MASTER
NEGA TIVE
NO. 93-81187-24
MICROFILMED 1993
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES/NEW YORK
as part of the
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AU THOR:
HEGENWALD, HERMANN
TITLE:
KANTS THEORETISCHE.
PLACE:
GREIFSWALD
DA TE :
1907
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
PRESERVATION DEPARTMENT
BIBLIOGRAPHIC MTCRnFORM TARHFT
Original Material as Filmed - Existing Bibliographie Record
193KD
Z8
V.7
Hegenwald, Hermann, 1884-
Kante theoretische philoaophie in Friedrich
Paulrens und Ludwig Goldschmidte Kant- auf f aasung
Greif swald, 1907.
66 p« 24om.
ThesiB, Greif swald.
Master Negative #
-5!L-J5iL«?-JL4
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BY APPLIED IMRGE. INC.
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^ Ü. 8. SUkC
1931^
KANTS THEORETISCHE PHILOSOPHIE
IN FRIEDRICH PAULSENS UND LUDWIG 60LDSCHMIDTS
KANT-AUFFASSUNG.
:ie HC INAUGURALDISSERTATION DER HOHEN
PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT DER KÖNIG-
LICHEN UNIVERSITÄT GREIFSWALD ZUR ER-
LANGUNG DER PHILOSOPHISCHEN DOKTOR-
WÜRDE VORGELEGT VON ^ * * * * *
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f A ^
HERMANN HEGENW^ÄLD.
GREIFSWALD
PUFF & PANZIG
Gedruckt mit Genehm iguii er
der hohen philosophischen Fakultät der Künigl. Universität
Greifs wald.
Dekan: Professor Dr. Eehmke.
Eeferent: Professor Dr. Rehmke.
Meinen Eltern
in Dankbarkeit
gewidmet.
I
Disposition.
I
Seite
Einleitung 6
I. Kants „formalistischer Rationalismus.**
a) K.'s Transsrondental-Philosophic 7
b) Erscheinung und Ding an sich 11
IL Kants Verhältnis zu Hume und Paulsens „historisch-genetische
Methode" 17
III. Die Kritik der reinen Vernunft.
a) Die analytischen und synthetischen urteile 28
b) Das Problem der Kritik und se'irft Formulierung .... 35
c) Die transsc. Ästhetik 39
d) Die transsc. Analytik der Begriffe 48
e) Die Analytik der Grundsätze 62
f) Die Dialektik 71
g) Kants „Metaphysik" 78
Schluß 84
tl
Einleitung.
Friedrich Paulsens Kant -Darstellung in Frommanns
Klassikern der Philosophie (^ 1898; ' 1904) gibt nach einer ein-
leitenden Erörterung der weit- und zeitgeschichtlichen Stellung
K.'s eine eingehende Behandlung des Lebens und der philo-
sophischen Entwicklung des großen Denkers. Darauf folgt
im I. Buch die Darlegung und kritische Erörterung der theo-
retischen Philosophie K.'s mit KinschluÜ vonK.^s „Metaphysik"
während das IL Buch K.'s praktische Philosophie, also seine
Ethik, Rechts- und Staatslehre und schließlich die Lehre von
Religion und Kirche behandelt. Im Vordergrund des Inter-
esses überhaupt steht naturgemäß die theoretische Philosophie,
und in Bezug auf diese hat P.'s Auffassung besonders viele'
Widersprüche erfahren. Besondere Beachtung verdient ein
Buch von Ludwig Goidschmidt: „Kantkritik oder Kant-
Studium?« (Gotha 1901), in welchem der Verfasser die
Paulsensche Auffassung zu widerlegen sucht. —
Diese beiden heterogenen Ansichten über K.'s theoretische
Philosophie — mit steter Bezugnahme auf die übrigen in
Zeitschriften etc. veröffentlichten Einwände gegen P.'s Auf-
fassung — vom kantischen Standpunkt gegeneinander abzu-
wägen und aus den prinzipiellen Gesichtspunkten ihrer Autoren
zu verstehen, ist der Zweck vorliegender Arbeit^).
') Ich zitiere K.'s Kr. d. r. V. und die Proleg. nach der Reklam-
Ausgabe und gebe die sonstigen Anführungen aus K.'s Schriften nach
der neuen K. Ausgabe der Preuß. Akademie der Wiss.
I. Der „formalistische Rationalismus" in Kants Philosophie.
a) Kants „Transcendental**-Philosophie.
Paulsens charakteristische Grundauffassung des gesamten
kantischen Systems offenbart sich in dem Bestreben, in der
kantischen Philosophie eine Gedankenströmung bloßzulegen, die
er meta[)hysischen Idealismus nennt, und die er neben den
anerkannten Gedankenkomplexen des praktischen Idealismus
und des erkenntnis- theoretischen Idealismus als ebenbürtig,
vielleicht als noch wichtiger anerkannt wissen will. Dieser
Gesamtanschauung der kantischen Philosophie fügt sich P.'s
Auffassung von den 5 Momenten, die seines Erachtens in der
Kritik der reinen Vernunft besonders hervortreten, folgerichtig
ein. Er unterscheidet in der Kr. d. r. V. I. den erkenntnis-
theoretischen Idealismus, II. den formalen Rationalismus, III.
den Positivismus oder die kritische Grenzbestimmung, IV. den
metaphysischen Idealismus, V. den Primat der praktischen
Vernunft^). Von diesen 5 Momenten stellt P. den formalen
Rationalismus in den Vordergrund^).
Untersuchen wir also, ob P. berechtigt ist, ein meta-
physisch-monistisches Element, den Rationalismus, als
Grundprinzip der Ki*. d. r. V. anzunehmen im Gegensatz zu
dem transcendental- dualistischen Ausgangspunkt, der als der
eigentlich Kantische in der Kr. d. r. V. gewöhnlich bezeichnet
wird. P. beschäftigt sich mit dem Begriffe „transcendental"
als grundlegendem für das Verständnis K.'s überhaupt nicht.
Er erwähnt ihn gelegentlich, und dann — wie Goldschmidt
mit Recht bemerkt — bedient er sich seiner als einer Art
Zauberformel, durch die jede unbequeme Erörterung abge-
schnitten wird.
1) P. * S. 122.
2) P. * S. 124.
— 8 —
In Bezug auf den Charakter des ganzen kantischen
Systems unterscheidet P. zwischen Kants Transcendental-Phi-
losophie und seiner Metaphysik. Letzterer widmet er einen
ganzen Abschnitt seines Buches, in welchem er ausführt, wie
K. doch stets an dem Dasein und der rationalistischen Denk-
barkeit der „Dinge an sich", der intelligiblen Welt festgehalten
und daß er diese ganz wie die alte Schul-Metaphysik aus einem
monistischen Prinzip konstruiert habe. Nicht, wie die Kan-
tianer wollen, ist für P. K.'s Transc- Philosophie eine neue Meta-
physik, durch die er die alte dogmatische verdrängen wollte;
sondern sie ist eine Vorstufe für dieselbe, sie bahnt ihr den
Weg. Daher gipfelt K.'s Gesamtsystem für P. in den Dingen
an sich, in der intelligiblen Welt, und die Kritik zeigt nach
P. an, wie reine Erkenntnis a priori für den Menschen
möglich sei, wodurch Kants Kr. d. r. V. seines Erachtens
dem Eationalismus ein neues Fundament gibt.
Chamberlain 1) definiert den kantischen Begriff „trans-
scendental" als eine Gleichsetzung zweier Ideen, z. B. Gleich-
setzung des Gedankens der Zweckmäßigkeit und der An-
schauung der Lebensgestalt — also zweier Ideen, die logisch
nicht miteinander zu vergleichen sind, weil die eine auf der
Anschauung, die andere auf dem Denken basiert. Wir erhalten
hier also eine strenge Scheidung zwischen zwei Prinzipien, deren
Verknüpfung im menschlichen Erkenntnisvermögen den transsc.
Charakter der Erkenntnis bedingen soll. In Chamberlains
Darstellung haben diese beiden Seiten durchaus analoge Be-
rechtigung, sie ergänzen sich und halten sich völlig im Gleich-
gewicht. Wir haben hier den Begriff transscendental in seiner
weitesten Fassung. Er setzt voraus ein erkennendes Subjekt
mit einem doppelten Erkenntnisvermögen: Sinnlichkeit und
Verstand, welches in einem psychologischen 'Seinsverhältnis
zu der Wirklichkeit steht.
Eine Fassung des Begriffes „transscendental", die dem
von Kant Gewollten näher kommt, haben wir bei Goldschmidt^).
Nach ihm legt die transsc. Untersuchung K.'s den Zusammen-
hang formaler und realer Erkenntnis bloß. In dieser Unter-
scheidung formaler und realer Erkenntnis offenbart sich ein
^) Chamberlain : Immanuel Kant S. 4S6
n G. S. 46.
9 —
Seinsgegensatz, der bei Chamberlain auch zu konstatieren war,
aber mit dem Unterschiede, daß Chamberlain beide Faktoren :
Sinnlichkeit und Verstand in eine Linie stellt und beide eigent-
lich nur in ihren psychologischen Funktionen betrachtet. Bei
Goldschmidt steht der Verstand in einem ursprünglicheren
Verhältnis zum erkennenden Subjekt überhaupt, man kann
ihn vielleicht mit letzterem identifizieren, und man erhält dann
die Voraussetzung des Menschen als denkenden Bewußtseins,
dem durch die Sinnlichkeit Gegenstände vermittelt werden.
Das ist wohl der eigentliche Sinn des Kantischen Ge-
dankens. K. schreibt^): „Ich verstehe unter einer transsc.
Erörterung die Erklärung eines Begriffs als eines Prinzips,
woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Urteile a priori
eingesehen werden kann." In der Vorrede äußert er sich
über den Hauptzweck der Kritik ^) : „Ich verstehe unter ihr
nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des
Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse,
zu denen es, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag."
Die Hauptfrage ist nach ihm immer, „was und wieviel kann
Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen*'^).
— Diese Frage löst Kant in dem Sinne, daß wir Erkenntnis
zwar nur von Gegenständen der Erfahrung gewinnen können,
insofern sie Objekte der sinnlichen Anschauung, also Erschei-
nungen, sind. Andererseits können wir doch eben dieselben
Gegenstände auch als Dinge an sich selbst denken, „denn
sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Er-
scheinung ohne etwas wäre, was da erscheint*)". In diesem
Gedanken K.'s, den er in der Dialektik systematisch ent-
wickelt, offenbart sich am deutlichsten das tatsächliche Vor-
handensein einer rationalistischen Strömung in seinem Denken,
denn als Beleg für dieselbe wird man sowohl die Ideen, wie
auch die Dinge an sich betrachten können. Das Ding an
sich fällt auch insofern aus dem streng transsc.-dualistischen
Schema heraus, als die ihm auf Seiten der Sinnlichkeit
korrespondierende „reine Anschauung" nicht im geringsten
eine Analogie darstellt zu der Bedeutung, welche die Position
1) K. : Kr. d. r. V. S. 53.
3) K. : Kr. d. r. V. S. 5.
8) K. : Kr. d. r. V. S. 8.
*) K. : Kr. d. r. V, S. 23.
— 10 —
des Dinges an sich im gesamten ka. tischen System hat Die
«reine Anschauung" ist für sich allein bedeutungslos; erst
dadurch, dafj Begriffe, also vorstandesmäÜige Funktionen, in
Ihr konstruiert werden, wird auf sie der a,,o<]iktische Charakter
der Mathematik begründet. Ganz anders beim Ding an sich
Dieses wird zum Fun.lament dos kantischon Systems übürhau„t •
es wird die Brücke und .1er Übergang von "der theoretischen
zur praktischen Philosophie.
Nicht iml Unrecht weist fornor Adickes') darauf hin,
daU K. 8 Behandlung der Sinnlichkeit sein vorwiegend ratio-
nahst.sches Interesse verrät. So grolJe Bedeutung K. im
Gegensatz zu den Zeitgenossen in Deutschland der Sinnlich-
keit zuschreibt, so führt er .loch nicht alle 15egriffo auf An-
schauungen zurück und laut für .lic Sinnlichkeit selbst nur
den C haraktor der Iteceptiv.tilt gelten, im Gegensatz zur
hpontuncität, die nur dem andern Erkenntnisfaktor in, Menschen
dem Verstände, zukommen soll.
Mit diesem von Adickes bemerkten Faktum hängt meines
hrachtens eng ein an.leres zusammen, welches ebenfalls als
Belog lur das rationalistische Grundelemont der Kr d r V
^u betrachten ist. Kant gibt einen Schematismus .lor Verstandes-'
begriffe, durch den das in der Anschauung Gegebene den reinen
Begriffen vermittelt wir.l. Würde er nun genau die transsc. Mittel-
linie innegehalten haben, so würde er eine entsprechen.leTat.sache
auf Seiten der Sinnlichkeit zu konstatieren gesucht haben,
etw^a einen Symbolismus der Anschauung; denn nach K. sind
nicht nur unsere Gedanken leer, in denen wir kein Anschau-
ungsmaterial erkennen, sondern auch unsere Anschauungen
bl.n. , wenn sie nicht der Synthesis von Begriffen unterstellt
werden. K. begnügt sich mit dem Schematismus der Be-
gr.lte weil er nur dem Verstände als dem Vermögen der
Begriffe Spontaneität zuschreibt.
n,.. ^. .Vo'-^'f «"Jem scheint mir festgestellt zu sein, .laß
man tatsächlich von einem rationalistischen Grundelement im
kantischen Denken sprechen kann. Daß aber P.'s Versuch
auf Grund dieser rationalistischen Faktoren eine positive doir'
matische Metaphysik K.'s aufzubauen, unberechtigt ist, wird
die^folgende Einzeluntersuchung zu zeigen haben. Verständ-
') Adikes .\nm. m seiner Ausg. der Kr. d. r. V. S. C7 f.
»?%
— 11 —
lieh wird P.'s Standpunkt, wenn man in Betraeht zieht, daß
nach ihm der eigentliche bleibende Kern der kantischen Ge-
danken in der Dissertation vom Jahre 1770 enthalten sei und
nicht in der Kr. d. r. V. In der Dissertation ist allerdings
noch in positivem Sinne von dem mundus intelligibilis die
Hede — und P.'s Gesamtauffassung könnte richtig sein, wenn
jene Voraussetzung keine irrtümliche wäre.
b) Erscheinung und Ding an sich.
Für das Vorherrschen rationalistischer Strömungen in
dem theoretischen Teil der kantischen Philosophie ist die
Position des Dinges an sich ein wichtiges Zeugnis. P. widmet
der F]rklärung und Deutung der Begriffe Erscheinung und
Ding an sich einen besonderen Teil seines Buches*). Er geht
von K.'s Begriff der Erscheinung aus und erklärt diese als
das, „was die gewöhnliche Sprache Ding und zwar a {)otiori
das körperliche Ding nennt: das unabhängig vom Subjekt
existierende perdurable Objekt mit seinen wechselnden Tätig-
keiten und Beziehungen-)."
G. erklärt diese Erörterung P.'s als die „verkehrteste
Art den kantischen Begriff zur Einsicht zu bringen".
Kr vermißt die Erscheinungen des innern Sinnes, die in der
gew()hnlichen Sprache doch nicht als Dinge bezeichnet werden
— übersieht dabei aber P.'s Anmerkung an .einer Stelle ^^),
nach welcher P. im Anschluß an L. Busses Aufsatz über die
Schwierigkeit, den Begriff der P>scheinung auf innerseelische
Vorgänge anzuwenden, die Erörterung der Erscheinungen des
innern Sinnes abzulehnen scheint.
