismethode K.'s 
proklamiert: bewegt das Auge sich, so erhalten wir Gestalten, vSymbole, 
die sich schlieÜlich auf ein einziges Symbol, den Baum zurückführen 
lassen; bewegen die Gegenstände sich, so erhalten wir Zahlen, Schemen. — 

3) Barth: Kantstudien Hl, S. 230 ff. wirft die Frage auf, weshalb 
die Zeit und nicht der Raum von K. als reines Schema der VersUndes- 
begriffe angenommen werde. Ihm scheint der Grund darin zu bestehen, 
daß die Zeit einem reinen Verstandesbegriffe näher komme, und er zitiert 
für diese seine Meinung eine Stelle aus der Dissertation von 1770: (§ 15) 
„Tempus autem universali atque rationali conceptui magis propinquat, 
complectendi omnia omnino suis respectibus, nempe non sunt uti cogi- 
tationes animi." — 

') P. * S. 199 f. 

2) Barth: Kantstudien IH, S. 22G. 



— 67 — 

Als wichtigsten Gedanken des Grundgesetzes der Caü- 
salität betrachtet P. die Unterscheidung des subjektiven Vor- 
stellungsverlaufes von dem objektiven Ablauf der Erscheinungen; 
während K. ^) aber „die subjektive Folge der Apprehension 
von der objektiven Folge der Erscheinungen ableiten" will, 
behauptet P. das Gegenteil): „Der Verstand ist es, der die 
Gesetze der Mechanik findet und formuliert, aber doch nicht 
durch reine immanente ,transsc. Logik', sondern auf Grund 
gegebener und beobachteter Folge in der Zeif Von hier 
aus versteht sich dann von selbst, daß P. nur eine präsumtive 
Gültigkeit des Causalgesetzes anerkennen will. Schon in der 
Formulierung des Gesetzes macht sich der grundlegende 
Unterschied zu dem strengen Kantianer Goldschmidt be- 
merkbar. G. gebraucht die Formel: „Jedes Geschehen setzt 
ein anderes Geschehen als Ursache voraus" oder „die sich 
bietende Veränderung (die Wirkung) ist mit einer Ursache 
notwendig zu verknüpfen ^j". In beiden Formeln kommt der 
Begriff der Ursache selbst wieder vor, wir haben es also nur 
mit Umschreibungen des Causalgesetzes zu tun. P. drückt 
den Causalsatz so aus: „Dieselben Erscheinungen haben regel- 
mäßig dieselben Erscheinungen zur Folge ^)". Da tritt uns 
sofort der empirische, aposteriorische Charakter des Gesetzes, 
den P. nur anerkennt, deutlich entgegen. Er faßt das Causal- 
gesetz häufig als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, m 
welcher Gestalt es allerdings für unsere Zeit seine vollendetste 
Formulierung erhalten hat. Denkt P. das Causalgesetz aber 
immer sofort in seiner allgemeinen empirischen Gestalt, dann 
läßt sich seine Behauptung, daß es fortgesetzter Verbesserung 
fähig ist, wohl verstehen; und wenn G. erklärt^): „Wer für 

möglich erklärt, daß das Causalgesetz veränderlich ist, 

der hebt damit die Einheit des Verstandes in dem Inbegriff 
der Erfahrung und damit den objektiven erkennenden Verstand 
selbst auf;" — so können wir dem beistimmen, insofern damit 
der apriorische Charakter eines im letzten Grunde psychologisch 
vorgestellten Verstandes gemeint ist. Lassen wir aber diese 

1) K.: Kr. d. r. V. S. 184. 

«) P. * S. 203. 

3) Goldschmidt S. 13-4. 

*) P. * S. 204. 

-M G. S. 139. 
^ 5' 





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-^ 68 — 

Voraussetzung fallen, so wird G.'s Behauptung haltlos. P. 
meint, wenn er von einer Veränderlichkeit des Causalgesetzes 
spricht, stets nur die immer bleibende Möglichkeit, ein nur 
als präsumtiv in dieser Gestalt anerkanntes Gesetz, präziser 
und schärfer zu formulieren — nicht das Gesetz selbst ist 
demnach veränderlich, sondern seine Formulierung. — An 
anderer Stelle^) weist G. auf die Unmöglichkeit und den 
Innern Widerspruch der „Skepsis'*, wie er P.'s Auffassung 
mehrfach bezeichnet, hin; und er meint, in der „Skepsis" 
werde immer ein gesetzmäßiger Verstand vorausgesetzt, der 
doch auch zur Wirklichkeit gehöre. — Diese Bemerkung ist 
wiederum nur verständlich unter der Voraussetzung, die eben 
bei K. und demnach bei G. immer zu machen ist, nämlich 
eines psychologischen Gegensatzes zwischen einem mit Apri- 
oritätscharakter ausgestatteten Verstände und einer ihm ob- 
jektiv-absolut gegenüberstehenden Welt an sich. Von beiden 
kommt etwas, das in dem, was wir Erfahrung nennen, sich 
in transsc. Verknüpfung offenbart. In jener ,,Ske])sis" wird 
keineswegs, wie G. meint, ein gesetzmäßiger Verstand voraus- 
gesetzt; soweit letzteres bei P. dennoch geschieht — und es 
ließen sich eine Menge Belege dafür auffinden — soweit hat 
er sich selbst von jenem psychologischen Gegensatz nicht 
freigemacht, der vielmehr in seiner Auffassung noch die be- 
denklichere Form annimmt, daß bei ihm ein leerer, durch 
keine Kategorien charakterisierter Verstand der em[)irischen 
Welt gegenüberstehen soll. — Wird nun wirklich die Physik 
aufgehoben, „wenn man ihre Bedingungen im Erkenntnisver- 
mögen antastet ^'j"? Den Physiker interessiert doch nur die 
gegebene Welt der „Erscheinungen", die sich ihm als unter 
letzten allgemeinsten Begriffen, wie Causalität etc. stehend, 
offenbart. G. vergleicht einen Erkenntnistheoretiker, „der 
nicht von vornherein Erkenntnis und in ihr einen vielleicht 
zunächst noch unbestimmten Anteil des Subjekts" anerkennen 
will mit einem Physiker, ,,der die Natur des Gewitters be- 
stimmen will, ohne daß diese Erscheinung jemals beobachtet 
worden wäre^)". Wo ist da das tertium comparationis? Etwa 
das tatsächliche Gegebensein einerseits des Gewitters vor seiner 

1) G.: f. Arsch, yst. Ph. V, 1899, S. 295. 
») G.: Arch. f. syst. Ph. V, 1899, S. 294. 
3) G. a. a. 0. S. 296. 



— 69 — 

Beobachtung und andererseits einer Erkenntnis — und in ihr 
ein vielleicht noch unbestimmter Anteil des Subjekts — vor 
der Aufstellung einer Theorie der Erkenntnis? Sicherlich 
müssen vorhandene einzelne Erkenntnisse selbst jeder Theorie 
der Erkenntnis überhaupt voraufgehen, warum aber auch ein 
Anteil des Subjekts in denselben? 

In der p]rörterung des Causalsatzes kommt P. schließlich 
zu dem Resultat: Das Causalgesetz^) ,,ist die letzte axioma- 
tische Voraussetzung, womit die Wissenschaft an ihr Werk 
geht, aber nicht ein starres Apriori-Besitztum, sondern in der 
Arbeit an gegebenem Material gebildet" — eine Auffassung, 
die man an sich vielleicht gelten lassen kann; aber ob sie 
,, im Grunde auch Kants Anschauung ist, nur daß die Angst vor 
dem Skepticismus Humes ihn hinderte es auszusprechen," das 
scheint mir, ganz abgesehen von der Unbestimmtheit, die 
noch in dem „im Grunde" P's steckt, nicht nur zweifelhaft, 
sondern unrichtig. Denn K. faßt gerade die Erfahrung selbst 
als ein Produkt aus dem Anschauungsmaterial der Sinnlichkeit 
und den Begriffen des Verstandes, den Kategorien, zu denen 
auch die Causalität gehört, die also nach ihm völlig und rein aus 
dem Verstände und nicht aus dem gegebenen Material stammt. 

P. fügt zu der Erörterung des Causalgesetzes selbst noch 
eine Behandlung von K.'s Ansicht über den Inhalt des Causal- 
verhältnisses hinzu^). Es handelt sich bei der Causalität der 
Erscheinungswelt überall nur um eine Gesetzmäßigkeit der 
Folge in der Zeit, nirgends um Wirkung. Diese letztere ist 
den Dingen an sich und der intelligiblen Causalität vorbehalten, 
die einer ,,logisch-teleologischen Notwendigkeit" untersteht. 
Wird man auch den ersten Teil dieser Paulsenschen Bemerkung 
anerkennen können, so erscheint der zweiten, auf die Causalität 
der intelligiblen Welt bezüglichen Hälfte gegenüber größte 
Vorsicht geboten; Es liegt im innersten Interesse P.'s überall 
bei K. diejenige Deutung seiner Gedanken herauszulesen, auf 
die er dann seine Konstruktion einer positiv-dogmatischen 
Metaphysik K.'s stützen kann. — 

Eine Bemerkung P.'s über den Gesamtcharakter der 
synthetischen Grundsätze führt uns zu einer Erörterung des 



1) P. ♦ S. 200. 

2) P. ♦ S, 207. 




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— 70 — 

'Verhältnisses, in dem nach P. die Prolegomena zur Kr. d. r. V. 
stehen. P. möchte die synthetischen Grundsätze aus dem 
Kategorien-Schema herausgelöst wissen und den Axiomen die 
Überschrift geben: Transsc. Deduktion der Mathematik. An- 
ticipationen und Analogien sollten dann zusammengefaßt 
werden als Transsc. Deduktion der reinen Naturwissenschaft, 
denen die Postulate als allgemeine Anmerkung gegen realistischen 
Rationalismus und dogmatischen S[)ritualismus zu folgen hätten. 
„Das ist das Schema, wie es K. selbst dem Vortrag der 
Prolegommenen zu Grunde gelegt hat^)." — 

Allerdings gehören in den Proleg. Anticipationon und 
Analogien unter der von P. vorgeschlagenen und von K. in 
den Prol. auch tatsächlich angewandten Überschrift zusammen; 
in der Kritik dagegen bemüht K. sich gerade, die aus dem 
Ursprung der Grundsätze sich ergebenden engen Zusammen- 
hänge zwischen den Axiomen und den Anticipationen einerseits, 
den Analogien und den Postulaten andererseits aufzudecken. 
Erstere sind konstitutiv, letztere dagegen regulativ^). Diese 
Erörterung offenbart deutlich das schon mehrfach erwähnte 
Mißverständnis P.'s über die Methode, die K. einerseits in der 
Kritik, andererseits in den Proleg. verfolgt. Dort geht er 
analytisch-regressiv vor, gibt also eine Entwicklung der transsc. 
Philosophie aus der allgemeinen Logik; in den Proleg. ist 
seine Methode synthetisch-progressiv, er geht hier also von 
den vorliegenden Tatsachen selbst aus: Also nicht K. verwirrt 
die Probleme, sondern P. selbst, indem er diese beiden Wege 
der Kantischen Darstellung nicht auseinanderhält — obwohl 
er selbst an anderer Stelle den Unterschied der Kritik von 
den Proleg. im Anschluß an K. richtig bestimmt^). 

In P.'s Buch folgt nun die Behandlung der Phänomena 
und Noumena, der Amphibolie der Reflexionsbegriffe und 
der Methode der kritischen Philosophie. Soweit diese Unter- 
suchungen von Belang sind, habe ich sie an früheren Stellen, 
besonders im I.Abschnitt über K.'s Rationalismus, in Betracht 
gezogen! — 



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») P. ♦ S. 195. 

'') K.: Kr. d. r. V. S. 172 f. 

') P. ♦ S. 243. 



71 



f) Transsc. Dialektik. 

In der Behandlung der Kantischen Dialektik scheint P. 
der eigentlichen Aufgabe einer ,, Darstellung" am nächsten zu 
kommen den andern Kapiteln seines Buches gegenüber. Wir 
gewinnen hier einen tatsächlichen Begriff von dem, was K. 
gewollt und dargelegt hat — einen Begriff, der im einzelnen 
allerdings noch manchen Widerspruch hervorruft. — 

Die von K. behauptete Beziehung zwischen der Dialektik 
und der Schlußlehre wird von P. geleugnet. Sie entspringe 
nur dem Schematismus, in den der Versuch, die Ideen als 
notwendige Erzeugnisse der menschlichen Vernunft darzustellen, 
verstrickt sei. P. möchte die Probleme der Dialektik für sich 
allein behandelt wissen; sie entstehen nach ihm dadurch, daß 
die Vernunft, über alles Einzelne und Relative hinausgehend, 
notwendig den Begriff des Absoluten schafft und so zu den 
Kantischen Ideen gelangt^). 

Goldschmidt möchte wissen, wie der Verstand dazu 
komme, über sich hinauszugehen und welchen tatsächlichen 
Ursprung die Ideen haben, wenn eben nicht die logischen 
Funktionen des Urteils und die Verstandesbegriffe. Man 
könnte hier G. gegen ihn selbst ins Feld führen: an früherer 
Stelle hat er verschiedentlich gegen P.'s Auffassungen geäußert^), 
P. habe nicht die Pflicht, eine eigene Lösung der Probleme 
zu geben, wenn er die Kantische nicht anerkenne. — Im 
übrigen ist G.'s Frage, wie denn der Verstand dazu komme, 
über sich hinauszugehen, psychologischer Natur. K. glaubt 
den Ursprung der dialektischen Probleme entdeckt zu haben, 
indem er sie zu denjenigen Kategorien in Beziehung setzt, „in 
welchen die Synthesis eine Reihe ausmacht und zwar der 
einander untergeordneten (nicht beigeordneten) Bedingungen 
zu einem Bedingten^)'*. — 

P. glaubt in dieser Entdeckung eine Täuschung K.'s 
erblicken zu müssen. G.'s Versuch, P. zu widerlegen und zur 
Anerkennung des Kantischen Gedankens zu zwingen, erschöpft 
sich in vielfachen Variationen des Satzes: Alle Erkenntnis 
steigt auf von den Sinnen zum Verstände und findet ihren 



») P. * S. 220. 