Nach G.'*) hat P. ferner die Begriffe „perdurabel" und
„unabhängig vom Subjekt" zur Erläuterung des Unterschiedes
zwischen Erscheinung und Ding an sich sehr ungünstig ge-
wählt, weil der Leser dadurch auf eine Kategorie, die der
Substanz, hingewiesen werde, und doch wolle K. in dem Be-
griffe der Erscheinung ausdrücken, daß wir kein Recht haben,
auf eine unabhängig vom Subjekt existierende Substanz zu
1) P. » S. 144-S. 155; * S. 155-166.
2) P. * S. 155.
3) P. Anm. zu 1 S. 146; 4 S. 157.
*) G. S. 49.
— 12 —
8chli(3l3on. — DioHer Kinvvand GoldschniidtH, so borochti^t or
zu sein Hcheiut, ist es doch nicht. Aus der GoHaintdarstelhm^r
P.s geht hervor, (hifi or die kunfiNcho „KrHclininung" immer
als eine transHc-ondontalo Verknüpfung von Anschauung und
Vorstandestätigkoit aufgefaßt hat, wodurch die das Subjekt
affizierende „Kmpfindung" z,uu Krfal.rungsgegenHtand, also
zur Krscheiuuug wird. P. hätte besser die Erscheinung als
das scheinbar uuabbängig vom Subjekt existierende perdu-
rable Objekt charakterisieren sollen.
Fm übrigen gibt auch Goldschmidt (mie keinc.swegs ein-
wandfreio, zum mindesten aber keine erschr.pfende Erklärung
des kantischen Begriffs der Erscheinung'): „Erscheinung ist
nun nach Kant jeder mögliche, noch unbestimmte Gegenstand
der Erkenntnis", und G. denkt bei dieser Erklärung vielleirht
an K.'s eigene Definition^): „Der unbestimmtn (Jogenstand
einer empirischen Anschauung lieilit Erscheinung." Man
konnte aber demgegenüber fragen, ob ein allseitig bestimmter
also in seinen gesetzmäßigen Beziehungen erkannter Gegen-'
stand nicht mehr „Erscheinung", sondern etwa schon Ding
an sich sei; und in diesem Gegensatze liegt doch der eigent-
hohe Sinn des kantischen Begriffs der „Erscheinung", so wie
er von K. immer »päter vor wendet wird.
In der Kritik dieser Paulsenschen Dreiteilung übersieht
G. ganz den psychologischen Charakter der Paulsenschen
Darstellung überhaupt. P. will die Einzelwahrnehmung rein
psychologisch aufgefaßt wissen („ein vorübergehender Vorgang
m einem empirischen Einzelwesen ')"). Demgegenüber kommt
für die kantische „Erscheinung" in Betracht, was nach J. St.
Mill „die empirische Realität eines Dinges (Erscheinung) be-
deutet: permanente Möglichkeit solcher und solcher koexistie-
render Wahrnehmungen^)". Die „Erscheinung" wird also
auch nach P., zum Objekt des „Bewußtseins überhaupt", und
so allem ist deshalb auch seine Bemerkung, die „Erscheinung
sei unabhängig vom Subjekt [Individuum] aufzufassen," zu
verstehen. Die „Erscheinung" ist damit dem psychologischen
Bewußt sein des einzelnen Menschen entzogen und von P. als
G S. 53.
*) K. : Kr. d. r. V. S. 48.
») P. * S. 156.
*) P. * S. 157.
J
-- 13 —
„pordurablos", als dauerndes Objekt möglicher Wahrnehmung
überhaupt bezeichnet.
P. sucht diese „Formen der Wirklichkeit": Einzelwahr-
nehinung, Erscheinung, Ding an sich durch ihre „Korrelate,**
die Formen der Intelligenz zu erläutern. Er unterscheidet
eine tierische, eine menschliche und eine göttliche Intelligenz.
Obwohl P. beklagt, daß sich in K.'s Philoso[)hie nirgends ein
biologisch-genetischer Gesichtspunkt findet, trägt er an dieser
Stolle seine eigene Vorstellung völlig unberechtigt in die
kantische Philosoijhio hinein und erregt in dem Leser die
irrtümliche Auffassung, als ob es sich hier um eine evolutio-
nistischo Entwicklung handle von der Sinnlichkeit der tierischen
Intelligenz aufwärts zum Verstände der menschlichen, der dann
schlieülich in die Vernunft der göttlichen Intelligenz übergehe
— eine Auffassung, die in ihrer ganzen Unfafibarkeit tat-
sächlich von P. festgehalten zu werden scheint und damit
meines Erachtens P.'s „historisch-genetische Methode" einfach
ad absurdum führt. — AufJerdem ist im kantischen Sinne die
Dreiteilung verfehlt. Der Vorstand steht doch zur Sinnlichkeit
in einem ganz andern Verhältnis wie die Vernunft zum Ver-
stände. Verstand und Sinnlichkeit gehören zusammen und
ergeben in ihrer transsc. Verknüpfung die Erfahrung. Beiden
gegenüber steht als das Vermögen der reinen Ideen die Ver-
nunft. Ferner hat die Sinnlichkeit in der Form wie sie bei
P. auftaucht gar keine erkenntnistheoretische Bedeutung —
sie ist bei ihm einzig das Organ psychologischer Einzelwahr-
nehmungen, während K. ihr durch die apriorischen Anschau-
ungsformen erkenntnistheoretische Bedeutung beizulegen sucht.
Der fundamentale Unterschied zwischen Goldschmidt und
Paulsen in ihrer Kant-Auslegung läßt sich schon hier klar
fixieren: P. geht von der „Natur" im kantischen Sinne aus
und betrachtet sie in ihrem möglichen Verhältnis zur erkennen-
den Vernunft. G. nimmt streng den kantischen Standpunkt
ein; er kommt von der Vernunft her und untersucht ihre ver.
schiedenen Beziehungen zu den Dingen, die von jener bald
„erkannt", bald nur „gedacht" werden können, je nachdem
sie in der Anschauung gegeben sind oder nicht: „Die Be-
stimmung kennt nur Sinnenwesen, der problematische Gedanke
auch das Ding an sich^)". Dann gibt G. dem Paulsenschen
1) G. S. 55.
w
— 14 —
Standpunkt gegenüber auch zu: „Man wird leicht gewahr
daö man von der Art seiner Erkenntnisfaktoren als slt;
s;;.;i'd r: ~ '''-''' ''''-'- '-' '^^ '- ^^^^^^^
P r.!^' l^Z^'f'^. "'"^ '"'' ^'' ^"-^ •i«'- Erkenntnisfaktoren-
BrüXn ^^'"^'"•'''J■^''''^' -'i --hen beiden sind vid'
facht aL~s-^"iM '°"f "'^^ geschlagen. Goldsch„>idt unte
und P dTe iZ . "'' ^'T'"' """' ^^^-"f' ^m Mensche",
Jnd l. die Ihnen korrespondierenden Objekte: Wahrnehmung/
itirscheinung und Welt nn ^;„u „ ,■ ""«rnenmung,
era,,iristis.h n n 1 ! / ^ ~ allerdings etwas einseitig
IIA :i r:i3rE~ - -^^
Fraeet' ^'^'T""'^ ^egen P. richtet sich schon gegen P 's
■^^agö j. „Was können wir im Sinno v ^ . ^«^ r-. s
an sich aussagen?« G meint^, . ^"'''\:°° ^'^ ^ing
den Zweck die ITn« '^ T ' • ^^""^^ ^""'^ h^»»« ""«•
^wecK, „die ünerkenn barkeit des Dintres an <„VK
lehren' ." Wir haben von dem Din*« . . ^"
negativen Begriff« In Z ^^ ^ "°*' ""'' ""'"e"
auch P ,.lhl"„u j , . ■ °" °" "8"'™ P'MikM«, «nn
»tf.;. w i:i ;l: ^zt 'i '""""": '-•"■'•° «»»»
Dine an sir-h .lo n f Aussage charakterisiert das
De'zreit nennt «r" 1"'='' """"^'^^^ Anschauung.
Denkens doch der B^^ff hT"*'"'. ^^°" ''"'^•^"'''^-
pos.ive Bedeutun-gt fj^ dl:^e^etrm":ts 3 '^^^
bloßes X, das der Verstand dem en^pirischerGegenstand
stg rb^rt: srrÄr'r " ^- "^-
-anschauenden Verstaf d^t f .^ ge lill f d^
G. S. 58.
') P. * S. 163.
') G. S. 64.
*) G. S. 61.
— 15 —
leeren problematischen Begriff einen Inhalt geben, indem er
die Dinge an sich als Verstandeswesen bestimmt; ihre Einheit
sei ein ,niundus intelligibilis im [)Ositiven Sinne ^)" — ein
bloßes V^ort, bei dem man sich aber nichts vorstellen kann.
P. glaubt dieses Positive gefunden zu haben in der Beant-
wortung, die er der Frage gibt: „Haben die Kategorien Anwen-
dung auf die Dinge an sich?;" und er meint bei K. eine doppelte
Bedeutung der Kategorien annehmen zu müssen: eine „rein
logisch-transscendente" und eine „transscendental-physische".
Im orsteren Sinne lege Kant den Dingen an sich eine wenn auch
nicht empirische, so* doch intelligible Realität, Kausalität und
Substantialität bei, während die transscendental-physische Be-
deutung der Kategorien sich auf die in möglicher Wahr-
nehmung gegebenen Gegenstände bezieht. Die Kategorien in
ihrer Anwendung auf die Dinge an sich haben nur eine
Wirklichkeit für das Denken, und jene intelligiblen Be-
ziehungen können nicht anschaulich vorgestellt w^erden, also
überhaupt keinen gegebenen Inhalt haben. —
G. scheint diese Paulsensche Darlegung nicht zu Ende
gelesen haben. Er ist bei der Bemerkung stehen geblieben:
nach K. hätten die Kategorien nur Gültigkeit für die Er-
scheinungswelt, würden dann aber doch immer auf die Dinge '
an sich angewandt. Hiergegen wendet er sich in scharfer
Polemik, indem er unterscheiden lehrt zwischen Denken und
Bestimmen. Die ganze Metaphysik habe zu allen Zeiten Dinge
an sich „gedacht", nämlich in den reinen Denkformen; daß
letztere die Dinge an sich auch von sich aus „bestimmen"
können, das habe K. als unmöglich erwiesen. G. hat nicht
bemerkt, daß er mit seiner Unterscheidung: Denken und Be-
stimmen genau P.'s Unterschied zwischen logisch-transscen-
denter und transscendental-physischer Bedeutung der Kategorien
wiedergibt! —
Als Resultat der Paulsenschen Ansicht über das Ding
an sich ergibt sich kurz folgendes: K.'s Ding an sich erfüllt
seine wesentliche Bestimmung nicht einzig und allein als ne-
gativer Grenzbegriff, vielmehr steht diese Seite des Dinges
an sich ziemlich im Hintergrund. Ihre wesentlich positive
Bedeutung erhalten die Dinge an sich in der dogmatisch-
idealistischen Metaphysik, welche P. dem Königsberger Trans-
1) R* S. 164.
— le —
scendental -Philosophen vindiziert und für eine moderne
Strömung der idealistischen Metaphysik fruchtbar zu machen
sucht '). Demgegenüber leugnet G. die wirkliche Existenz der
Dinge an sich im Sinne des kantischen Systems gänzlich —
worin er sicherlich auch zu weit geht, denn die existentiale
Bedeutung der Dinge an sich bleibt schon notwendig als Ur-
Sache der „Erscheinung", welche ohne jene Annahme „unge-
reimt« sein würde nach K., und nur als Wirkung eines Dinges
an sich gedacht — wenn auch nicht erkannt — werden kann. —
Vom Standpunkte des kantischen Systems lassen sich
gegen beide Bedeutungen des Dinges an sich wichtige Be-
denken äußern. Ihrer Auffassung als rein negative Grund-
bestimmung gegenüber erhebt sich die Frage: „Wie ist denn
überhaupt ein Wissen von einer Erkenntnisgrenze möglich 2)?"
Werden aber die Dinge an sich als wirkliche und durch den
Verstand denkbare Gegenstände betrachtet, so müssen sie doch
Objekte des menschlichen Bewußtseins sein; und die von ihnen
behauptete Ünerkennbarkeit, die auf dem oben berührten
Gegensatz von Denken und Bestimmen beruht, ist unbegreiflich
und hinfällig. K. selbst hat augenscheinlich die reale Existenz
der Dinge an sich nur am Anfang der Kr. d. r. V. ange-
nommen und zwar unter dem Druck der Denkmöglichkeit
der als ihre Wirkungen zu betrachtenden „Erscheinungen«.
Später, als er durch dieses Sprungbrett in den Sattel der
Transscendental-Philosophie gelangt war, hält er einzig ihre
Bedeutung als negative Grenzbegriffe fest. —
P.'s Auffassung der Dinge an sich fügt sich konsequent
in seme prinzipielle Grundauffassung der kantischen Philosophie
überhaupt ein : K. ist vorwiegend Rationalist — also kann nach
P. die negative Grenzbestimmung des Dinges an sich nicht
den wesentlichen Sinn desselben erfüllen; die Dinge an sich
müssen vor allem einen positiven Inhalt haben, und den er-
halten sie durch die ihnen zuerkannte intelligible Eealität,
womit dann auch der zweiten Grundüberzeugung P.'s in Bezug
auf K.'s Philosophie Genüge getan ist: K. ist metaphysischer
Idealist; und auf den Dingen an sich als festen Wesenheiten
baut P. dann K.'s Metaphysik auf. ~
') P. * S. XX.
2) Rehmke: Welt als Wahroehmung u. Begr. S. 5.
— 1? --
iL Kants Verhältnis zu Hume; und Paulsens
„historisch -genetische Methode".
P. hat schon im Jahre 1875 in seinem „Versuch einer
Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie"
Hume als denjenigen bezeichnet, durch dessen Studium K.
den ersten Anstoß zur Konzeption seiner kritischen Philosophie
erhielt. In seiner K. -Darstellung hält P. diese Auffassung in
ihren Grundzügen aufrecht, kombiniert sie dann aber mit B.
Erdmanns ^) Versuch, die Antinomien als den ursprünglichen
Anstoß zur Unterscheidung der sensiblen und intelligiblen
Welt zu betrachten. Der Einfluß Humes war nach P. mehr
negativ, er bewog K. zur Umkehr von dem Wege des Em-
pirismus und führte ihn zu der Ansicht von der Idealität von
Raum und Zeit. P. entscheidet sich nun dahin ^), daß der
erste Gedanke von der Idealität von Raum und Zeit K. bei
Gelegenheit der Antinomien aufgegangen sein mag, woran
sich dann die Auflösung des Humeschen Zweifels von selbst
anschlösse und, wie P. dann weiter meint: die Erkenntnis der
Möglichkeit einer „sicher begründeten Metaphysik", indem er
sie in der Dissertation mit der Mathematik unter eine Me-
thode zusammenzufassen suchte. Später „in der Erinnerung
verflechten sich die beiden Momente so, daß je nach der Art
der Veranlassung bald das eine, bald das andere mehr in das
Bewußtsein trat'^)" — womit P. verständlich machen will, daß
K. an verschiedenen Stellen bald Hume und bald die Anti-
nomien als Ausgangspunkt der kritischen Untersuchung hin-
stellt. Goldschmidts Einwand gegen P. an dieser Stelle be-
ruht auf einem Mißverständnis. G. fragt ^): „Ist denn das
Causalproblem Humes samt dem aller Kategorien überhaupt
nicht das Problem der Antinomien? Sind denn die philo-
^) B. Erdmann: Ausgabe d. Proleg. S. LXXXIII ff. und: Einleitung
zu den Reflexionen Bd. II S. XXIV ff.
») P. * S. 107 f.
3) P. * S. 108.
«) Goldschmidt: S. 143.