2) G. S. 170. 172. 

») K. : Kr. d. r. V. S. 342. 



— 72 — 

Abschluß in der Vernunft. Einen Beweis gibt er nicht und 
kann er nicht geben, weder für den Gedanken des A priori 
überhaupt, noch für einzelne seiner Teile — es sei denn die 
Möglichkeit der Erfahrung, aber sie kommt liier bei den Ideen 
nicht in Betracht! — 

P.'s Darstellung der „rationalen Psychologie" bedarf 
nach G. einer Ergänzung. Besonders scheint ihm P.'s Be- 
merkung, die sich auf die Unmöglichkeit, von einer Substanz 
des Seelenwesens zu reden, bezieht^), der Verbesserung dahin 
notwendig, daß trotzdem auf die Beharrlichkeit seines Daseins 
in der Zeit geschlossen werden darf. Ich kann nicht ent- 
decken, wo P. sich des hier gerügten Mißverständnisses 
schuldig macht; in dem von G. zitierten Satze doch sicher 
nicht: „Der Begriff der Substanz ist gebildet für die An- 
schauung der materiellen Welt; hier hat der Satz von der 
Beharrlichkeit der Substanz seine bestimmte Bedeutung: die 

Masse der Materie bleibt dieselbe. Zur Aufstellung 

eines gleichartigen Satzes gibt das Feld der innern, seelischen 
Vorgänge auf keine Weise Veranlassung; der Satz: die Sub- 
stanz des Seelenwesens ist der Quantität nach unveränderlich, 
ist ein Satz ohne allen Sinn^)." Daß P. damit „die Beharr- 
lichkeit seines [des Seelenwesens] Daseins in der Zeit^) leugnet, 
kann ich nicht finden, insbesondere, da er selbst dann fort- 
fährt: „Die Einheit des Selbstbewußtseins ist eine lediglich 
funktionolle", so deutet er hier die Beharrlichkeit, nämlich 
die nur in der Einheit der Seelenfunktionen bestehende P]in- 
heit und Identität der Seele, in numerisch verschiedenen Zeit- 
punkten an. 

Leider vermissen wir bei P. jede kritische Bemerkung, 
zu der K.'s Ausführungen doch hier an vielen Stellen Stoff 
bieten z. B. da, wo er von der Subreption spricht, auf welche 
sich die irrtümlichen Probleme über das Verhältnis von Körper 
und Seele beziehen. — 

Wir kommen zu P.'s Behandlung der Kantischen Antino- 
mien oder der rationalen „Kosmologie." P. erkennt die Probleme 
als „wirkliche, echte" an, bedauert aber ihre Einordnung in 



1) P. * S. 223. 

2) P. ♦ S. 223. 

3) a. S. 175. 



— 73 — 

das aus den 4 Klassen der Kategorien sich ergebende System 
der Ideen. G. fragt^): „Wie stehen die Probleme zu jenen kosmo- 
logischen Ideen in Beziehung?" P. behauptet: garnicht! sie sind 
in das System hineingezwängt und zwar durch Teilung des 
ersten, des Unendlichkeitsproblems, in zwei: Idee der Welt- 
schöpfung und Idee des notwendigen Wesens. P. lehnte vorhin 
die Analytik, nämlich das System der apriorischen Kategorien 
ab und erkennt hier die dialektischen Probleme in der noch 
nicht systematisierten Art an, wie sie ihm direkt vorzuliegen 
scheinen. Er tritt von empirischer Seite an die Probleme der 
Vernunft heran, und da ist sein Standpunkt genau so konsequent 
wieder G.'s, welcher von der Analytik heikommend die Ideen 
sofort in der Kantischen Beziehung zu dem Kategorienschema 
auffaßt und behandelt. Eine andere „Beziehung" zu geben 
ist P. keineswegs verpflichtet, handelt es sich bei ihm doch 
um „kritische", nicht um „dogmatische Einwürfe^)" 

G. geht an anderer Stelle^) in seinem Vorwurf gegen P. 
noch weiter. Da P. die Kategorien nicht anerkennt, so dürfe 
er auch die Lösung der Antinomien nicht gelten lassen; P.'s 
Standpunkt offenbare einen unberechtigten Eklektizismus. — 
In Wirklichkeit aber erkennt P. die Antinomien als kosmo- 
logische Ideen, die sich aus dem Schema der Kategorien er- 
geben, nicht an, sondern nur die empirisch gegebenen Probleme, 
die dann von K. jenem Schema eingeordnet sind. Was nun 
K.'s Lösung anbetrifft, so gilt die Paulsensche Anerkennung 
derselben nur sub specie der Kantischen Transsc.-Philosophie. 
Wenn P. sagt: „In der Tat wird das die einzig mögliche 
Lösung dieser Probleme sein^)", so fährt er doch später fort: 
„Sind sie [Raum und Zeit] nur in den Funktionen der Syn- 
thesis wirklich, so verliert die Frage ihre Bedeutung, für den 
Verstand, nicht auch für das anschauliche Denken, 
was auch K. nicht behauptet." — Für den Kantischon Stand- 
punkt ist die Lösung also gegeben, aber nicht für das an- 
schauliche, mithin empirische Denken, worauf P. aber allein 
hinauswill. G.'s Vorwurf richtet sich nicht gegen P.'s Meinung, 



1) G. S. 177. 

2) K.: Kr. d. r. V. S. 237. 

3) G. S. 178. 
*) P. ♦ S. 231. 



— 74 — 

wohl aber gegen P.'s durchaus nicht klare und einwandfreie 
Darlegung. 

G. rügt mannichfache Schreibfehler und Irrtümer P/s in 
der Einzeldarstellung. Der erste ist berechtigt und in spätem 
Auflagen von P. verbessert worden^). 