2
— 18 -•
feophischen Arbeiten Humes und Kants kapitelweise in dem
Bewufitsein dieser Männer gewesen, oder hingen dort die
Gedanken in einer Vernunft zusammen?" Das Problem ver-
schiebt sich unter G/s Händen. Die ganze Betrachtung bei
Ihm läuft darauf hinaus, die inhaltliche Abhängigkeit, vielleicht
sogar die Identität jener beiden Probleme zu erweisen, obwohl
es hier darauf garnicht ankommt; denn P. will die Fraije
untersuchen, durch welches der vielen in der Kritik aufire-
worfenen Einzelprobleme K. den Anstoß zu seiner ganzen
Untersuchung erhalten hat. Sicherlich hingen die Gedanken
der beiden Philosophen in einer Vernunft zusammen, aber G
kann uns nicht glauben machen wollen, daü K., der 12 .Jahre
an der Ausarbeitung seines Hauptwerke.s gearbeitet hat
gleichsam durch eine göttliche Inspiration in einem Augen'
blick das ganze feine Gewebe der Kritik vor sich sah und
OS nur niederzuschreiben brauchte; sicherlich hat sich doch
bei Ihm ein Problem an das andere gereiht, bis das ganze
Werk fertig war „in einer einheitlichen Vernunft" Gold-
Schmidt fragt, ob sich jene Momente verflechten müssen, da
sie doch eines sind; aber P. behauptet garnicht eine Ver-
flechtung jener beiden Probleme ineinander, sondern nur eine
\euflechtung der kantischen Erinnerung an jene beiden An-
Stöße und Triebkräfte der kritischen Philosophie: Humes
Skepsis und die Antinomien, so daü er bald der Meinung ist
Hume habe ihm den ersten Anstoß gegeben, während er an
anderer Stelle die Antinomien als den Ausgangspunkt der
Kritik bezeichnet. —
G. wollte an dieser Stelle ein Beispiel von P.'s „historisch-
genetischer Methode- geben, um dieselbe ad absurdum zu
fuhren Aber gerade hier, wo es sich einzig um eine historische
Aufgabe handelt, ist P.'s Methode am rechten Platz, was man
keineswegs immer behaupten kann, wo sie auftaucht -
Im übrigen hat G. überhaui>t den Sinn jener Paulsenschen
Methode nicht richtig verstanden. Er interpretiert ]>.'8 For-
derung einer historisch-genetischen Methode in der Philosophie
dahin, daß bei P. K. aus Hume verstanden werden soll -
und demgegenüber betont G. dann: „Daß K. in bezug auf
Hume einen wichtigen Unterschied auf eine bestimmte Formel
einen bestimmten Begriff bringen will, und daß hierin eiJ
i^ ortschritt liegt ~ das ist alles für die histonsch-genetische
— 19 —
Forschung gleichgültig^)". Ebenso versteht auch Cohen P. s
erstrebte historisch-genetische Methode nur als die Tendenz,
das kantische System aus den früheren geschichtlich zu ent-
wickeln. Klar und deutlich hat P. sich leider über das, was
er darunter verstanden wissen will, nirgends geäußert; nach
seiner Einleitung in die Philosophie^) charakterisiert sich die
Philosophie des 19. Jahrhunderts in dem Bestreben, die
physische und die geistig-geschichtliche Welt zusammenzu-
biegen zu einer Gesamtanschauung. Das kann nach P. allein
dadurch geschehen, daß die künftige Philosophie nicht mehr
wie die Kantische von einer „an der Mathematik orientierten
aprioristisch-dogmatischenDenkweise'^)" beherrscht wird, sondern
nur dadurch, daß sie unter dem Szepter der historisch-gene-
tischen Methode steht. Meines Erachtens führt uns der
richtige, von Goldschmidt und Cohen verkannte Kern dieses
Gedankens zu einer Erörterung des Begriffs der Wissenschaft
bei Kant. K. erkannte nur die mathematisch-naturwissen-
schaftlichen Disziplinen als „eigentliche Wissenschaften" an;
denn für ihn war die mathematische Apodiktizität das not-
wendige Kriterium einer echten Wissenschaft. Das 19. Jahr-
hundert hat nun eine Reihe von Wissenschaften zur reichen
Entfaltung gebracht, von denen K.'s Zeitalter sich kaum eine
Vorstellung machte: die historisch-philologischen Disziplinen,
denen man heute den echt wissenschaftlichen Charakter nicht
mehr wird vorenthalten können. Für sie ist K.'s Kriterium
einer echten Wissenschaft, nämlich die Mathematik, nicht an-
wendbar. Auf jeden Fall geht P. nun aber viel zu weit, wenn
er behauptet, daß jene „an der Mathematik orientierte Denk-
weise" „mit ihren Voraussetzungen dem 18. Jhd. angehört";
und daß das 19. Jhd. sie überall verlassen und die historisch-
genetische an ihre Stelle gesetzt habe. — Immerhin bedarf
K.'s Begriff der Wissenschaft einer Revision in dem Sinne,
daß man für den wissenschaftlichen Charakter jener geistig-
geschichtlichen Disziplinen andere Kriterien wird suchen
müssen. K. zog nur die mathematisch-naturwissenschaftlichen
Disziplinen in Betracht, sah sich aber infolge seines prin
») (^oldschmidt S. 77.
2) Paulsen: Einl. i. d. I>hil. » S. VlII.
») P. ♦ s. \m.
— 20 —
zipiellen Standpunktes häufig genötigt, den streng erkenntnis-
theoretischen Gang der Untersuchung durch psychologische
Erörterungen zu unterbrechen^). Paulsen dagegen will nur
die historisch-psychologische Methode gelten lassen und zieht
m die psychologische Art seiner Behandlung die ganze Er-
kenntnistheorie mit hinein. Biologisch müssen nach ihm die
jetzigen apriorischen Ausstattungen des Individuums allmählich
in der Gattung entwickelt sein und müßten sich auch ferner
umbilden, und diesen Prozeß will er verstehen 2). Dadurch
würde eine Erkenntnistheorie völlig unabhängig von der
Psychologie ihre Berechtigung verlieren, eine Meinung, die
auf der falschen Voraussetzung beruht, als ob die Erkenntnis
der gegebenen Welt abhängig sei und innerlich zusammen-
hänge mit dem die Erkenntnis vermittelnden Bewußtsein in
seiner subjektiven Entwicklung — was selbst nur verständlich
wird vom Standpunkt eines erkenntniss-theoretischen Dualismus,
nach welchem zwei verschiedenes Seiendes im Erkenntnis-
prozeß zueinander in Beziehung tritt!
Will P. die ganze Erkenntnistheorie psychologisch fun-
dieren, so scheint Goldschmidt die entgegengesetzte Neigung zu
haben und die Erkenntnistheorie weit über den ihr zugehörigen
Kreis auszudehnen. Er betont mit Recht^): „Die Geschichte
der menschlichen Erkenntnis und ihre Kritik sind völlig ver-
Chamberlain überschreibt einen Abschnitt seines Hiiches: Trans-
scendental-Philosophie ist nicht Psychologie! (S. 042). Zu -roüen Wort
Wird man seinen Au.sführim-on *^ nicht beimessen können; beruhen
sie doch auf der erstaunlichen Überzeugun- dali Psychologie nie und
unter keinen Umständen Wissenschaft werden kann, wenngleich sie zum
Stoffsammeln auf dem zweideutigen Gebiet zwischen echten verschiedenen
Wissenschaften auch weiter dienen könne !! — „Psyche ist eine Allegorie,
und von einer Allegorie kann es unmöglich eine ' Wissen.schaft geten.«
„Wo aber die Seele — und gar noch mit der Anmaßung, eine besondere
wissenschaftliche Disziplin ihr eigen zu nennen - sich zwischen die
Physiologie des Nerv^ensystems und die Wissenschaft der Erkenntnis
einschiebt, da schafft sie eine scliier heillose Verwirrung und führt zu-
letzt zu dem Chaos, in dem wir uns heute befinden, wo Physiker über
,die Seele der Pflanzen' Bücher schreiben und Gehirnanatomen Lehr-
bücher der Seelenkunde verfassen; während die berufsmäßigen ,Seelen-
lehrer' neugeborene Küchlein befragen, ob der Kaumsinn ,angeboren'
oder ,erworben' sei .... I !
') P. * S. 217.
'») G. S. 32.
— 21
schiedene Aufgaben." Dann aber meint er: „Ist der Mensch
mit einem Vermögen begabt, das man Vernunft nennt, so
hat man auch ein Recht, sie isoliert als ein V^ermögen der
Erkenntnis zu beschreiben" und ferner^): „Wie leicht sagt
man heute: Apriorische Erkenntnis gibt es nicht, ohne auch
nur zu ahnen, daß man damit den eigenen Verstand verleugnet."
In dieser Identificierung von apriorischer Erkenntnis und Ver-
standerkennen wir K.'s Bestimmung des Verstandes als Vermögen
der Begriffe wieder. Doch kann der Verstand als solcher,
insofern er die Seele als denkendes Bewußtsein bedeutet, nur
Gegenstand der Psychologie sein ; nur sie hat es mit der Frage
zu tun: was machen wir, wenn wir urteilen? Die Erkenntnis-
theorie hat sich allein an das Gegebene zu halten und dieses
zu erkennen, d. h. bis zu fragloser Klarheit zu bestimmen.
In P.'s Stellungnahme zu der Kantischen Unterscheidung
der Urteile in analytische und synthetische glaube ich eine
Bestätigung meiner Auffassung der von P. erstrebten histo-
risch-genetischen Methode der Philosophie im Sinne einer
psychologischen B]rkenntnistheorie erblicken zu dürfen. Nach
P. sind rein analytische Urteile nicht möglich, da alle Urteile
eine Synthesis voraussetzen eine Synthesis allerdings
wohl, aber sie gehört in Wirklichkeit in die Psychologie und
ist auch dort nur auf Grund einer ursprünglicheren Unter-
scheidung möglich. P. aber, der eine strenge Scheidung
zwischen psychologischem Bewußt- Werden und erkenntnis-
theoretischem Bewußt-Sein nicht kennt, zieht jene psycholo-
gische Synthesis — nämlich das schlechthin Gegebene von
vornherein als Vereintes zu haben — mit in die Erkenntnis-
theorie.
Verständlich wird allerdings P.'s Standpunkt in dieser
Beziehung etwas, wenn man seine eigene psychologische Ent-
wicklung im Auge behält. P. kommt von spezialwissenschaft-
licher, historisch-philologischer Seite, an die Philosophie heran,
er hat sich als Litterarhistoriker mit der einzelnen Persönlich-
keit beschäftigt 2). Aber er hat die notwendige und unüber-
schreitbare Grenze, die der psychologischen Betrachtung ge-
zogen ist, nicht beachtet. Bei dem psychologischen Prozeß
») G. S. 35.
2) Vgl.: Paulsen: Hamlet, Mephistopheles und Schopenhauer. Drei
Bilder des Pessimismus;
— 22 -
des Bewußtwerdens ist das tatsächliche Bewußtseinsverhältnis
zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem schlechthin Gegebenen
immer schon vorausgesetzt, und es ist ein undenkbarerGedanke,
dieses erkenntnistheoretische Verhältnis biologisch aus dem'
Tierreich heraus für die menschliche Vernunft historisch-gene-
tisch zu begreifen — eine Vorstellung, die Chamberlain zu
der andern in Analogie setzt, zeigen zu wollen, wie der Stoff
nach und nach träge würde!
Keineswegs ist aber K.'s Philosophie selbst frei von
psychologischen Elementen. Als Beispiel können wir hier
ebenfalls K.'s Unterscheidung der Urteile in analytische und
synthetische anführen. K. nimmt als das ursprüngliche in
seiner Erkenntnistheorie den Begriff an und baut darauf seine
Lehre von den beiden Urteilsgattungen auf, indem er in den
analytischen Urteilen nur das im gegebenen Begriff Vereinte
deutlich macht, im synthetischen Urteil aber den gegebenen
Begriff durch etwas außer ihm, von ihm Unterschiedenes er-
weitert wissen will — wo also der psychologische Charakter
dieser Unterscheidung sich offenbart, weil ein Gegensatz
zwischen rein logischer und realer Beziehung nur unter Vor-
aussetzung eines psychologischen Seins-Verhältnisses aufzu-
stellen ist. — Der von P. behauptete Ursprung der Begriffe
und Urteile aus vorhergehender Synthesis — die selbst noch
eine ursprünglichere Unterscheidung voraussetzt — beruht psy-
chologisch in dem Wesen der Seele als denkenden Bewußt-
sems, dem immer schon Unterschiedenes und Vereintes als
Besonderheiten seiner Bestimmtheit gegeben ist. Der er-
kenntnistheoretischen Behandlung ist das Gegebene selbst so-
fort als Unterschiedenes und Vereintes gegeben, d. h. es ist
schon in irgend einer, wenn auch noch so unklaren AVeise
Begriffenes. Die Erkenntnistheorie und Logik haben nicht
mehr ncitig besondere Urteile aufzustellen, welche das Ver-
einte, zu einem Begriff gehörige, und das Unterschiedene als
solches auseinanderhalten sollen, wie es doch der Sinn der
Kantischen Unterscheidung der Urteile ist. Das Problem der
Logik hat mit dem der Psychologie: „Was machon wir, wenn
wir urteilen?" nichts zu tun; denn urteilen ist keine Synthe-
sis, wie P. meint, indem er alle Urteile auf synthetische zu-
— '^^^L^^^^^"^^ ^^°^^' '*^'^^' trennen die Urteile, wie Adickes^)
Adickos. Ausg. d. Kr. d. v. V. Anm. zu S. 45.
23 —
will, der alle Urteile infolgedessen als analytische er-
weisen möchte — sie trennen seines Erachtens das in der An-
schauung Verbundene in Subjekt und Prädikat! — In Wirk-
lichkeit trennen die Urteile ebensowenig als sie verbinden;
denn das Urteil als logische Funktion ist ein Ineinssetzen,
das Wiederfinden eines schon vorher Gehabten — es hat immer
schon Unterschiedenes und Vereintes zu seinem Gegenstande.
In Bezug auf Kant und Hume kommt P. zu dem zu-
sammenfassenden Resultat'): ,,K.'s Denken zeigt an diesem
Punkte eine fatale Neigung sich im Kreise zu drehen." K.
will Hume gegenüber die Allgemeingültigkeit und Notwendig-
digkeit des Causalsatzes beweisen, wobei er aber mit der Vor-
aussetzung der Apodiktizität der Wissenschaft denselben vor-
wegnimmt-). Keineswegs kann auch in dem Sinne, wie hier
das Causalitätsproblem von P. gefaßt wird, letzteres dadurch
als gelöst betrachtet werden, daß die Causalität als eine reine
Verstandesform proklamiert wird. Goldschmidt meint, der
Fortschritt zwischen Kant und Hmne bestehe darin, das Hume
zwar die Tatsache des Causalgesetzes anerkenne, daß aber erst
Kant dasselbe zur Einsicht bringe — meines Erachtens aber
zu einer Einsicht, die mehr den Charakter einer Durchhauung
des gordischen Knotens trägt als den einer wissenschaftlichen
Erkenntnis.
G. untersucht P.'s Behandlung des Causalgesetzes und
bemerkt mit Genugtuung, daß P. den Unterschied des sub-
jektiven Vorstellungsverlaufes von dem objektiven scharf hervor-
hebt; dagegen gelingt es ihm nicht, P.'s schließlicher Zurückfüh-
rung des objektiven Vorstellungsverlaufs auf den subjektiven, also
derCausalitätsfolge auf eine subjektiveZeitfolge, gerecht zu werden,
Wir haben es bei P. hier mit einerKonsequenz der historisch-gene-
tischen, an der Psychologie orientierten Auffassung zu tun. Diese
zieht ebenso wie die gesamten erkenntnistheoretischen Probleme,
so auch den objektiven Vorstellungsverlauf völlig in den Bereich
psychologischer Betrachtung, wogegen G. zwar Recht behält,
wenn er fragt, wie P. dazu käme, überhaupt einen objektiven
und einen subjektiven Vorstellungsverlauf zu unterscheiden.
») P. ♦ S. 216.
i) Vgl. J. Rehmke: Welt als Wahrnehm. u. Begr. S. 199: „K.'s
Antwort auf die PVage: warum erkennen wir Causalität in der Welt?
ist im Grunde keine andere als die: weil wir Causalität erkennen."
»
— 24 —
wenn er sich doch allein auf die subjektive Zeitfolge stützt;
aber er hat Unrecht, daß er aus dem tatsächlichen Unter'
schied zwischen beiden die Berechtigung entnimmt, einen mit
apriorischen Denkformen ausgestatteten isolierten Verstand vor-
auszusetzen, denn damit wäre auch der objektive Vorstellungs-
verlauf als eine Seinsbeziehung, nämlich als ein psychologisches
Verhältnis zwischen dem nur konkret, also individuell, denk-
baren apriorischen Verstände und einer an sich unabhängig von
ihm existierenden Wirklicheit gefaßt. — Wenn nach P. sich
in dem beobachtenden Menschen zunächst eine „allgemeine
Disposition" bildet, nach welcher er die zeitlichen Vorgänge
verknüpft und so zu dem Causalsatz gelangt, so beachtet P.
nicht, daß doch etwas Vorhandensein muß, welches die psy-
chologische Synthesis zu einer solchen des objectiven Causal-
vr .ältnisses bestimmt, sei es ein apriorischer Verstand, sei
e las schlechthin mit allen seinen innern Beziehungen und
Vehältnissen Gegebene, welches von dem selbst garnicht in
Betracht kommenden Subjekt in immer größerer Klarheit ge-
habt wird.
In P/s Behandlung der synthetischen Grundsätze findet
sich folgende Behai- ^ ung ^) : „Es ist ein Zusammenhang der
Erscheinungen in Kaum und Zeit denkbar, logisch denkbar,
der keine Gesetzmäßigkeit zeigte, oder dessen Gesetzmäßigkeit
so kompliziert wäre, daß unser Verstand sie nicht zu erreichen
vermöchte. Wie eine Konstitution des kosmischen Svstems
denkbar ist, die uns niemals Eegelmäßigkeit der Bewegungen
hätte entdecken lassen, obwohl sie für einen umfassenden
Blick und Verstand darin wäre, so ist auch eine Konstitution
der Anschauungswelt überhaupt denkbar, deren Gesetzmäßig-
keit unser Verstand nie erreichte.« — Die Konzeption dieses
Gedankens bei P. setzt meines Erachtens ein doppeltes voraus:
1, P/s transscendente Neigung nach einer metaphysischen
Welt mit absoluter, intelligibler Gesetzmäßigkeit, die uns aber
verborgen ist, und 2, eine dualistische Trennung des er-
kenntnistheoretischen Bewußtseins-Verhältnisses in die zwei
Faktoren einer psychologischen Seinsbeziehung: erkennender
Verstand und objektive, von ihm unabhängige Welt. Daß in
unserer menschlichen Erkenntnis diese beiden Faktoren tat-
sächlich zu sammenstimmen, also daß für uns Erfahrung
') P. * S. 204.
— 25 —
möglich ist, das ist nach P. ein „glücklicher Zufall^)". Von-
diesem Standpunkt aus kann P. allerdings eine Notwendigkeit
und Allgemeingültigkeit des Causalgesetzes nicht anerkennen;
er kann ihm nur präsumtive Gültigkeit zusprechen. Es ist
hieraus klar ersichtlich, wie unter Voraussetzung jener beiden
Faktoren im Paulsenschen Denken seine Auffassung des Causal-
gesetzes sich völlig konsequent entwickelt. — Goldschmidt
konstatiert innerhalb P.'s Darstellung selbst einen Widerspruch
seiner Auffassung des Causalsatzes und zwar zwischen P.'s
Ausführungen auf Seite 190 und 191 der 1. Auflage^). An
ersterer Stelle sagt P. : „. . . . zeigte sich bei genauester Be-
obachtung, daß auf einen bestimmten Stoß unter ganz gleichen
Umständen bald diese, bald jene Bewegung einträte, so würden
wir an ihm [dem Causalgesetz] irre werden und es endlich
fallen lassen." Und an 2. Stelle: „Der Behauptung, daß in
einem bestimmten Fall eine Abweichung vom Causalgesetz
vorliege, würden sie [die Physiker] ganz mit derselben Zu-
versicht wie Kant gegenübertreten, daß genauere Beobachtung
die Einordnung in die allgemeine Gesetzmäßigkeit ergeben
werde." Goldschmidt meint ^): „Auf S. 190 müßten wir also
den Causalsatz unter denselben Bedingungen aufgeben, unter
denen wir ihn S. 191 beibehalten sollen." Ich glaube, wenn
man den Unterschied zwischen „genauester" und „genauerer
Beobachtung" bei P. beachtet, wird man keinen Widerspruch
in jenen beiden Sätzen finden. Wir müßten nach P. das
Causalgesetz fallen lassen, wenn „genaueste Beobachtung"
uns von seiner Unhaltbarkeit überzeugt; wenn ihm aber nur
der erste Augenschein zu widersprechen scheint, dann können
wir darauf vertrauen, daß „genauere Beobachtung" die
Richtigkeit des Causalgesetzes auch in diesem Falle gewähr-
leisten wird — und das im übrigen jene „genaueste Beob-
achtung", die es widerlegen könnte, niemals vollzogen werden
wird; denn*) „die Unmöglichkeit einer naturgesetzlichen Er-
klärung kann durch kein Fehlschlagen jemals genugtuend
bewiesen werden." —
Vielleicht ist es nicht überflüssig, das Verhältnis der
») P. * S. 204.
2) P. * S. 204 und 205.
») G. S. 157.
*) P. ♦ S. 203.
— 26 —
Psychologie und Erkenntnistheorie hei Goldschmidt kurz zu
erörtern. Wie schon bemerkt, tritt bei ihm die Neigung
hervor, auch psychologische Probleme in die erkenntnis-
theoretische Behandlung hineinzuziehen, von demselben Ge-
sichtspunkte aus. wie wir es auch bei Kant selbst beobachten.
Der psychologischen Forschung weist G. die „Gelegonheits-
ursachen')« zu, an denen der Verstand sich entwickelt; jene
Unterscheidung und jene Synthesis, durch die der Verstand
überhaupt erst zu Objekten, nämlich zu Unterschiedenem und
Vereintem kommt, fällt bei ihm völlig ins Gebiet der Kr-
kenntnistheorie, woraus sich dann das von ihm vertretene
erkenntnistheoretischo (?) Seinsverhältnis zwischen dem apri-
onschen Verstände und der ihm gegenüberstehenden Welt an
sich ergibt. Von diesem Dualismus aus verstehen wir das
Unzureichende seiner Polemik gegen P.'s Fiktion einer an
sich wohl gesetzmäfjigen Welt, deren Jiegelmäfjigkeit für
unsern Verstand aber unerkennbar sein kr,nne — also seine
Auffassung von dem „glücklichen Zufall" der Möglichkeit der
Erfahrung. G. meint ^j, um jenen (Jedanken vollziehen zu
können, muß P. einen Aussichtspunkt zur Verfügung haben
von dem unser eigener Verstand ebenfalls „einschlielilich des
gesamten apriorischen Inbegriffs der Erfahrung selbst" zufällig
erscheint. Abgesehen von diesem „apriorischen Inbegriff der
Erfahrung", in welchem G. das Demonstrandum immer wieder
vorwegnimmt, könnte V. sich auf seine „idealistische Mota-
Physik" berufen und sagen, daß er sich denken könne, die
absolute Gesetzmäßigkeit der als wirklich gedachton meta-
physischen Welt gehe in den menschlichen Verstand nicht
em. G. konstatiert an dieser Stelle«) ein völliges Mißver-
ständnis P.'s in Bezug auf K.'s Lehre vom problematischen
Urteil. Nach K. wird bei einer Reproduktion der Vorstellungen
immer ein Grund apriori vorausgesetzt. „Würde ein gewisses
Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigelegt oder auch
dasselbe Ding bald so bald so benannt, ohne daß hierin eine
gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unter-
worfen sind, herrschte, so könnte keine empirische Synthesis
der Reproduktion stattfinden." Also das „Axiom der Mög-
üchkei^er Erfahrung-, wie P. jene Tatsache nennt, wird
') G. S. 152.
*) G. S. 153.
') G. Anm. zu S. 154.
27
vorausgesetzt. Dieses Axiom aber genügt P. nicht, weil für
ihn Erfahrung kein Produkt aus zwei Faktoren: Sinnlichkeit
und Verstand ist; er erkennt nur logische Funktionen des
Verstandes an, keine transscendentalen und glaubt daher die
eigentliche Grundlage des Causalgesetzes in der tatsächlichen
,, Angemessenheit'* des Verstandes zum Begreifen der gege-
benen Erscheinungen und ihrer Beziehungen zu einander
genügend klargelegt zu haben — wobei er leider versäumt,
uns näheres über diese eigentümliche prästabiJierte Harmonie
mitzuteilen. Das ist es doch gerade, was Kant geben wollte:
eine Möglichkeit der „Erfahrung \)," also ein Begreifen jener
„Angemessenheit". P. lehnt K. ab, hat aber nichts besseres
an seine Stelle zu setzen, weil er selbst Psychologisches und
P^rkenntnistheoretisches nur mangelhaft und unklar scheidet.
Auch an dieser Stelle ist deutlich der alte dualistische Ansatz
zu erkennen zwischen einem Verstände und einer außer ihm
und unabhängig von ihm existierenden Welt, die infolge
jener „Angemessenheit" des Verstandes von ihm begriffen
werden soll. —
P.'s Neigung, als letzten Schiedsmann in erkenntnistheore-
tischen Fragen den Physiker heranzuziehen und ihn schließlich
beispielsweise zu befragen, ob er mit Hume ebenso gut auskomme
*wie mit Kant, wird durch ein treffendes Beispiel G.'s ad ab-
surdum geführt. Goldschmidt sagt^): ebensowenig wie der
gemeine Mann durch den Streit berührt wird, ob diese oder
jene Luftarten in der Atmosphäre, die er atmet, enthalten
sind, interessiert es den Physiker als solchen, ob diese oder
jene Theorien über die Begreifbarkeit der Causalbeziehungen
in der Natur aufgestellt werden; jener atmet die Luft ein,
und diesar wendet das ('ausalgesetz an — beide ganz unab-
hängig von den Theorien über die wissenschaftliche Begreif-
barkeit! Das Verhältnis ist vielmehr ein umgekehrtes: K.'s
Philosophie setzt die Wirklichkeit einer erfolgreichen Natur-
wissenschaft und Mathematik — nämlich der P'rfahrung selbst
voraus. An ihr orientiert sie sich und erkennt dann als ihre
Aufgabe, für die Möglichkeit jener Wissenschaften, deren
Wirklichkeit uns erfahrungsgemäß gewährleistet wird, eine
befriedigende Lösung zu finden. —
') Von Cohen u. a. ist K.'s ganze Philosophie als „Theorie der
Krfahrunp^'* bezeichnet worden,
») Goldschmidt S. 1.j9.
— 28 —
III. Kants Kritik der reinen Vernunft.
a) Analytische und synthetische Urteile.
Die von K. mehrfach als die eigentliche Grundlage
seiner Transsc- Philosophie gepriesene „klassische" Unter-
scheidung der analytischen und synthetischen Urteile charak-
terisiert P. als „überflüssig" und „bedeutungslos". Für den
Bau der kritischen Philosophie komme sie insofern nicht in
Betracht, da sie erst nachträglich gefunden und dann ge-
zwungen in das Fundament der Kritik eingefügt sei — worin
meines Krachtens nichts Tadelnswertes besteht, da es doch
auf die richtige historische Reihenfolge, in der die Gedanken
sich zueinander fügen, nicht ankommt. In Bezug auf P. aber
wird man in jener Bemerkung ein Dokument seiner Neigung
zur „historisch-genetischen Methode" erblicken können.
Viel sympathischer ist unserm Verfasser eine auf jene
Unterscheidung bezügliche Formel, welche B. Erdmann aus
einer Vorlesung K.'s über Metaphysik mitteilt^): „Das Ver-
hältnis, was per analysin entsteht, ist logisch, was per syn-
thesin entsteht, ein reales." Dieser Kantischen Formel glaubt
P. die Berechtigung entnehmen zu können, jenen Satz aus
der Dialektik: „Alle Rxistentialurteile sind synthetisch" um-
zukehren in den Satz: „Alle synthetischen Sätze sind P]xisten-
tialsätze-)". Gegen diese Umkehrung wendet G. ein 3), die
Kategorie der Existenz sei keine Leistung logischer, sondern
der transsc. Verstandesfunktion; es handele sich um synthe-
tische Urteile a priori; nur diese kämen bei Existentialsätzen
in Betracht. Er wirft dann die Frage auf, ob ein mathe-
matisches Urteil, also 2X2:= 4, welches doch synthetisch a
priori ist, ein Existentialurteil sei! — Meines Erachtens setzt
G. m dieser Frage das Demonstrandum voraus, nämlich die
Berechtigung synthetischer Urteile a priori oder der transsc,
») Philos. Monatshefte 1884 S. 74.
2) P. S. 142.
3) G. S. 67.
— 29 —
Vorstandesfunktion überhaupt. P. unterscheidet nur zwischen
logischen und realen Urteilen ; für ihn gibt es nur eine „rein
begriffliche (mathematische) Erkenntnis" und eine „Erkenntnis
der Tatsachen^)". Die mathematischen Urteile gehören nach
P., der sich hier an Hume anschließt, zu den Verhältnissen,
welche per analysin entstehen und können also deshalb keine
Existentialurteile sein. „Er [der Verstand] bringt die Gegen-
stände der Betrachtung selbst hervor; den Punkt, die gerade
Linie, die Parabel, das Dreieck, den Kreis, den Kegel gibt
es nirgends in der Welt als allein im Begriff und in dem
dem Konstruktionsprinzip der Definition gemäß entworfenen
Gebilde der Einbildungskraft und so in der Arithmetik^)". P.
kehrt damit also völlig zu dem Standpunkt Humes zurück —
leider verrät er uns nicht, wie der Verstand zu der Kunst
komme, jene Gebilde aus sich selbst heraus hervorzubringen.
G. sucht im Sinne K.'s begreiflich zu machen, daß für die
mathematischen Sätze der Satz des Widerspruchs als Kriterium
der Richtigkeit nicht genügt, aber alle seine positiven Äuße-
rungen über die mathematischen Urteile basieren auf der
Aprioiität der Raumanschauung und treffen P.'s Kritik der
analytischen und synthetischen Urteile nicht, weil P. jene
Apriorität nicht anerkennt, was unten näher zu behandeln
sein wird. —
„Gold ist ein gelbes Metall" ist nach K. ein analytisches
Urteil, weil der Prädikatsbegriff in dem Subjektsbegriff ent-
halten sei und diesen nur erläutere, nicht erweitere. P.
zweifelt daran und meint"^), die Aussage beziehe sich nur auf
die wandelbare Wortbedeutung von ,,Gold*'. Jenes Urteil sei
nur solange analytisch, als nicht ein Körper gefunden sei, der
alle Eigenschaften des Goldes habe, nur daß er weiß oder rot
sei! Schon hier offenbart sich bei P. die empirische Rich-
tung seines Denkens, die sich mit seiner idealistisch-meta-
physischen Neigung so merkwürdig vereint. Sicherlich kann
von einer absoluten Gültigkeit der kantischen Unterscheidung
der Urteile in analytische und synthetische keine Rede sein.
Diese Unterscheidung ist vielmehr nur relativ in Bezug auf ein
Kriterium, an dem man die wesentlichen Eigenschaften eines
1) P. S. 145.