Zu einer 2. Änderung des ihm von G. vorgeworfenen 
Irrtums in betreff des regressus in infinitum oder indefinitum 
hat P. sich nicht verstanden. P. schreibt-): „Raum und Zeit, 
die Körper und Bewegungen in ihnen, und so die Causalreihe 
sind nicht etwas absolut F]xistierendes, sie sind nur Er- 
scheinungen." Sicherlich ist das K.'s Meinung. „Wie jede 
Zahl in indefinitum teilbar ist, so jeder Raum und jede Raum- 
erfüllung." Dieser Satz dagegen enthält Wahres und Falsches 
im Sinne K.'s; wie sich schon ergibt, wenn man ihn mit K.'s 
Definition des umstrittenen Unterschiedes zwischen infinitum 
und indefinitum zusammenhält: K. schreibt^): „Wenn das 
Ganze in der empirischen Anschauung gegeben worden, so 
geht der Regressus in der Reihe seiner innern Bedingungen 
ins unendliche; ist aber nur ein Glied der Reihe gegeben, 
von welchem der Regressus zur absoluten Totalität allererst 
fortgehen soll: so findet nur ein Rückgang in unbestimmte 
Weiten (in indefinitum) statt." Letzteres ist bei dem Raum 
selbst der Fall — hier haben wir also einen regressus in in- 
definitum*). Ersteres aber gilt für jede Raumerfüllung, nämlich 
für jeden Körper oder wie K. sagt „einer zwischen ihren 
GrenzengegebenenMaterie^).*' Wenn nun fernerP. in derCausal- 
reihe einen regressus und einen progressus in indefinitum aufgege- 
ben findet, so ist das nur für den regressus richtig") für den pro- 
gressus kommt die Unterscheidung garnicht in Betracht; sie 






In der 1. Aufl. formuliert P. die Frage der Antinomie: „Ist die 
Welt in Zeit und Raum endlich oder nicht?" (P. » S. 213). In den 
späteren Auflagen schreibt er richtig: „Ist die Welt in Zeit und Kaum 
endlich oder unendlich?" (P. * S. 228). 

2) P. * S. 230 f. 

>) K.: Kr. d. r. V. S. 415. 

*) K. : a. a. 0. S. 420 f. 

») K.: a. a. 0. S. 415. 

«) K.: a. a. 0. S. 416. 



— 7b — 

ist „eine leere Subtilität," denn nach K. ist es gleichgültig 
zu sagen : „Verlängert sie [eine garade Linie] so weit ihr wollt" 
oder „ihr sollt niemals aufhören sie zu verlängern^)." — Gold- 
schraidts Vorwurf geht insofern zu weit, als er nur einen 
progressus in infinitum anerkennen will gegenüber P.'s pro- 
gressus in indefinitum; was doch nach K. beides auf dasselbe 

hinauskommt. 

P.'s Darlegung der einzelnen Antinomien ist sehr kurz 
und gibt nur die allgemeinsten Umrisse der Probleme. G.'s 
Einwendung gegen diese Darstellung ist aber trotz der Weit- 
schweifigkeit geringfügig und wiederholt nur schon häufig 
von ihm Gesagtes; zum Teil trifft sie auch erst P.'s Darlegung 
einer positiven Metaphysik K.'s, die noch zubehandeln ist^). — 

In der Darlegung der „rationalen Theologie" K.'s meint 
P.. K. hätte sich mit dem bloßen Hinweise begnügen können: 
zur Realität gehört, Gegenstand möglicher Erfahrung zu sein 
oder in der Anschauung gegeben sein zu können, und 
daß solche Realität natürlich nur Einzeldingen zukom.nen 
könne, nicht aber dem Inbegriff aller Denkbarkeit, nämlich 
Gott^). K.'s Kritik der drei Beweisarten ist nach P. nur 
nebensächliche Zugabe, die eigentlich in der Kr. d. r. V. 
ganz am unrechten Platz ist. P. vergißt, daß es bei kritischen 
Einwürfen sich stets einzig um die Kritik der Beweisarten 
handelt, während dogmatische p]inwürfe, die K. für sich aber 
ablehnt, auf die Bestimmung des umstrittenen Gegenstandes 
selbst sich beziehen. Jene von P. vermißten notwendigen 
Folgerungen aus der Analytik in Bezug auf den Gottesbegriff 



1) K. a. a. 0. S. 414. 415. 

2) Ein wichtigerer Einwurf findet sich bei Barth (a. a. 0. S. 232): 
P. sei zuweit gegangen in der Behauptung, daß die Thesen der ideahs- 
tischen, die Antithesen der materialistischen Richtung entsprechen, deren 
Vertreter in der antiken Philosophie Plato und Epikur seien. Barth will 
mehr den Gegensatz des anschaulichen und des begrifflichen Denkens 
in jener Gegenüberstellung finden. In den Thesen haben wir nach ihm 
„Data des unmittelbaren, innerhalb der Anschauung sich haltenden Ver- 
standes;" in den Antithesen „Ergebnisse des die logischen Axiome un- 
beschränkt anwendenden Geistes, den K. Vernunft nennt." - Meines 
Erachtens hat aber die Paulsensche Gegenüberstellung vor dieser letzteren 
den Vorzug größerer Klarheit und Anschaulichkeit, wenn sie auch, wie 
Barth zeigt, nicht streng durchgeführt werden kann. 

») P. * S. 233. 



— 76 — 

hat K. gleich zu Beginn seiner Untersuchung gezogen^). Er 
zeigt dort, daß „durch reine Verstandesbegriffe .... gar 
keine Gegenstände können vorgestellt werden". „Die Ideen 
sind aber noch weiter von der objektiven Realität entfernt, 
als Kategorien", „aber noch weiter als die Ideen scheint das- 
jenige von der objektiven Realität entfernt zu sein, was ich 
das Ideal nenne". Von dieser letzten „transsc. Idee" schreibt 
er dann: „Die Vernunft legte sie nur als den Begriff von aller 
Realität der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt 
zum Grunde, ohne zu verlangen, daf3 alle Realität objektiv 
gegeben sei und selbst ein Ding ausmacht. Dies letztere ist 
eine bloÜe Krdichtung^^)". Die Erörterung des Gottesi)roblems 
als Konsequenz aus der Analytik fehlt also bei K. durchaus 
nicht, hier in der Dialektik aber stehen die von P. als neben- 
sächlich bezeichneten Behandlungen der Gottesbewei^e gerade 
im Mittelpunkt des Interesses. P. unterscheidet nun zwischen 
empirischer und intelligibler Realität. — K.'s Ablehnung des 
ontologischen Beweises soll nach P. nur auf empirischem 
Boden Gültigkeit haben. K. stelle Gott mit Talern in eine 
Reihe! — also mit empirischen F]inzelwesen, und dann sei 
es freilich leicht, die Absurdität des ontologi.schen Beweises 
auszumachen — während die intelligible Realität Gottes durch 
K.'s Ablehnung des Beweises garnicht berührt werde! — Man 
wird diesen Einwand P.'s nur richtig verstehen unter seiner 
Voraussetzung einer Denkbarkeit der Dinge an sich, die bei 
ihm — vermeintlich im Sinne K.'s — leider sehr häufig zu 
einer Art tatsächlicher Erkennbarkeit der intelligiblen Welt 
wird. Die wirkliche Kritik des ontologischen Beweises muß 
nach P. zeigen, „daß der Begriff einer Einheit aller ideellen 
Realität innerlich unmöglich sei." Von dem Begriff hängt 
bei ihm alles ab; ist der unmöglich d. h., nach P., ist er 
nicht denkbar, dann ist der ontologische Beweis unrettbar ge- 
richtet. Hier wären gegen P. alle Einwendungen zu wieder- 
holen, die man gegen eine Kantauffassung geltend machen 
muß, welche eine Denkbarkeit [= Erkennbarkeit] der Dinge 
an sich behauptet. 