«) P. S. 145.
») P. S. 143.
— 30 —
Dingos von den unwesentlichen scheidet, und ers^ero in ana-
lytischen, letztere in synthetischen Urteilen zum Ausdruck
bringt. Solch ein Kriterium kann vielleicht das spezifische Ge-
wicht der Körper sein oder ihre chemische Zusammensetzung,
von wo aus dann die Farbe immer in einem synthetischen Urteil
von den Dingen ausgesagt würde. Will man aber, abgesehen
von solchen Kriterien, noch bestimmte Eigenschaften schon als
im Begriff der Dinge gegeben betrachten, dann sieht man
sich allerdings mit Paulsen auf den Sprachgebrauch verwiesen,
der selbstverständlich für erkenntniskritische Untersuchungen
keine grundlegende Bedeutung haben kann. Denn wollten
wir uns einfallen lassen, durch Analyse des Namens analytische
Urteile zu bilden, so können wir Fausts Wort von den
Teufeln :
„Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen
Gewöhnlich aus dem Namen lesen,"
getrost als allgemeines Krkenntnisprinzip proklamieren, und
die Etymologie wäre der oberste Gerichtshof für die richtige
Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile.
Leider vermissen wir bei P. völlig den Vorsuch, die
Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile aus der
Kantischen Voraussetzung über das Wesen des Begriffes zu
verstehen. Hier haben wir meines Erachtens im Kantischen
Denken verschiedene Strömungen auseinanderzuhalten. P.
bemerkt mit Recht, daß die platonisch-metaphysische Auf-
fassung des Begriffs als „feste Wesenheit" maßgebend gewesen
sein muß für die Formuherung jenes Unterschiedes, und P.
hat sich diese Auffassung K.'s vom Wesen des Begriffs für
seine Tendenz, K. zum Kationalisten und zum idealistischen
Metaphysiker zu stempeln, in übertrieben-einseitiger Weise zu
Nutze gemacht. Unter dieser Voraussetzung des Begriffs im
Sinne des alten Realismus erhält dann die Unterscheidung
sicherlich einen Sinn: analytische Urteile sind solche, in denen
man das im Subjektsbegriff tatsächlich Gedachte und substan-
tiell Enthaltene zur Deutlichkeit bringt; synthetische Urteile
solche, in denen man den Inhalt dieser Begriffe durch Auf-
deckung von Beziehungen, die sie zu andern haben, erweitert.
In der Kritik selbst taucht nun aber eine ganz andere Auf-
fassung des Bogriffs auf, die den Wert jener Unterscheidung
in Frage stellt und den Gedanken nahe legt, daß es sich bei
— 31 —
dieser Unterscheidung nur um ein Sprungbrett handelt, durch
welches K. sich am bequemsten in die Behandlung seines
eigentlichen Problems hinein versetzt. In der Lehre von den
Definitionen in der Methodenlehre ^) ist K. der Meinung, daß
man einen empirischen Begriff garnicht definieren könne;
„denn, da wir an ihm nur einige Merkmale von einer ge-
wissen Art Gegenstände der Sinne haben, so ist es niemals
sicher, ob man unter dem Worte, das denselben Gegenstand
bezeichnet, nicht einmal mehr, das andere Mal weniger Merk-
male desselben denkt Man bedient sich gewisser
Merkmale nur solange, als sie zum Unterscheiden hinreichend
sind; neue Bemerkungen dagegen nehmen welche weg und
setzen einige hinzu, der Begriff steht also niemals
zwischen sichern Grenzen". Sahen wir K. oben einen
metaphysisch fundierten erkenntnistheoretischen Dualismus
vertreten, indem er das Seiende in dem Begriff, der als „feste
Wesenheit" allen Wahrnehmungen zu Grunde liegt, durch
analytische und synthetische Urteile zu Bewußt-Seiendem
werden läßt, so haben wir hier K. als erkenntnistheoretischen
Monisten, nach welchem die im Bewußtsein gegebene Wahr-
nehmung selbst real ist und durch Aussagen bestimmt wird.
Da in diesem Sinne der Begriff nie ,, zwischen sichern Grenzen
steht", so ist P.'s Anschauung von dem Fluß, in dem die
Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische
sich befindet, völlig berechtigt, wenn wir bei ihm nur nicht
die Beobachtung machen müßten, daß er trotzdem dort, wo
es ihm für seine Tendenz vorteilhaft erscheint, jene an dieser
Stelle mit der Unterscheidung der analytischen und synthe-
tischen Urteile abgelehnte rationalistische Auffassung des Be-
griffs bei K. wieder aufnimmt und sich auf dieselbe stützt.
So taucht in seiner Behandlung der Kantischeu Metaphysik,
die in dem Sinne wie P. sie darstellt und konstruiert, auch
noch für die Gegenwart den vollen Beifall unsers Verfassers
findet, der Begriff in jenem rationalistischen Sinne wieder
auf^); und er wird dort zur Grundlage der Kantischen Meta-
physik gemacht, nämlich in der Gestalt des Dinges an sich. —
In seiner Kritik der Kantischen Unterscheidung der Urteile
») Kr. d. r V. S. 558.
=«) P. S. 200 ff.
— 32 —
in analytische und synthetische akzeptiert?, die empirische
Auffassung des Begriffs bei K. aus der Methodenlehre, und
er kommt zu dem Eesultat: „Die analytischen Urteile gehen
allemal auf synthetische zurück, die Synthesis nämlich, wo-
durch der Begriff gebildet ist^)". Die Frage, ob in unserm
Denkprozeß die Synthesis oder die Analysis von Gegenständen
ursprünglicher sei, kommt für die Erkenntnistheorie, die auf
das Gegebene selbst sieht, welches immer schon als Unter-
schiedenes und Vereintes vorliegt, garnicht in Betracht.
Kommt man aber von psychologischer Seite an die Frage
heran, so wird man schwerlich mit P. die Synthesis als das
ursprünglichere anerkennen können. Denn: „da die Seele in
jedem Augenblick die Einheit mehrerer besonderer Bestimmt-
heiten ist, so muß sie, weil sie demnach jederzeit Mehreres
,hat', auch jederzeit dieses Mehreren sich bewußt sein. Als
Bewußtsein Mehreres haben heißt dann aber wiederum nichts
anderes als Unterschiedenes haben oder unterscheiden
Dieses ursprüngliche Denken ist freilich ausnahmslos nur
unterscheidendes Denken =^)**. Aber auch dort, wo man in
Konsequenz zu der [Annahme gewisser apriorischer Kategorien
Analyse und Synthese in den Bereich erkenntnistheoretischer
Betrachtung ziehen muß, wird man die ursprünglichste
Synthese immer auf eine Analyse des Gegebenen als Bewußt-
seinsinhaltes zurückführen. „Synthese setzt also Unterscheidung
voraus (z. B. die eines Vereins von Sinnesqualitäten an be-
stimmtem Orte von der Veränderung des Ortes) und meint
die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit des Unterschie-
denen^)**. Für P. allerdings ist jenes In-den- Vordergrund-
rücken der Synthesis verständlich als Konsequenz der sich
auch in seiner „Einleitung in die Philosophie** klar offen-
barenden Vermischung erkenntnistheoretischer, psychologischer
und metaphysischer Gesichtspunkte. Es scheint, als ob er
nirgends zu einer klaren Formulierung eines erkenntnis-
theoretischen Standpunktes gelangt. Er liest z. B. die er-
kenntnistheoretische Behauptung *) : „die Summe meiner
Wahrnehmungen und Vorstellungen ist die Welt, und außer-
1) P. S. 143.
2) Rehmke: AUg. Psych. ^ S. 404.
3) Schuppe: Logik S. 98.
*) Paulsen: Einl. i. d. Phüos. » S. 378.
- 33 —
dem gibt*s überhaupt nichts Wirkliches;** und vermag diese
Behauptung nur im Sinne des Solipsismus zu verstehen^), aber
nicht auch als allgemeine Bewußtseins-Beziehung zwischen Ich
und Nicht-Ich überhau})t, deren gegenseitige Setzung dasGogebene
und das Wirkliche ausmacht. An anderer Stelle-) spricht er
eben davon, daß Köiper Erscheinungen für ein ,, Bewußtsein
überhaupt** sind, was ihn aber nicht hindert, gleich darauf zu
behaupten: „Jedermann glaubt, daß die Welt mehr als eine
Phantasmagorie in seinem Bewußtsein, daß die erscheinende
Kürperwelt auf irgend ein An-sich-seiendes hinweist;** wobei
er also prompt erkenntnistheoretisches „Bewußtsein überhaupt'*
und psychologisch-subjektives Individual-Bewußtsein als das-
selbe zusammen A'irft; denn als Erscheinungen für ein ,, Be-
wußtsein überhaupt'* waren die Körper von ihm zuerst be-
zeichnet worden, während er dann die Körperwelt als eine
Phantasmagorie in einem einzelnen konkreten Bewußtsein
versteht — eine Verwechslung von „Bewußtsein überhaupt**
und einzelnem konkreten Bewußtsein, in der man viel-
leicht den Schopenhauerianer, als den P. sich gern ausgiebt,
erkennen kann. In dieser Mischung zeigt sich bei P. als Drittes
dann noch der metaphysische Idealismus, der als Fortschritt
von dem erkenntnistheoretischen aus eingeführt wird, und
welcher jene an sich seiende Wirklichkeit „aus unserm Innen-
leben deuten** soll*^) — womit dann die Wissenschaft der
Philosophie meines Erachtens völlig ins Reich der Dichtung
verwiesen wird. —
Goldschmidt exemplifiziert in seiner Verteidigung der
Kantischen analytischen und synthetischen Urteile besonders
auf die Sätze der Mathematik, die nach K. zu den synthetischen,
nach Paulsen-Hume aber zu den rein logischen im Gegensatz
zu den realen Urteilen gehören. Schöndörffer*) beruft sich
P. gegenüber auf K., der schon darauf aufmerksam gemacht
habe, daß es sich bei den mathematischen Urteilen garnicht um
Begriffe handele, sondern um Konstruktionen von Begriffen;
und einen Begriff konstruieren heißt nach K.^) „die ihm
i) P. a. a. 0. » S. 379.
«) P. a. a. 0. 9 S. 398.
3) P. a. a. 0. ^ S. 399.
*) Altpreuß. Monatsschr. 1899. S. 549.
i) Kr. d. V, V. S. 548.
34 —
— 85 —
korrespondierende Anschauung a priori darstellen.*' Aber
dieser Einwand hat nur unter der Voraussetzung Sinn, daü
P. die Apriorität des Raumes, in welchem dann die korre-
spondierende Anschauung dargestellt werden kann, anerkennt.
Das ist nicht der Fall, also fällt auch dieses Argument gegen
P. — G. untersucht nun den Begriff der „Graden'' und den
der Zahl „12" selbst. Er meint : „es mag noch so schwer
sein, auszusprechen, was man im Begriff der Graden denkt,
in diesem Begriffe liegt nichts, was eine Größe aussagte')."'
Ob es aber in Betreff der Graden irgend ein Urteil gibt,
welches von Anschauung ganz absieht, das ist mir zweifel-
haft; durch letztere aber wird nach G. der Begriff der Graden
seinem Inhalte nach beständig vermehrt^). Die Erörterung
des Raumes und der Anschauung überhaupt hat in der
Aesthetik und bei der Behandlung derselben ihren Platz.
Sieht man aber von der Raumanschauung als apriori gegeben ab,
so kommt es lediglich auf die Auffassung des Subjektsbegriffes
an, ob man die mathematischen Urteile analytische oder syn-
thetische nennt. In dem Urteile z. B. 7 -f 5 = 12 kann
man den Subjektsbegriff entweder als die mögliche Summe
von 7 und 5 fassen; dann haben wir dort ein synthetisches
Urteil, oder wir verstehen ihn als: die Summe (7 + 5), dann
ist jenes ein analytisches Urteil. Ähnlich lassen sich dann
auch die geometrischen Urteile behandeln."^). —
Gegen P.'s Behandlung des analytischen Urteils: „Gold
ist ein gelbes Metall" wendet G. ein: neben der lexikalischen
Aussage: dieser Körper wird in deutscher Sprache Gold ge-
nannt, müßten auch noch andere lexikalische Aussagen
vorausgesetzt werden: ist, gelb, Metall etc. P.'s J5ehauptung,
daß jedes analytische Urteil eine Synthesis voraussetze, glaubt er
mit dem Hinweis auf die synthetische Einheit der Apperception
erledigt*), ist aber weit davon entfernt zu bemerken, daß
diese synthetische Einheit der Apperception nur in einem
psychologischen Subjekt gedacht werden kann, wudurch also
die Unterscheidung in analytische und synthetische Urteile,
I
wenn sie auf jene synthetische Einheit der Apperception zu-
rückgeführt wird, ihren logisch-erkenntnistheoretischen Charak-
ter aufgeben müßte, und einzig psychologische Prozesse an-
deutete.
Als Resultat obiger Untersuchung über die Unterscheidung
analytischer und synthetischer Urteile erhalten wir zunächst
in Bezug auf K., wenn wir uns auf den erkenntnistheoretischen
Standpunkt des Gegebenen stellen mit Ablehnung aller apriori-
schen Verstandesformen: daß jene Unterscheidung erkennt-
nistheoretisch haltlos ist, da die Erkenntnistheorie und Logik
nicht die Frage zu untersuchen hat: Was machen wir, wenn
urteilen?" also keine Synthesis und auch keine Analysis zu
ihrem Gegenstande hat. Jene Prozesse sind psychologischer
Natur, indem die Seele in ihrer ursprünglichen Bestimmtheit
als denkendes Bewußtsein immer schon Unterschiedenes und
Vereintens hat und zwar zunächst und ursprünglich Unter-
schiedenes, welches immer vorausgesetzt werden muß, damit
sie Vereintes haben kann. Damit richtet sich P.'s Meinung,
daß jedes analytische Urteil auf eine Synthesis zurückgehe,
von selbst; denn sie setzt ein Affiziertwerden des Subjekts
durch „Empfindungen" voraus, die dann synthetisch zusammen-
gefaßt werden sollen — eine Meinung, mit der sich nach
obigem kein Sinn verbinden läßt. — Was nun P.'s von Humo
übernommene Einteilung aller Urteile in logische und reale
und die Einordnung der mathematischen Sätze in die erstere
Gruppe anbetrifft, so ist der dualistische Charakter der zu
Grunde liegenden „Erkenntnistheorie" unverkennbar und damit
auch die Einmischung eines realen Seins-Gegensatzes in die
streng erkenntnistheoretische Bewußtseins-Beziehung. Gehen
wir von derVoraussetzung aus, daß uns überall in der gegebenen
Welt Raum und Empfindung untrennbar gegeben sind, so
reihen sich die mathematischen Urteile zwanglos in die Reihe
der einfachen Erkennungsurteile ein.
*) G. S. 72.
») G. S. 72.
3) Kehmke: Welt als Wahrn. u. Begr. S. 167 ff u 171 f
*) G. S. 81.
b) Das Problem der KritiK der reinen Vernunft.