1) K.: Kr. d. r. V. S. 451 ff. 
*) K.; Kr. d. r. V. S. 460. 



— 77 - 

G. läßt nur einen Boden gelten für das, „was sich theo- 
retisch als Beweis ausgibt')." Er weist auf den Satz des 
Widerspruchs hin'"^): im Begriffe des Allerrealsten liegt der 
der Existenz nicht, folglich entsteht kein Widerspruch, wenn 
man sie verneint. Nach P. aber soll eben die Möglichkeit 
des Begriffs eines allerrealsten Wesens erst nachgewiesen 
werden — und zwar verlangt er einen Begriff aller ideellen 
Realität, deren Denkbarkeit nach reinen Kategorien für ihn 
der nervus rerura ist. Die wirkliche Differenz zwischen P. 
und G. besteht also inbetreff des Begriffs der Realität; P. 
kennt zwei Realitäten, G. nur eine! — Mit vollem Recht aber 
weist G. darauf hin, daß Gott von K. keineswegs in eine Reihe 
mit Talern gestellt werde; es handelt sich nur um eine Analogie 
von Urteilen, aber nicht von Sachen! 

P.'s Kritik der Kantischen Widerlegung deskosmologischen 
Beweises beschränkt sich auf die Wiederholung der Bemerkung: 
Sie habe nur auf empirischem Boden Gültigkeit. Eigentlich 
hätte er dann aber diesen Einwurf auch auf den dritten, den 
physiko-teleologischen Beweis ausdehnen müssen, denn dieser 
letzte hängt nach K. aufs engste mit dem kosmologischen 
zusammen, und beide enden schließlich im ontologischen 

Beweis. — 

Ein schon oft wiederholtes Charakteristikum — um 
nicht zu sagen Mißverständnis — der Paulsenschen Darstellung 
und Kritik begegnet uns hier wieder: P. geht überall von den 
empirischen Tatsachen aus, während K.'s Gegenstand die 
Vernunft war. Nur von hieraus läßt sich erklären, warum 
P. der Meinung ist, der physiko-teleologische Beweis gehöre 
„eigentlich'* nicht „in eine Kritik der Versuche der reinen 
Vernunft, die Wirklichkeit a priori zu konstruieren" weil 
er von empirischen Daten ausgehe'^). Da scheint P. nicht 
bemerkt zu haben, daß auch der kosmologische Beweis mit 
der Empirie zu tun hat, und der Unterschied zwischen beiden 
besteht nur darin, daß bei dem ersten bestimmte empirische 
Daten in Frage kommen, während bei dem letzten es sich um 
das empirisch Gegebene überhaupt handelt. Das eigentliche 



1) G. S. 185. 

2) G. S. 187. 

3) P. * S. 236. 



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— 78 - 

Wesen der Kantischen Transsc.-Philosophie kommt in P.'s 
Darstellung niemals zu seinem Recht; es gibt für P. überall 
nur ein Entweder — Oder: entweder a priori-rationalistisch 
oder a posteriori-empirisch. — — 

g) Kants „Uetaphysik^j". 

Als 2. Teil der theoretischen Philosopliie K.'s läßt P. 
der Behandlung der Erkenntnistheorie diejenige der Meta- 
physik folgen. Freunde und Gegner des Paulsenschen Buches 
sind darin einig, dafi in der liebevollen Behandlung dieser in 
gewissem Sinne von P. neu entdeckten Seite der Kantischen 
Philosophie die Haupteigentümlichkeit der Paulsenschen Kant- 
darstellung überhaupt liegt: nämlich K. nicht von der Kr. d. 
r. V. aus aufzufassen, sondern auf Grund seiner gesamten 
Denkernatur, die sich nach P. am klarsten in seinen meta- 
physischen Überzeugungen offenbart. Nicht aber nurP. 's Gegner, 
auch Heman, der dem Paulsenschen Buch sehr günstig gegen- 
übersteht, äußert schwere Bedenken gegen P.'s Konstruktion 
einer positiven Kantischen Metaphysik^). Seiner Meinung nach 
brauchen wir auch nicht auf eine Metaphysik der Zukunft 
im Sinne K.'s zu warten, da alles, „was auf Grund der 
Kantischen Erkenntnistheorie sich an metaphysischen Grund- 
sätzen über Gott, Welt und Menschensoele aufstellen und ent- 
wickeln läßt'S schon von Ritschi und seiner Theologenschnle 
aufgezeigt sei. 

Uns beschäftigt hier zunächst die fundamentale Auf- 
fassung der Kantischen Philosophie überhaupt: Ist sie Meta- 
physik? und wenn nicht, in welchem Verhältnis steht sie zur Me- 
taphysik? P. betrachtet die Transscendental-PhiIoso[)hie als eine 
Substruktion der darauf sich erhebenden Kantischen Metaphysik; 

*) P. legt der Behandlung der Kantischen Metaphysik die von 
Pölitz 1821 herausgegebenen Colleghefte über K.'s Metaphysik zu Grunde. 
Heman (a. a. 0. S. 275) weist auf die Unzulänglichkeit der Pölitzschen 
Hefte hin und erkennt in ihnen eine Überarbeitung, in welcher kritische, 
negative Partien gestrichen sind. Ein gut Teil der positiven, dogmatischen 
Ausführungen P.'s werden daher auf Kosten dieser ungenauen Quelle zu 
setzen sein, was sich im einzelnen nachweisen läßt, wenn man die 
Pölitzschen Hefte mit den von Heinze veröffentlichten Stücken aus dem 
handschriftlichen Nachlaß selbst vergleicht. 

^) Heman: Zs. f. Philos. u. philos. Kr. l i i. ili. 



-^ 79 — 

zu deren systematischerDarstellungK. nicht mehr gekommen sei. 
Demgegenüber bemerkt Goldschmidt^): „Das metaphysische 
Urteil tritt uns schon überall da nahe, wo die Wirklichkeit 
selbst allgemein beurteilt wird wofern wir von Gegen- 
ständen irgend welche Prädikate aussagen, so ist die Frage: 
welche von diesen Prädikaten sind an das Verhältnis zum 
Subjekt gebunden, welche nicht? Welche Prädikate kommen 
den Dingen an sich zu^)?** „Ist die Kritik vom ersten bis 
letzten Blatt Erkenntnistheorie, so ist sie vom Anfang bis 
zum Knde zugleich Metaphysik, der alle apriorische Erkenntnis 
mit Ausnahme der Mathematik zugewiesen wird.** G., der an 
diesen Stellen wie so häufig das zu Beweisende immer vor- 
aussetzt, nämlich die Richtigkeit der ursprünglichen Gegenüber- 
stellung : erkenntnistheoretisches Subjekt und objektive Außen- 
welt und ferner das selbstverständliche Vorhandensein apriorischer 
Erkenntnis, erblickt im (regensatz zu P. in K.'s Transscendental- 
Philosophie zugleich eine Metaphysik. P. konstruiert einen 
Zwiespalt zwischen K., dem P^rkenntnistheoretiker und K., 
dem Metaphysiker^). Beide sind „nicht zu vollständiger Aus- 
gleichung gekommen*)". Ich glaube, zu einem großen Teil 
wird man diesen von P. hier bloßgelegten Zwiespalt auf P.'s 
irrige Auffassung zurückführen können, den Primat der prak- 
tischen Vernunft im Sinne der Kantischen Philosophie doch 
durch irgend eine Hintertür auch in die erkenntnistheoretische 
Behandlung einzuführen und zu Gunsten einer positiven Meta- 
physik zu verwerten. Die praktische Vernunft vereint sich bei 
P. mit der spekulativen Vernunft in der Dialektik und kon- 
struiert eine positive letzte und höchste systematische Einheit 
nach Zweckgedanken^), welche sich dann bei P. im Gegensatz 
zu K. als die eigentliche Insel der Wahrheit im Ozean voll 
Dunst und Nebelbänken erweist; wogegen eben K. die mensch- 
liche Erkenntnis gerade an das anschaulich Gegebene als ein- 
zigen Gegenstand der Erkenntnis verweist. Das anschaulich 
Gegebene, die „Erscheinung", ist nach der Paulsenschen In- 
terpretation bloß eine Nebelbank, „die über dem mundus 



») G. S. 2. 

2) Goldschmidt: Arch. f. syst. Phil. V, 1899, S. 286. 

3) P. « S. 188. 
♦) P. * S. 259. 
') P. ♦ S. 257 f. 



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— 80 — 

intelligibilis liegt und dessen Umrisse in unserer Sinnlichkeit 
auf gewisse Weise wiederspiegelt, ganz wie bei Plato die sinn- 
liche Welt die Ideenwelt in getrübten Bildern darstellt^)". 
Diese von P. richtig gezogene Konsequenz, daß K., wenn die 
metaphysische Auslegung des mundus intelligibilis richtig ist, 
sich restlos als Platoniker entpuppen müßte, hätte P. von 
einer so willkürlichen Konstruktion einer Kantischen Meta- 
physik abhalten müssen, wenn K. auch nicht selbst noch seine 
Beziehungen zu Plato in so klarer und zutreffender Weise 
dargelegt hätte^). 

P.'s Darlegung der Kantischen Metaphysik selbst schließt 
sich insofern dem Gedankengang der Dialektik naturgemäß 
an, als er von dorther die Grundprobleme der Meta[)hysik 
herübernimmt: Gott, Unsterblichkeit und Willensfreiheit. 

Ich werde mich im Folgenden auf die Erörterung einiger 
kritischen Bemerkungen unsers Autors beschränken; die meisten 
der von P. hier noch einmal aufgeworfenen Fragen haben ihre 
Erledigung schon bei der Behandlung der Dialektik und düs 
formalistischen Rationalismus in K.'s Philosophie erhalten. P.'s 
Darlegung selbst ist sehr weitschweifig und mit häufigen 
Exkursionen in die historischen Beziehungen K.'s zu seinen 
Vorgängern, besonders zu Plato und Spinoza durchsetzt. Man 
wird in dem Hervortreten dieser beiden eine Konsequenz der 
Paulsenschen Gesamtauffassung erblicken müssen, nach 
welcher der formale Rationalismus der Kern des Kantischen 
Systems ist. 

In der Behandlung der Kantischen transsc. Dialektik 
lesen wir bei P.^): „Seine [Kants] kritische Fragestellung: wie 
kann die Vernunft a priori die Wirklichkeit erkennen? schließt 
prinzipiell jede auf die konkrete Gestalt der Wirklichkeit ein- 
gehende Betrachtung von vornherein aus. An sich wird 
freilich die Frage: ob denn nicht Metaphysik a posteriori 

möglich sei , als eine durchaus vernünftige gelten 

müssen." G. hält P. einen durch Sperrdruck hervorgehobenen 
Einwand entgegen*): „Wir haben von demselben Schriftsteller 



1) P. * S. 260. 

2) K.: Kr. d. r. V. S. 38. 
») P. * S. 2:37 f. 

*) G S. 189. 



— 81 — 

erfahren, daß das synthetische Urteil a posteriori eine contra- 
dictio in adjecto bedeutet. Was ist nun Metaphysik a pos- 
teriori?" Der Einwurf ist wohl nicht so schwerwiegend. 
Allerdings hätte P., wenn er sich der Kantischen Terminologie 
bedient, Metaphysik „a posteriori" in Anfangs- und Schluß- 
striche setzen sollen. Im übrigen aber spricht er sich klar 
darüber aus, was er unter Metaphysik a posteriQri verstanden 
wissen wilP): „Von den Erscheinungen aus zu philosophieren", 
„Inter[)retation der den Sinnen gegebenen körperlichen Welt 
aus dem eigenen Innenleben"; und nach der vorhin bezeich- 
neten Stelle ist diese Metaphysik eine Beantwortung der Frage 
nach Wesen und Konstitution der Wirklichkeit „auf Grund 
der gesamten Erfahrungserkenntnis, wenn nicht in apodiktischen 
Sätzen, so doch in begründeten Ansichten." Die sich hierauf 
beziehenden Einwürfe G.'s, ob diese Metaphysik ein Wissen 
oder ein Nicht- Wissen sei, mit welcher Art Wirklichkeit wir 
es hier zu tun haben, was P. unter „begründeten Ansichten" 
versteht etc., bleiben allerdings in vollem Umfange bestehen. 
P. behandelt als erstes metaphysisches Problem das onto- 
logisch-psychologische und vertritt die Meinung, K. habe die 
„aktualistische Seelentheorie" neu begründet — eine Über- 
zeugung, die er dann für seinen eigenen Voluntarismus und 
die Beziehungen desselben zu K. nutzbar macht 2): „Die Seele 
ist nicht ein totes Substrat, nicht eine starre Substanz nach 
Art der Atome, sondern reine Energie, lebendige Tätigkeit 
des Erkennens und Wollens. — Auch diese Gedanken dürfen 
als dauernde Errungenschaften der Philosophie bezeichnet 
werden. In jüngster Zeit beginnt auch die aktualistische 
Theorie vom Wesen der Seele, nach vorübergehender Ver- 
dunklung, wieder hervorzutreten." Der oben erwähnten 
Kantischen Auffassung des Ich als Ding an sich hängt K. 
nach P.3) „immer noch etwas von der alten Seelen-Substanz 
an." Dem gegenüber ist Erich Adickes, sonst in Bezug auf 
die Kant-Auffassung P.'s Anhänger, der Meinung, daß K. 
immer an der Substantialität der Seele nach Art von Leibnitz' 



1) P. ♦ S. 263. 
») P. * S. 416. 
») P. * S. 266. 