Mit der Kantischen Unterscheidung der analytischen
und syntlietischen Urteile hängt aufs engste die Formulierung
des Problems der Kr. d. v. V. zusammen: „Wie sind syn-
3*
iin™'a«iMawt.ij;,Ti ■■
■■^
— 36
I ;-
— 37 —
thetische Urteile a priori möglich ^)?" Den Sinn dieser Formel
erläutert P.: „Wie ist es denkbar, daß das, was das reine
Denken als ihm einleuchtende Wahrheit ausmacht, auch für
die gegenständliche Wirklichkeit, die doch unabhängig vom
Verstände da ist, verbindlich ist-)?** Und die Formel, die er
an Stelle der von K. gefundenen vorschlägt, lautet: „Wodurch
und wieweit ist es möglich, durch reine Vernunft (a priori)
zur Erkenntnis von Gegenständen zu gelangen?" Diese
Formel trifft sicherlich den Kantischen Gedanken. Von der
Formulierung K.'s aber unterscheidet sie sich durch die ge-
ringere Klarheit und Prägnanz. In K.'s Formel tritt die
transsc. Verknüpfung zwischen der Anschauung — im Begriff:
synthetisch — und dem reinen Verstände — im Begriff: a
priori — scharf hervor. P. ist überzeugt 3), daß die Unter-
scheidung der Urteile in analytische und synthetische „gerade
durch eine Art falscher Klarheit mehr dazu beigetragen hat,
das Problem zu verwirren, als aufzuhellen.*' Demgegenüber
betont G.^): „Man sieht, wie mit dem Unterschiede analyti-
scher und synthetischer Urteile das Problem der Kritik d. r.
V. schlechthin gegeben ist.**
Sicherlich hängen beide eng zusammen, und durch unsere
Ablehnung jenes Unterschiedes wird auch das Problem der
Kritik selbst in Mitleidenschaft gezogen; trotzdem aber hängt
beides nicht so eng zusammen wie G. meint; es läßt sich,
wie P. zeigt, sehr wohl eine treffende Formulierung des
Problems unabhängig von jenem Unterschied finden, wenn
auch nicht in so durchsichtiger Prägnanz wie mit demselben.
— P. untersucht die Frage, wie K. dazu kam, an Stelle der
einfacheren und seiner Meinung nach klareren Formulierung,
die er vorschlägt, jene „unbestimmte** und „fließende** auf
Grund der analytischen und synthetischen Urteile zu geben.
Nach Heman^) gehört die Untersuchung P.'s „mit zu dem
feinsinnigsten, was das Buch bietet**.
P. findet zwei Gründe**) I. K. wollte die Metaphysik in
») P. * S. 140 ff.
») P. * S. 147.
•») P. * S. 142.
*) G. S. 73.
*) Heman: Zs. f. Phüos. u. philos. Kr. 114 S. 265.
«) P. ♦ S. 149.
die gute Gesellschaft der Mathematik und zwar der reinen
Mathematik bringen, da diese die gewisseste und unbezweifelste
aller Wissenschaften ist. Das Begriffspaar: analytisch und
synthetisch war K. schon bekannt, nur hatte er bisher die
Begriffe der Metaphysik denen der Mathematik als syntheti-
schen gegenübergestellt. In der Kritik faßt K. auch die Be-
griffe der Metaphysik als synthetische; denn nur unter diesem
Begriff können beide: Mathematik und Metaphysik zusammen-
gefaßt werden. Der einseitigen Betonung dieser Tatsache
durch P. gegenüber weist G. mit Recht auf den himmelweiten
Unterschied hin, der nach K. zwischen mathematischen und
und metaphysischen Urteilen besteht, und den K. besonders
in den Prolegomenen klar ausspricht: ,, Während man sonst
in der Metaphysik immer auf Mathematik sich berief, ent-
scheidet hier die Mathematik in einem negativen, den dog-
matischen Irrtum vermeidenden Sinn.** Den eigentlichen Kern
des Paulsenschen Mißverständnisses hat G. leider nicht berührt.
Er liegt in P.'s irrtümlicher Auffassung des Begriffs der Me-
taphysik im Kantischen Sinne. K. braucht den Begriff: Me-
taphysik namentlich in seinen spätem Schriften immer identisch
mit Transscendental-Philosophie, nur bisweilen schränkt er
den Begriff auf diejenigen Fragen und Probleme ein, die er
speziell in der Dialektik behandelt und zwar dort in negativem
Sinne.
Bei P.'s Behandlung der Kantischen „Metaphysik** tritt
klar hervor, daß er den Begriff gerade voizugsweise im
zweiten eben erörterten Sinne und zwar positiv faßt. Über
das Wesen der Metaphysik im zweiten Sinne hat K. sich an
jener soeben angeführten Stelle der Proleg. ausgesprochen;
während er dort, wo er meint, sie in die gute Gesellschaft
der Mathematik gebracht zu haben, Metaphysik identisch mit
Transscendental-Philosophie faßt. Jene Parallelstellung zur
Mathematik soll dann besagen: ebenso wie die Sätze der Ma-
thematik in ihrer Notwendigkeit und Allgemeinheit nur mit
Rücksicht auf die objektive Gültigkeit der reinen Anschauung
eingesehen werden können, so sind auch die Begriffe und
Sätze der Metaphysik — in ihrer Bedeutung als Transsc-
Philosophie — nämlich die Kategorien und Grundsätze des
reinen Verstandes nicht anders verständlich als mit Rücksicht
auf mögliche Erfahrung, ohne welche die Begriffe leer und
— 38 —
die Grundsätze hohle Schemen wären ; woraus dann notwendig
folgt, daß eine Einsicht in Bezug auf die eigentlichen Pro-
bleme der Metaphysik im engeren Sinn: Gott, Unsterblichkeit,
Freiheit: unmöglich ist. Diese beiden Bedeutungen des Be-
griffs der Metaphysik werden von P. nicht auseinandergehalten,
und daher rührt P.'s Mißverständnis jener Stelle, wo K. da-
von spricht, daß er die Metaphysik in die gute Gesellschaft
der Mathematik bringen will. K. identifiziert dort Metaphysik
mit Transsc.-Philosophie, während P. sie an dieser Stelle im
Sinne der alten dogmatischen Schul-Metaphysik faßt.
11. Noch einen zweiten Grund führt P. an, der K. zu
der Wahl seiner Problem-Formulierung in der Kr. geführt
haben soll: K.'s rationalistischen Glauben an die absolute
Eealität der Begriffe, den P. zurückführt auf den Satz Wolffs:
Dasein ist complementum possibilitatis und auf Leibnitz
Schöpfungstheorie: Alles Denkbare ist ein ens possibilitatis. Von
hier aus wäre dann der Unterschied der analytischen und
synthetischen Urteile leicht zu verstehen — nach P.! G. hat
gegen diese ganze Erörterung eine Fülle von berechtigten
Einwänden, sodaß sie als ganz unhaltbar betrachtet werden
muß.
Die rationalistische Auffassung des Begriffs bei K. sucht
P. durch die verschiedene Art zu erläutern, wie K. und Humo
den Begriff der Ursache fassen. Hume will diesen Begriff
aus den empirischen Wissenschaften heraus richtig formulieren,
also allein aus der empirischen Erfahrung. K. nimmt das
Causalgesetz als notwendige Beziehung zweier aufeinander-
folgender Zustände an und sucht ihre Möglichkeit zu verstehen.
Hier kommt P. allerdings das mehrdeutige Wesen der Kanti-
schen Kategorien als Denkformen und als Begriffe entgegen;
trotzdem aber wird man den Versuch P.'s, diese Begriffe als
rationalistisch-metaphysisch zu betrachten, ablehnen. (P. ver-
mißt neben der Behandlung der synthetischen Urtetle a priori
die Behandlung der synthetischen Urteile a posteriori, in
welchen er eine „contradictio in adjektio*' erblickt^). P. mag
trotz G. im strengen Sinne einer Kantischen Erkenntnistheorie
Recht haben, denn nach dieser müssen alle wissenschaftlichen,
also alle Erkenntnisurteile ihren apodiktischen Charakter den
P. * S. 155.
"s.
— 39 —
apriorischen Denkformen des Verstandes verdanken, müssen
also ausnahmslos synthetisch a priori sein. P. hat aber über-
sehen, daß K. in den Proleg. auch den synthetischen Urteilen
a posteriori ein Hintertürchen offen gelassen hat, nämlich in
den bloßen Wahrnehmungsurteilen mit nur subjektiver Gül-
tigkeit, die K. den Erfahrungsurteilen mit objektiver Gültig-
keit gegenüberstellt. „Uie letzteren [Wahrnehmungsurteile]
bedürfen keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der
logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denken-
den Subjekt.*'^) Hier besteht nach K. tatsächlich ein Unter-
schied zwischen synthetisch a priori und synthetisch a pos-
teriori, wo es sich nämlich um den Gegensatz des objektiven
Erkenntnisurteils zum subjektiv-psychologischen Wahrneh-
mungsurteil handelt.
c) Die transscendentale Ästhetik.
Die transscendentale Ästhetik wird bei K. durch eme
metaphysische und eine transscendentale Beweisführung be-
handelt. Schon hierin wittert P. ein Dokument des verderb-
lichen Einflusses, den nach seiner Meinung der Kantische
Schematismus auf den ganzen Bau seiner Philosophie ausübt»
Bei der Behandlung der Zeit habe K. zwar die Selbständig-
keit der transsc. Erörterung gefordert und auch einen Para-
graphen mit jener Überschrift eingerichtet, sei dann aber bald
in der Darstellung erlahmt und habe auf No. 3 der metaphy-
sischen Deduktion verwiesen, wo er die betreffenden transsc.
Erörterungen schon vorweggenommen habe. P. fragt 2):
„Wollte K. dem Leser gleich am Anfang einen Wink geben,
er möge sich durch den sonst so ängstlich und oft pedantisch
durchgeführten Schematismus nicht für verpflichtet erachten,
die Sache allzu ernst zu nehmen?'* Meines Erachtens wollte
K. es dem Leser überlassen, die Betrachtung bei der Zeit
parallel zu derjenigen des Raumes anzustellen und die von
K. gegebene metaphysische Deduktion nach der Seite trans-
scendentaler Erörterung selbst umzugestalten. Letztere erhält
bei K. erst in der zweiten Auflage einen besonderen Abschnitt,
1) K.:Proleg. § 18. Reklam: S. 77.
*) P. Anm. zu S. 167.
»
— 40 —
während sie, wie Paulsen richtig bemerkt, in der ersten Auf-
lage als No. 3 in die mataphysische Deduktion eingefügt ist.
P. sucht die Kantische Auffassung von Raum und Zeit,
so wie sie uns in der Kritik vorliegt, aus der Dissertation
von 1770 heraus zu verstehen, die nach der Meinung unsers
Verfassers überhaupt den eigentlichen philosophischen Stand-
punkt K.'s klarer widergibt als die spätem Hauptwerke dos
großen Königsberger Philosophen. Aus der Entstehungsge-
schichte und aus dem Verhältnis der Kantischen Meinun<^r zu
den Auffassungen der früheren Philosophen erscheint ihm
dann das Hervortreten der metaphysischen Erörterung bei K.
in der Kritik erklärlich; denn die Idealität von Raum und
Zeit war K. schon lange klar, und die Fassung derselben von
1770 hat er nach P. „im ganzen*' in die Ästhetik übernommen.
Auch die transsc. Deduktion ist schon in der Dissertation
vorgezeichnet, besonders in ihrem Verhältnis zu den An-
schauungen von Newton und Leibnitz, die in diesem Punkte
gegensätzlich zu einander stehen. Newton sieht Raum und
Zeit als absolut seiende „receptacula" der Wirklichkeit an,
Leibnitz sucht beide als Beziehungen zwischen existierenden
Dingen und Vorgängen za verstehen, die mit diesen selbst
verschwinden. Erst K.'s transsc. Auffassung bringt nach P.
allen Anforderungen vülhges Genüge! Und gerade dieser
Charakter derselben sei in der Dissertation klar zum Ausdruck
gebracht worden. —
P.'s Mißverständnis besteht meines Erachtens in dieser
letzten Annahme. Er sieht nicht, wie vieles in der Kritik
geklärt und differenziert ist, was die Dissertation nur roh
gemischt und unklar enthält: z. B. die ^r^oße Scheidung' von
Sinnlichkeit und Verstand, während in der Dissertation nur
immer von den apriorischen Formen des „Geistes" übeihaupt
die Rede ist. Von hier aus werden die von P. behaupteten
Beziehungen zwischen K. und Leibnitz, K. und Newton und
zwischen K. und Berkeley am be.sten verständlich — Be-
ziehungen, die G. in seiner Polemik gegen P. als schwer-
wiegende Unterschiede enthüllt, während er leider den
eigentlichen Kern der irrtümlichen Auffassung P.'s, das Ver-
hältnis der Kritik zur Dissertation betreffend, ganz außer
Betracht läßt. Nur wenn P. jene Ausführung der Dissertation,
wo gesagt wird, daß „die Raumanschauung durch die Natur
— 41 —
des Geistes ursprünglich gegeben" sei^), als die maßgebende
erklärt, nur wenn P. Kant Aussagen machen läßt von zwei Ele-
menten „unserer sinnlichen Erkenntnis y, kann man ver-
stehen, wie P. zu der Behauptung kommt, K.'s Lehrbegriff
von Raum und Zeit sei , .eigentlich auch Leibnitz's Ansicht"
gewesen. Bei Leibnitz waren Raum und Zeit Funktionen
des Verstandes, wie G. näher ausführt, und wenn P. in bezug
auf K. nur von apriorischen Formen des „Geistes" spricht,
so bleibt der fundamentale Unterschied verborgen, nämlich,
daß in der Kritik dieser ,, Geist" zerlegt wird in Sinnlichkeit
und Verstand, wo dann Raum und Zeit Anschauungsformen
der Sinnlichkeit im Gegensatz zu den reinen Denkformen des
Verstandes werden, wodurch also die scheinbar nahe Be-
ziehung zwischen Leibnitz und K., die beide nach P. „eigent-
lich" derselben Ansicht sind, sehr gelockert wird. — Bei
Newton wird der Raum völlig zum empirischen Begriff, der
von den sinnlichen Gegenständen abgezogen wird, und bei
Berkelev wird der Raum mit der Materie idealistisch ins Sub-
jokt verlegt. Bei beiden geht die Materie also transscendental
der Form voraus, während nach K.*^) „die Anschauung des
Gegenstandes vor dem Gegenstand selbst" vorhergeht. Aber
die Formen, die a priori gegeben sein sollten, durften auch
hier nicht einfach dem „Geiste" zugesprochen werden, wie es
noch in der Dissertation geschieht, sondern sie mußten als
apriorische Formen der Anschauung scharf von den Verstandes -
formen gesondert werden, wenn die Möglichkeit objektiver
Erkenntnis, nämlich ein objektiver Stoff, in dem die Formen
des Verstandes sich betätigen, geschaffen werden sollte; und
das geschieht erst in der Kritik, die also trotz P.K.'s eigentliche
Meinung wiedergibt. In der Dissertation sind Raum und
Zeit ideal und subjektiv, weil sie auf den „Geist," also vor-
wiegend auf den Verstand bezogen werden ; in der Kritik da-
gegen sind sie objektiv gültig und empirisch real, weil sie als
Formen der Anschauung den Stoff dem Verstände vermitteln.
Hiervon wird sowohl beim Raum als auch bei der Zeit durch
K. noch die transsc. Idealität unterschieden „in Ansehung der
Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen
') Oiss. §^ 14. 15.
2) P. * S. 174.
^) K. Proleg. §45 8. 9.
— 42
werden^)". Daher erhalten bei K. die mathematischen Sätze
sogar dieselbe Bezeichnung wie die Begriffe und Grundsätze
des reinen Verstandes, nämlich objektiv real, wovon dann
nur noch die „schlechthin objektive Eealität" der Noumena
unterschieden wird-).
Als einen Mangel der Kritik d. r.V. jener Dissertation gegen-
über faßt P. die Tatsache, daß in der transsc. Deduktion das
eigentliche Ziel derselben, die gegenständliche Gültigkeit der
mathematischen Sätze zu beweisen, nicht rein herauskommt. Hier
nun wirkt schon der Fluch der oben erörterten falschen Auf-
fassung P.'s, in betreff des Kantischen Schematismus, der nun
bei ihm fortzeugend Falsches gebärt. Sicherlich ist es der Sinn der
gesamten Kantischen Meinung, daß nicht nur die reine, son-
dern auch die angewandte Mathematik objektive Gültigkeit
habe. Aber dieses Problem gehört nach K. keineswegs voll-
ständig in die Ästhetik; K. trennt gerade die reine Anschauung
von der empirischen. Im Rahmen der ersteren bewegt sich
nach K. die reine Mathematik; zur Gegenständlichkeit der-
selben muß aber noch ein Faktor hinzukommen: das Schema,
welches in der Analytik der Grundsätze behandelt wird.