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— 8'2 — 

Monaden festgehalten habe: die Seele gehe bei K. nicht im 
Seelenleben, in einzelnen psychischen Prozessen auf ^). Meines 
Erachtens tritt uns in der Kr. d. r. V. die Seele als erkennbar 
nur in den psychischen Vorgängen entgegen. Andererseits 
fällt aber die Seele als das dem Menschen zu Grunde liegende 
Ding an sich unter K.'s Auffassung der Dinge an sich über 
haupt, nach welcher er sich wohl positive „Privatmeinungen 
über dieselben erlaubt, aber keine wissenschaftlichen Über- 
zeugungen. P. dagegen, der in der Dissertation von 1770 
den eigentlich Kantischen Standpunkt niedergelegt finden will, 
betrachtet auch die dort geäußerten metaphysischen Erörte- 
rungen über den mundus intelligibilis als die immer in Kant 
vorherrschende Gedankenströmung. In Bezug auf den mundus 
intelligibilis erhebt er sich sogar zu der kühnen Behauptung, 
daß K., „wenn die Sache auf entweder — oder gestellt wäre, 
eher als den mundus intelligibilis jene agnostizistischen Ten- 
denzen der Analytik und Dialektik hätte fahren lassen ^j" — 
eine Auffassung, die nicht im geringsten gerechtfertigt ist. 
Wenn P. aber hier in dem Ich als Ding an sich nur ein nicht 
Ernst zu nehmendes Rudiment einer alten, von K. selbst über- 
wundenen Anschauung erblickt, so kommt P. in einen Wider- 
spruch zu seiner sonst immer an der Dissertation von 1770 
orientierten Kantauffassung, die gerade auf eine starke Beto- 
nung der intelligiblen Welt bei Kant hinauslief; dann scheint 
also an dieser Stelle die alte metaphysische Ansicht K.'s auch 
nach P. nicht die richtige und immer vorherrschende zu sein! 
Wir kommen endlich zur Erörterung des meta[)hysischen Pro- 
blems der Willensfreiheit. Von den zwei Bedeutungen, die K. der 
Willensfreiheit beilegt: praktische und transscendentale Freiheit, 
möchte P. nur die erste anerkennen. Nach K. hat die prak- 
tische Freiheit die transscendentale zur notwendigen Voraus- 
setzung. P. aber meint 3): „Zur Konstruktion der Vorgänge 
im wirkHchen Leben, im besondern der Verantwortlichkeit, 
ist er [der Begriff der praktischen Freiheit] ausreichend und 
aliein brauchbar." Goldschmidt bemerkt dazu*): „Wenn man 



1) Adickes: Deutsche Litt. Zeitung 1898, No. 29, S. 1151. 
«) P. * S. 261. 
«) P. * S. 272. 
*) G. S. 180. 



— 83 — 

das in ein anderes Gebiet überträgt (in das Eeich einer andern 
Kategorie), so heißt das, man hat nicht nötig, gegen die Ur- 
teile 2X2 = 4 und 2X2 = 5 sich aufzulehnen, wenn man 
hier dieses, dort jenes , gebraucht'." Diese Analogie trifft 
nicht zu, es fehlt das tertium comparationis in dem ,, Ge- 
brauch," denn dieser ist für die Kategorie der Causalität 
nach K. ein zwiefacher, Causalität aus Notwendigkeit und 
Causalität aus Freiheit, aber er besteht auch nur für diese 
Kategorie und nicht ebenfalls für die der Vielheit resp. Ein- 
heit, auf die sich doch die arithmetischen Urteile beziehen. 
Bei den mathematischen Urteilen gibt es nur einen einfachen 
Gebrauch, nämlich den auf Grund der reinen Anschauungs- 
form des Raumes möglichen, also nur den empirischen Ge- 
brauch. 



— 84 — 



Schluß. 

Wir sind am Kade. In dieser Paulsenschen Darstellung 
der positiven dogmatischen Metaphysik Kants gipfelt seine 
Gesamtauffassung der Kantischon Philosophie als eines neu be- 
gründeten formalistischen Rationalismus. Mußten wir in dem Be- 
streben, einen solchen Rationalismus aus dem Kantischen System 
herauszukonstruieren, eine einseitige Betonung des bei Kant 
unleugbar vorhandenen rationalistischen Faktors erkennen, so 
ist auf der andern Seite die groiio Unklarheit, die bei P. über 
die Verschiedenheit erkenntnistheoretischer und psychologischer 
Behandlung herrscht, die Ursache, daß vielfache fruchtbare 
Resultate der empiristischen Kritik P.'s an der Kantischen 
Philosophie wieder in Frage gestellt werden. 

Für P.'s prinzipielle Auffassung Kants scheinen mir zwei 
Momente entscheidend zu sein, deren Berechtigung P. meines 
Erachtens aber auf keine Weise darzulegen gelungen ist: Die 
schon erwähnte Behauptung einer positiv-dogmatischen Meta- 
physik im Sinne K.'s, und die in engem Zusammenhang damit 
stehende Überzeugung, daß der eigentliche Kantische Standpunkt 
in der Dissertation vom Jahre 1770 und nicht in den spätem 
kritischen Schriften zu suchen sei. Aus diesen beiden Momenten 
lassen sich die Einzel-Auffassungen P.'s in betreff der ver- 
schiedensten Kantischen Probleme deduzieren; während schließ- 
lich sein mangelndes Verständnis dem transscendentalen 
Charakter der Kantischen Gesamtauffassung gegenüber durch 
seine eigene philosophisch-metaphysische Überzeugung bedingt 
ist, welche auf der einen Seite einen reinen Empirismus ver- 
ficht, um auf der andern in einer rationalistischen Metaphysik 
zu enden. Von seinem Empirismus aus bringt er an die 
Kantische Darlegung immer jenes Entweder — Oder: Em- 
pirismus oder Rationalismus heran, ohne der transsc. Ver- 
knüpfung beider bei K. gerecht zu werden! — 