Nicht wie P. meint, hat der Schematismus Schuld daran, „daß
die eigentliche Deduktion ... aus der Ästhetik in die Analytik
verlegt worden ist (unter dem Titel: „Axiome der Anschauung''),"
sondern ein klarer Kantischer Gedanke, nämlich die gegen-
ständliche Gültigkeit der reinen Mathematik und der reinen
Kategorien durch den „Schematismus** vermitteln zu wollen,
liegt vor, dessen Berechtigung oder Nichtberechtigung den
Kantdarsteller zunächst noch nichts angeht, sondern nachher
erst den Kantkritiker zu beschäftigen hätte. Jener Unter-
scheidung der reinen und empirischen Anschaung wird P.
nirgends gerecht; und wenn er schreibt^): „Wäre man von
1) Anra. Die wesentlichen Stellen aus der Dissertation, die hier in
Betracht kommen, sind:
§ 14,5 tempus non est objectivum aliquid reale.
§ 15: d spatium non est aliquid objectivi et realis . . .
Absatz e: quamcjuam horum principium non sit nisi subjectivum.
Demgegenüber Kr. d. r. V. S. 56/56. S. 62. S. 72. Vgl. dazu Barth •
Recension von P.'s Kant. Kantstudien III. S. 224. f.
») K.-Kr. d. V. V. S. 231.
•'') P * S. 173.
*) P * S. 174.
— 43 —
der Dissertation ausgegangen, so hätte niemals ein Zweifel
darüber entstehen können, daß es sich ursprünglich bei der
neuen Konzeption in erster Linie um den Beweis dafür han-
delte, daß die mathematischen Sätze ohne Verlust ihrer Not-
wendigkeit und Allgemeinheit auch von empirisch gegebenen
Größen gelten;" — so können wir daraus nur schließen, daß
K. später diese Aufgabe einzig in der Weise lösen zu können
glaubte, daß er das Problem in zwei gesonderte auseinander-
legte, und zunächst die Allgemeingültigkeit der reinen Mathe-
matik in der Ästhetik, dann die der angewandten in der Analytik
behandelte. Diese strenge Teilung des Problems läßt sich
auch in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Natur-
wissenschaften" nachweisen, wo K: sagt^): „Reine Vernunft-
erkenntnis aus bloßen Begriffen heißt reine Philosophie oder
Metaphysik, dagegen wird die, welche nur auf der Konstruk-
tion der Begriffe vermittelst Darlegung des Gegenstandes in
einer Anschauung a priori ihr Erkenntnis gründet, Mathematik
genannt." Im weiteren Verlauf dieser Erörterung wird diese
„Darlegung des Gegenstandes in Anschauung a priori"
aber streng unterschieden von dem Gegenstande selbst, wel-
chem wir nach K. eine „Natur" beilegen, während „dem Gegen-
stand in Anschauung a priori" nur ein „Wesen*' zukommt^):
„Wesen ist das erste, innere Prinzip alles dessen, was
zur Möglichkeit eines Dinges gehört. Daher kann man
den geometrischen Figuren (da in ihnen nichts, was ein Dasein
ausmachte, gedacht wird) nur ein Wesen, nicht aber eine Na-
tur beilegen." Auf das, was K. hier das „Wesen'* nennt,
kommt es bei der reinen Mathetik allein an, nämlich auf die
in der Ästhetik behandelte „reine Anschauung", die jeder em-
pirischen schoi\ zu Grunde liegen muß.
In Goldschmidts Erörterungen, die vielleicht mehr den
Zweck verfolgen, K's Meinung klar zur Darstellung zu bringen
als gegen P. zu polemisieren, kommt der oben behandelte
Mangel der Paulsenschon Darstellung nicht zur Geltung.
Der kritische Gedanke, der, ohne allerdings an irgend
einer Stelle klar ausgesprochen zu sein, P.'s Ausstellungen an
K. leitet, ist der Zweifel an der Möglichkeit der „reinen An-
1) „MeUph. Anf. d. Naturwiss." (Akad. d. Wiss.) S. 469,
») K. a. a. 0. S. 467. (Vorr. Anm.J
— 44 —
— 45 —
I*
schauung." Ich glaube, hier wird auch jede Kritik an K.'s
Ästhetik einzusetzen haben. K. gelangt zur ,, reinen An-
schauung" durch Analyse der Erscheinung, in welcher er
Materie, die der „Empfindung" korrespondieren soll und Form
unterscheidet, indem er letztere dann als „reine Form der
Anschauung" zu einem apriorischen Bestand der Sinnlichkeit
machte. E. v. Hartmann macht mit Recht darauf aufmerksam,
„daß es in aller Strenge eine unsere Fähigkeit übersteigende
Aufgabe ist, eine von aller empirischen Empfindung gereinigte
Anschauung des abstrakten Raumes zu gewinnen^)." Wenn
wir es versuchen, so stellen wir uns immer ein irgend wie
subjektiv erhelltes Gesichtsfeld vor; aber, fügt Rehmke hinzu,
unsere Aufmerksamkeit ist so sehrauf Gestalt und Ausdehnung
konzentriert, ,,daß es den Anschein erweckt, als ob wir in der
Tat ,die reine Anschauung* als Anschauung für sich hätten;"
— darnach ist also die Kantische „reine Anschauung" garnicht
Anschauung, sondern Begriff. —
Nach P. stehen die Prolegomena in Bezug auf die
mathematischen Urteile in einem gegensätzlichen Verhältnis
zur Kritik: es wird „das Verhältnis zwischen Beweisgrund
und Beweisziel beinahe umgekehrt 2)." Nicht die Idealität
von Raum und Zeit sei Grund der allgemeinen Gültigkeit
mathematischer Erkenntnisse, sondern die Gewißheit und
Wirklichkeit der Mathematik sei Beweisgrund für die Idealität
von Raum und Zeit — K. fügt das Beiwort „kritisch" hinzu, um
seinen Idealismus von dem „träumenden" oder ,, schwärmenden"
Berkeleys zu unterscheiden^). Was diese von P. getadelte
Umkehrung von Beweisgrund und Beweisziel anbetrifft, so
erscheint diese Bemerkung unbegreiflich, wenn man K.'s Ein-
leitung zu den Prolegomena gelesen hat, wo K. überhaupt
eine Umkehrung der Methode der Kritik in Aussicht
stellt. Dort — in der Kritik — sei er analytisch vorgegangen,
und hier — in den Prol. — wolle er nun auf synthetischem Wege
die gewonnenen Resultate entwickeln; wodurch dann eine Um-
kehrung von Beweisgrund und Beweisziel nicht nur beinahe,
wie P. meint, sondern gänzlich vor sich geht.
») Siehe Rehmke: Welt als Wahrn. u. Begr. S. 32 f.
2) P * S. 174.
3) K. Prol. § 13. Anm. 3.
Mit der Frage nach der objektiven Gültigkeit der
Mathematik hängt aufs engste die Bedeutung der Zeit im
Kantischen System überhaupt zusammen. P. verlegt jene
schon gänzlich in die Ästhetik und übersieht infolgedessen
die doppelte Funktion der Zeit resp. er sieht in der Bedeutung
der Zeit in K.'s Schematismus der Verstandesbegriffe eine
Konsequenz der scholastischen Systematik der kantischen
Philosophie. Die Zeit ist es nach K. gerade, welche den Über-
gang vermittelt zwischen der Ästhetik und der Analytik,
zwischen der reinen und der angewandten Mathematik. In
K.'s Ästhetik gewinnt es leicht den Anschein, als stände die
Zeit völlig auf gleicher Linie mit dem Raum, während sie in
Wirklichkeit eine doppelte Funktion bei K. erfüllt: einmal
ist sie reine Form der innern Anschauung und dann ist sie
das zwischen der reinen und der empirischen Anschauung
vermittelnde Schema. — Leider wird auch bei Goldschmidt
dieser doppelte Charakter der Zeit mit keinem Wort berührt,
wodurch meines Erachtens seine Polemik gegen P.'s Ver-
mischung der reinen und der angewandten Mathematik einen
wichtigen Stützpunkt unbenutzt läßt. —
Die von P. nicht im Sinne K.'s vollzogene Trennung
zwischen der reinen und der empirischen Anschauung zeitigt
bei P. sofort ein neues Mißverständnis über die Natur jener
reinen Anschauungsformen: Raum und Zeit. P. glaubt sie
im Sinne K.'s als „Anschauungsformen im Subjekte" zu de-
finieren; „wobei dann natürlich nicht an präexistente ruhende
Formen, die wie Gefäße bereit gehalten würden, zu denken
ist, sondern an Funktionen der Anordnungen des Mannig-
faltigen der Empfindung, die nur in der Funktion selbst
Wirklichkeit haben ^)". In seiner „kritischen Stellungnahme
zu den in der transsc. Ästhetik entwickelten Ansichten^)",
meint P.: „K. hat Recht, daß Raum und Zeit als Auffassungs-
funktionen vom Subjekt hervorgebracht, nicht aber von draußen
,durch Erfahrung' aufgenommen sind." Darnach hätte K.
in Wirklichkeit aber im Sinne P.'s nicht Recht, denn es ist
K.'s Meinung keineswegs, daß Raum und Zeit „als Auffassungs-
funktionen vom Subjekt hervorgebracht" sind, also vom Sub-
») P. ♦ S. 170.
2) P. * S. 176.
— 46 —
— 47
III
jekt aus „spontan" gewirkt werden. Man wird nicht fehlgehen,
wenn man annimmt, daß P.'s hier gebrauchter Begriff des
„Subjekts" mit dem von K. in der Dissertation verwendeten
Begriff des ,. Geistes" gleichzustellen ist, er umfaßt also Sinn-
lichkeit und Verstand, während dieKritikd.r.V. die spontaneTätig-
keit und auch den Begriff der „Funktion", der von P. auch
in Bezug auf die Sinnlichkeit angewandt wird, auf den Ver-
stand beschränkt^). „Alle Anschauungen als sinnlich, beruhen
auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen." In der
Dissertation (§ 15) werden beide „Begriffe" nicht als ange-
boren bezeichnet, sondern als eine „Tätigkeit des Geistes, die
alles Wahrgenommene nach festen Gesetzen koordiniert";
während K. in der Kritik den rezeptiven Charakter der Sinn-
lichkeit der spontanen Verstandestätigkeit gegenüberstellt —
eine Meinung, die P. und Adickes, der im ganzen P.'s Kant-
auffassung teilt, nicht als die eigentliche und wesentliche bei
K. anerkennen. Adickes meint ^): Wenn K. in der Sinnlichkeit
nur eine Rezeptivität sieht im (regensatz zu der Spontaneität
des Verstandes, so sei das den „Grundsätzen der heutigen
Sinnes - Physiologie total zuwider , da diese unsere
Empfindungen nur als Reaktionen unseres Organismus auf
Eindrücke von außen begreifen kann." Abgesehen davon,
ob diese Auffassung von Adickes tatsächlich den Grundsätzen
der modernen Sinnesphysiologie entspricht, hat Adickes leider
übersehen, daß K. ganz dasselbe nur mit ein wenig andern
Worten zunächst in Bezug auf die Zeit in einer Anmerkung
zur 4. Antinomie ausspricht^): „Die Zeit geht zwar als formale
Bedingung der Möglichkeit der Veränderungen vor dieser
objektiv vorher, allein subjektiv und in der Wirklichkeit des
Bewußtseins, ist diese Vorstellung doch nur, so wie jede
andere, durch Veranlassung der Wahrnehmungen gegeben."
K. will sich gegen das Mißverständnis schützen, als könnte
das Subjekt in irgend einem Augenblick die reine Raum-
und Zeitanschauung tatsächlich ohne Inhalt haben. Auch alle
physischen Bedingungen des Wahrnehmungsprozesses, der
ganze physische Organismus, der für die Sinnes-Physiologie
in Betracht kommt, ist doch als Material der Sinnlichkeit zu
verstehen, welche nach K. in den rezeptiv, nämlich rein
empfangend zu Grunde liegenden Formen der Anschauung
das Objekt der spontanen Verstandestätigkeit vermittelt. —
Eine petitio principii glaubt Adickes darin entdecken zu
müssen, „daß wir Empfindungen völlig ungeordnet bekommen
und selbst erst durch die apriorischen Formen der Sinnlichkeit
Ordnung in das Chaos bringen", wodurch dann nach Adickes
eine Spontaneität der Sinnlichkeit zum Vorschein komme ^).
Ich denke, wenn Adickes das hier vorliegende Verhältnis
Spontaneität nennen will, so mag er es, nur ist es nicht die-
selbe „Spontaneität," die K. für die Tätigkeit des Verstandes
in Anspruch nimmt. Nach K. geben Raum und Zeit als An-
schauungsformen der Sinnlichkeit vermöge der Synthesis der
Apprehension dem Verstände Objekte zur Betätigung seiner
Kategorien — bald dieser, bald jener Kategorien, je nach der
speziellen Erkenntnis die ihn gerade interessiert — ; die Frage,
wie der Verstand bald diese, bald jene Kategorie anwenden
kann, beantwortet K. nicht, sie wäre ein besonderer Gegen-
stand der Kantkritik — hier liegt nach K. also Spontaneität
vor, während dort Raum und Zeit als allgemeine Formen der
Anschauung bereitliegen, in welche alles, was überhaupt als
Bewußt-Seiendes dem Menschen gegeben ist, eingehen muß.
Bei der Behandlung der Analytik der Begriffe wirft P.
die Frage auf, ob Raum und Zeit überhaupt als einzige An-
schauungsformen von K. erwiesen seien. Nach P. hat K.
versäumt, eine systematische Vollständigkeit der Anschauungs-
forraen zu geben^). So viel ich sehe, ist dieser Vorwurf P.'s
nicht gerechtfertigt; K. schreibt nämlich'^): „Daß schließlich
die transsc. Ästhetik nicht mehr als diese zwei Elemente, näm-
lich Raum und Zeit enthalten könne, ist daraus klar, weil alle
andern zur Sinnlichkeit gehörigen Begriffe, selbst der der
Bewegung, welcher beide Stücke vereint, etwas Empirisches
voraussetzen." Damit glaubt K. doch den von P. vermißten
Beweis gegeben zu haben — ob er genügt, das wäre allerdings
eine besondere Frage der Kantkritik.
1) K. Kr. d. r. V. S. 88.
*) Adickes: Ausgabe der Kr. d. r. V. Anm. zu S. 67.
») K. Kr. d. r. V. Anm. zu S. 374.
1) Adickes: a. a. 0. Anm. zu S. 68.
«) P. * S. 181.
3) K.: Kr. d. r. V. S. 65.
— 48
_ 4Ö -
!■
I,
Als besonderen Vorteil des transsubjektiven Charakters
der Sinnlichkeit betrachtet P. die damit verbundene
„Möglichkeit einer idealistischen Metaphysik." Die Vernunft
wird in Freiheit gesetzt, sich die Wirklichkeit als Ideen-
welt, frei von den Schranken von Raum und Zeit, zu kon-
struieren. Durch das Bewußtsein der Idealität von Ranm und
Zeit übersieht die Vernunft ihre Lage „und mag einmal die
Mittel finden» ans Tageslicht der intelligiblen Welt harauszu-
treten, wenn nicht durch spekulative, so durch praktische
Ideen geleitet^).**
Wir haben hier die Konse(iuenz der Paulsenschen Grund-
tendenz, auf K.'s Schultern und, wie er meint, in seinen FuiJ-
tapfen eine positive idealistische Metaphysik aufzubauen (!!)
trotz der vielen gegenteiligen Äußerungen K.'s und vor allem
trotz des großen Widerspruchs, in dem dieses Unterfangen
zum Grundgedanken der ganzen Kantischen Gedankenarbeit
steht! —
d) Transsc. Analytik der Begriffe.