— 85 -~ 

Bei Goldschmidt kommen diese Grundelemente der 
Paulsenschen Überzeugung nicht zur Geltung. Er erörtert — 
bisweilen sehr heftig polemisch — die einzelnen Mißverständ- 
nisse und Einwände P.'s, ohne sie in ihrem Zusammenhang 
mit dem fundamentalen Standpunkte P.'s zu verstehen. So ist 
es erklärlich, daß er sehr häufig mit seinen Erörterungen an 
den Paulsenschen Gedanken vorbeischießt, ohne sie zu treffen, 
indem er von seinen Voraussetzungen aus, ohne den Paulsen- 
schen gerecht zu werden, gegen Behauptungen zu Felde zieht, 
die er erst in P's. Darlegung hineininterpretiert hat. Gold- 
schmidt ist durchaus Kantianer; bei P. vereinigen sich, wie 
wir sahen, jene beiden oben erörterten Momente seiner Kant- 
auffassung mit der Tendenz einer empiristisch und „historisch- 
genetisch" orientierten Philosophie, die ihn von vornherein die 
einzelnen Probleme von ganz anderer Seite auffassen läßt, 
wie sie Goldschmidt erscheinen, so daß bisweilen sogar ein 
gegenseitigesVerständnis ausgeschlossen erscheint, auch wenn sie 
sich in ihren positiven Behauptungen garnichtsoweit von einander 
entfernen. P. als Empirist geht von der Natur aus; Goldschmidt, 
der Kantianer, von der Vernunft. Während P. die Natur der 
Gegenstände ins Auge faßt: Wahrnehmung, Erscheinung, Ding 
an sich — erörtert Goldschmidt die Art unserer Erkenntnis- 
faktoren: Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft. — Und wenn sich 
die Resultate beider tatsächlich häufig sehr nahe kommen — 
obwohl gänzlich verschieden ausgedrückt — so ist das vor 
allem K.'s Verdienst selbst, der gerade so viele transscenden- 
tale Verknüpfungen zwischen der Natur der Objekte und der 
Art unserer Erkenntnisfaktoren, also zwischen Empirismus 
und Rationalismus aufgedeckt hat. Wenn trotzdem G. oft in 
sehr erregter Polemik und mächtiger Entrüstung gegen P. 
zu Felde zieht, so liegt das an einer gegensätzlichen Ein- 
seitigkeit bei beiden. Das äußert sich z. B. in Bezug auf 
das Verhältnis, in dem Erkenntnistheorie und Psychologie bei 
beiden zueinander stehen. P. fundiert die ganze Erkenntnis- 
theorie psychologisch und geht sogar soweit, daß er den 
jetzigen Erkenntnischarakter des menschlichen Verstandes als 
allmählich biologisch in der Gattung entwickelt verstehen will. 
G. dagegen erkennt psychologischen Betrachtungen nur sehr 
beschränkte Berechtigung zu. Ganz im Sinne K.'s ist ihm 
der Verstand das Vermögen der Begriffe; er ist charakterisiert 



— 86 — 

durch die apriorischen Erkenntnisfaktoren des Menschen und 
ist so der psychologischen Betrachtung entzogen und einer 
rein erkenntnistheoretischen Behandlung vorbehalten. 

Viele der Angriffe G.'s gegen P.'s Buch haben wir 
ablehnen müssen. Ziehen wir noch in Betracht, daß eine lleihe 
seiner Ausstellungen allein seiner flüchtigen Lektüre des Paul- 
senschen Buches entspringen, so werden wir P. verstehen, 
wenn er in der Vorrede zur 4. Auflage seines Buches sich 
gegen Goldschmidts Polemik verwahrt; wenn er „anmaüliche 
Belehrung, hochfahrendes Besserwissen und absprechenden 
Tadel" aus dem Kreise der allein wahren Kantianer, „die jede 
Abweichung von K. aus dem Nichtverstehen K.'s erklären," 
ablehnt. „Kantstudium, keine Kantkritik; Kantstudium, bis 
kein anderer Gedanke mehr Eingang in den Kopf findet: wer 
sich so trainiert hat, dem muß natürlich jede Abweichung vom 
Kanon als Irrtum oder als Mißverständnis erscheinen." — 

Mag aber auch der orthodoxe Kantianismus für den freien, 
gesunden Fortschritt der philosophischen Forschung ein Hemm- 
nis bedeuten, so ist doch andererseits für das Unternehmen 
einer historischen Kant- Darstellung eine größere Objektivität 
und Selbstaufgabe erforderlich, als sie das Paulsensche Buch 
erkennen läßt — und vor allem eine größere Vorurteilslosigkeit; 
denn nur als Vorurteile glaube ich so fundamentale Irrtümer 
P.'s auffassen zu können, wie sie sich in den Behauptungen 
offenbaren, Kants eigentliche Meinung sei in der Dissertation 
von 1770, nicht in den kritischen Schriften niedergelegt, und 
K. habe demgemäß immer an einer positiven dogmatischen 
Metaphysik festgehalten. — 

Immerhin wird man in dem Versuch, das Gedankenwerk 
des größten deutschen Denkers von empiristischem Standpunkt 
aus zu beleuchten, einen Vorzug des Paulsenschen Buches 
anerkennen müssen, dessen fördernder Einfluß bei denen, die 
als Lernende an das Studium K.*s herantreten, um so mehr 
sich geltend machen dürfte, als die Darlegungen P.*s in diesem 
Buche, wie in allen seinen früheren Schriften in anregender 
und anziehender Form vorgetragen werden. — 



Lebenslauf. 



Am 8. Mai 1884 wurde ich als ältester Sohn des Lehrers Richard 
H e;2:en wald, evangelischer Konfession, zu Mark. Friedland (West- 
preußen) geboren. Bis zai meinem 14. Lebensjahre besuchte ich die 
Voikssciiule meiner Heimatstadt und kam im Herbst 1898 auf die Kgl. 
Präparandenanstalt zu Plathe (Pommern), um mich dort auf den Beruf 
des Volksschullehrers vorzubereiten. Im Januar 1900 erfüllte mein Vater 
den von mir lange gehegten Wunsch, ein Gymnasium besuchen zu dürfen. 
Nach kurzer Vorbereitung wurde ich Ostern 1900 in die Untersekunda 
des Schiller-Realgymnasiums zu Stettin aufgenommen. Da mein Vater 
inzwischen nach Danzig versetzt worden war, vertauschte ich im Herbst 
desselben Jahres das Schiller-Realgymnasium mit dem St. Johann-Real- 
gymnasium in Danzig, an welchem ich Ostern 1904 das Abiturienten- 
examen bestand. Ich bezog die Universitäten Marburg, Berlin, Königs- 
berg und Greifswald, um Philosophie, germanische und romanische 
Philologie zu studieren; und hörte die Vorlesungen folgender Herren 
Professoren : 

Marburg: 
Elster, Knopf, Natorp, Rade, Vogt, Wechssler. 

Berlin: 
Brandl, Delmer, Herrmann, Lassen, Richard M. Meyer, Paulsen, 
Roethe, Erich Schmidt. 

Königsberg: 
Baumgart, Franke, Kowalewsky, Nicholls, Schade, Schultz-Gora, 
Thurau. 

G r e i f s w a 1 d : 
Haußleiter, Heuckenkamp, Rehmke, Reifferscheid, Schmekel, Schuppe, 
Stange, Stengel, Stosch. 

Allen meinen verehrten Lehrern spreche ich an dieser Stelle 
meinen herzlichsten Dank aus. 



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