Die transsc. Analytik bildet den eigentlichen Kern der
kantischen theoretischen Philosophie. Die vornehmste Schwie-
rigkeit dieses Hauptteiles der Kr. d. r. V. glaubt P., indem er
sich auf Schopenhauer beruft, darin zu finden, daß bei K.
das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand unklar ge-
blieben sei. P. formuliert diese Schwierigkeit so: „Findet er
[der Verstand] die Ordnung in der Zeitfolge als gegeben vor
oder bringt er sie erst durch seine synthetische Funktion in
die Empfindungen, die der Sinnlichkeit als ein bloß chaotisches
Gewühl gegeben sind, hinein? Anders ausgedrückt: Sind die
empirischen Gegenstände der Anschauung gegeben, oder wer-
den sie erst durch die Tätigkeit des Verstandes hervorgebracht^)?'*
Schon in der Fragestellung offenbaren sich die bösen Früchte,
die P.'s schiefe Auffassung der Ästhetik für seine Behandlung
der Analytik treibt. Die kantische Antwort lautet meines Er-
achtens so: Absolut gegeben sind dem menschlichen Erkennt-
nisvermögen, also der Sinnlichkeit und dem Verstände, nur
die Affektionen des Dinges an sich, also unangeschaute und
ungedachte „Empfindungen"; diese werden durch die Sinn-
lichkeit in einer apriorischen Raumordnung und Zeitfolge an-
geschaut; und vermöge der Einheit der Apperzeption, die das
menschliche Erkenntnisvermögen als solches den Tieren gegen-
über charakterisiert, fallen die in Raum und Zeit angeschauten
Empfindungen zugleich den apriorischen Begriffen zu, durch
welche der Verstand spontan Gegenstände erkennt! Die
Alternative, die wir bei P. aufgestellt finden: „Sind empiri-
sche Gegenstände der Anschauung gegeben oder werden sie
erst durch die Tätigkeit des Verstandes hervorgebracht" be-
deutet in dieser Form gerade die Aufhebung der Kantischen
Tat, nämlich der transsc. Verknüpfung zwischen Sinnlichkeit
und Verstand, wodurch eben der Streit der früheren Richtun-
gen der Metaphysik: des Empirismus und des Rationalismus,
kritisch geschlichtet werden soll — und nun kommt P. und
bringt gerade diese beiden Richtungen als ein Entweder — Oder
an die Kantische Auffassung heran! Seiner Grundtendenz ge-
mäß, bei K. überall die rationalistischen Elemente aus dem
Gesamtzusammenhang herauszulösen und sie als die eigentliche
Meinung K.'s zu proklamieren, deutet er Kants Absicht an
dieser Stelle rationalistisch um, indem er ihn in der Ästhetik
darlegen läßt, daß Raum und Zeit nicht als ruhende Formen,
sondern als Funktionen aufzufassen sind — „"^ie es K. doch
wilP)" (?) — Funktionen, deren Ausübung dann der Verstand
gemäß seiner Gesetzmäßigkeit bestimmt. Da hätten wir also
den receptiven Charakter der Sinnlichkeit aufgegeben und
Raum und Zeit als spontane „Funktionen" denen des Verstan-
des an die Seite gestellt. Das ist kein Kantischer, wohl aber
Schopenhauerscher Gedanke, und weder in der Ästhetik, noch
in der Analytik findet sich irgend etwas, was ihn rechtfertigen
könnte. — Naturgemäß muß P. nun, um auch den nicht ra-
tionalistischen K. zu berücksichtigen, in ihm eine dieser
eigentlichen Kantischen Auffassung widersprechende An-
schauung konstatieren, die überall in die erstere hineinbricht
und seiner Meinung nach große Unklarheit und Verwirrung
anrichtet : die empiristische Anschaung : „Gegenstände und Kräfte,
1) P. * S. 176.
«) P. ♦ S. 178.
i) P.* S. 178
— 50 —
— 51 —
Zeitfolge und E-aumordnung sind gegeben^)." Schon die Zu-
sammenstellung kennzeichnet die Unklarheit der eigentlichen Mei-
nung P's. P. will das, was er meint, ^verständlicher machen durch
einen Hinweis auf dieselbe Schwierigkeit, die wir bei den
synthetischen Urteilen a posteriori vor uns haben. An der
betreffenden Stelle haben wir das hier vorliegende Mißver-
ständnis P's. dargelegt.
Allerdings stellen uns K's Kategorien vor eine Alter-
native, zu deren Beantwortung K. selbst nichts beiträgt: aber
bei P. tritt sie nicht mit genügender Klarheit hervor. P. als
Empirist geht von der empirischen Erfahrung aus und fragt:
„Sind die empirischen Gegenstände der Anschauung gegeben
oder werden sie erst durch die Tätigkeit des Verstandes her-
vorgebracht?" Der Kantianer könnte antworten, daß empiri-
sche Gegenstände der Anschauung erst durch die
Kategorien aus dem Mannigfaltigen der Anschauung sich er-
geben. Nicht das Verhältnis der ersteren zum Verstände
steht also zur näheren Diskussion, sondern das Verhältnis
zwischen dem Mannigfaltigen der Anschauung und dem Ver-
stände. Es fragt sich höchstens, welches der Grund sei,
„daß ich ,das Mannigfaltige der Anschauung' hier unter
die , Einheit* dos Quantum, dort unter die des Quäle, jetzt
unter die »Kategorie' der Substanz und ein anderes Mal ein
Gegebenes unter die der Causalität bringe^)?" Es handelt
sich in der kritischen Frage, die allerdings tatsächlich an
dieser Stelle an das Kantische System zu stellen ist, um das
Verhältnis, welches zwischen bestimmtem „Mannigfaltigen der
Anschauung" und bestimmten Kategorien bestehe; wodurch
sich erklären ließe, daß dieses Anschauungsmaterial gerade
unter diese Kategorien fällt. In der Willkür des Ich kann
der Grund nicht liegen, da wir selbst von jener Willkür
nichts wissen; in der gegebenen Anschauung auch nicht, denn
Anschauung und Begriffe stehen nach K. in völligem Gegen-
satz zu einander^).
K. täuscht sich nach P. über das Mangelhafte seiner
Darlegung durch die dogmatische Form seines Schematismus
hinweg, während er zu einer „genetischen Untersuchung" nicht
kommt. Im übrigen komme bei K. „das begriffliche Denken
mit seiner Form, der Klassifikation, zu kurz; „er sieht nur
auf die Einordnung in den anschaulichen, räumlichzeitlichen
Zusammenhang, nicht auf die Einordnung in das begriffliche
System^)."
Die Tatsache, die Chamberlain bei K. nicht genug rühmen
kann^), nämlich daß er völlig dem Goethischen Satz gemäß sein
System baut : „Alles Denken nützt zum Denken nichts," daß
er die Anschauung in den Vordergrund seiner Theorie der
Erkenntnis rückt, das wird ihm also hier bei P. zum Fehler
angerechnet. Vielleicht aber übersieht P. selbst garnicht,
daß dieser Vorwurf, den er gegen K. erhebt, noch weitere Gel-
tung hat; denn eigentlich kommt bei K. sogar nur die räum-
liche Anschauung in Betracht; bei ihm steht das Auge völlig
im Vordergrund als der Sinn, der allein ihm Wahrnehmungen
vermittelt; und das reine Erzeugnis der Sinnlichkeit erhält
eben bei ihm die Bezeichnung „reine Anschauung." Schon
in der Wahl dieses Begriffs könnte man die hervorragende
Bedeutung des Gesichtssinnes bei K. erkennen. Eigentlich
fallen aber nur die räumlichen Wahrnehmungen unter den
Begriff „Anschauung," für die zeitlichen wird deshalb bei K.
noch die besondere Bezeichnung der „inneren Anschauung" ge-
genüber der räumlichen „äußeren" Anschauung gebildet —
eine Unterscheidung, die keineswegs auf einem tatsächlichen
Gegensatz von äußerm und innerm beruhen kann. — Gold-
schmidt polemisiert gegen P's Ausstellungen an diesem Punkte;
leider vermissen wir sowohl eine Verteidigung K's, als auch
») P. * S. 179.
2) Rehmke: Welt als W. u. Begr. S. 194.
^) Zu einer scheinbaren Lösung führt Chamberlains „Zwischen-
gebiet'* zwischen dem Reiche des reinen Verstandes und der reinen
Sinnlichkeit, welches eben ausgefüllt gedacht wird durch „schematisierte
Anschauungen" und „symbolische Begriffe", wobei er also annimmt, daß
wir schon mit den empirischen Gegenständen beides: das Anschauungsmaterial
gerade in diesen apriorischon Formen gegeben haben ! Abgesehen davon,
daß bei K. „symbolische Begriffe" nirgends eine Rolle spielen, suchen
wir gerade ein Verständnis jener Annahme, weshalb K. die Begriffe, die
immer nur an den Anschauungen erkannt werden, also in ihnen sind,
völlig von diesen treunt und ihnen sogar eine ganz andere Herkunft wie
den Anschauungen, nämlich im Verstaude gibt. —
1) P. * S. 182.
2) Chamberlain a. a. 0. S. 251 ff. S. 577 ff. S. 580: „Aus der An-
schauung entstehen für ihn die erkenntniskritischen Probleme".
4*
ft
^ h'2 —
überhaupt ein Verständnis der von P. gerügten alleinigen
„Einordnung in den anschaulichen, räumlichzeitlichen Zusam-
menhang" — was G. anführt, ist lediglich eine Wiederholung
K's, der wie mir scheint, an dieser Stelle durchaus richtig
von P. dargestellt und auch an der tatsächlichen Achillesferse
durch P's Einwurf getroffen ist.
Nach P. fehlt bei K. ferner „die eigentliche Form des
begrifflichen Denkens, die systematische Über- und Unter-
ordnung^)," also die Subsumtion. Dieser Vorwurf P's läßt
sich nur verstehen unter der Voraussetzung, daü er den
transsc. Gesichtspunkt K's, dem er nirgends in seiner Darstel-
lung völlig gerecht wird, wieder einmal aus dem Auge ver-
loren hat. Das 1. Buch der transsc. Analytik beginnt mit
dem Satze: „Ich verstehe unter der Analytik derBegriffe nichteine
Analysis derselben, oder das gewöhnliche Verfahren in philo-
sophischen Untersuchungen, Begriffe, die sich darbieten, ihrem
Inhalte nach zu zergliedern und zur Deutlichkeit zu bringen,
sondern die noch wenig versuchte Zergliederung des Ver-
standesvermögens selbst, um die Möglichkeit von Begriffen a
priori zu erforschen." P. sieht nur auf die empirischen
Gegenstände, welche unter Begriffe subsumiert werden sollen
und mißversteht infolgedessen das Kantische Unternehmen.
In der transsc. Logik soll die reine Synthesis der Vorstel-
lungen auf Begriffe gebracht werden, nicht die Vorstellungen
selbst, denn dies ist ein Geschäft der allgemeinen Logik^),
und hier in der allgemeinen Logik, wo K. analytische und
synthetische Urteile unterscheidet, da haben wir es nur mit
Subsumtionen zu tun. — Bloße Wahrnehmungsurteile werden
nach K. zu objektiven Erfahrungsurteilen, wenn in ihnen die
logischen Urteile der Kategorien den allgemeinen Obersatz
bilden. Die Subsumtion kann also niemals, wie P. will, auch
als eine Kategorie in einer Keihe mit den Kategorien stehen,
denn sie drückt den Charakter aller Kategorien aus, „die
ihren Ursprung gänzlich a priori im reinen Verstände haben,
unter die jede Wahrnehmung allererst subsumiert und dann
vermittelst derselben in Erfahrung kann verwandelt werden^)."
1) P. * S. 182.
«) K.: Kr. d. r. V. S. 95.
») K: Prol. S. 77.
— 53 —
Bei der Subsumtion handelt es sich also immer um einen
empirischen Umfang und nicht um ein transsc. Verhältnis.
Für das Gesamtproblem der Kr. d. r. V. erblickt P. in
der Einführung der Kategorien nur eine Tatsache, die geeignet
ist, „die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Problem ab-
zulenken^)," nämlich von dem „eigentlichen Problem," welches
P. dem K. nur zu behandeln gestattet, welches in Wirklichkeit
aber, wie oben zu zeigen versucht worden ist, das Kantische
Problem in Unklarheit und in rationalistischer Einseitigkeit
wiedergibt. Das ganze Schema der Einteilung der Begriffe
ist für P. eine „Künstelei;" und während Schopenhauer nur
eine Kategorie beibehält: Die Causalität, möchte P. auch die
Substantialität nicht missen — wenn überhaupt ein Aprioritäts-
charaktor angenommen w^orden soll. Goldschmidt'^). glaubt
P. hier bei einer lukonse(|uenz zu überraschen, weil P. hier
zwei Kategorien anzuerkennen scheint und später in
der Behandlung der Analytik der Grundsätze gerade gegen
die Kategorie der Causalität einen lebhaften Kampf führt.
Eine aufmerksamere Lektüre der allerdings nicht immer ein-
wandfreien Darstellung und Ausdrucksweise P's muß uns
aber überzeugen, daß P. in seiner Kantkritik, also für sich
selbst, jede Apriorität tatsächlich ablehnt. G. citiert P. ganz
richtig: „Ich würde noch eine ausnehmen, die Kategorie der
Substantialität" — P. würde mit diesen beiden Kategorien
auskommen, wenn er überhaupt einen Aprioritätscharakter
des menschlichen Verstandes anzunehmen sich gezwungen sähe.
Der Grund, den P. für die Auswahl dieser beiden Be-
griffe anführt, ist allerdings geeignet, G's Spott hervorzurufen.
P. schreibt'*): ,,ln der Tat sind es diese beiden, die K., wenn
er Beispiele der Kategorien braucht, regelmäßig anführt."
xlbgesehen davon, daß darin doch kein Beweis zu erkennen
ist, vielleicht K. selbst sogar den Glauben an eine größere
Apriorität dieser Kategorien den andern gegenüber zu vindizieren,
ist diese Beobachtung P's keineswegs unanfechtbar. — Im
übrigen hätte P. sich auf eine Richtung der modernen Philo-
sophie berufen können, die das Kantische Apriori an sich
anerkennt, die Zahl der Kategorien aber auf zwei: Identität
») P. * S. 180.
») G. S. 117.
») P. ♦ S. 181.
Wl
i
— 54 —
und Causalität beschränkt*). Allerdings besteht hier ein
wesentlicher Unterschied zu den Kantischen Kategorien:
während sie getrennt von dem in der Anschauung Gegebenen
gedacht werden sollen, existieren diese beiden nach Schuppe^)
„in unserem Bewußtsein nur als Bestimmungen von Gegebenem,
von etwas, was da identisch oder verschieden ist, und mit
anderem etwas kausal verknüpft ist." — Die große Schwierig-
keit eines Verständnisses P.'s an dieser Stelle liegt darin, daß
er seine Meinung nicht systematisch geäußert hat, so daß wir
nicht klar erkennen, in welchem Sinne er jene beiden Be-
griffe aufgefaßt wissen will. Die Verwandtschaft mit Schui)pe
iällt aber sofort ins Auge; es würde sich nur darum handeln,
die enge Beziehung zwischen P's Kategorie der Substantiali-
tät und Schuppes Identität zu erweisen. Bei der ersteren
handelt es sich meines Erachtens, um mit K. zu sprechen,
um ein Verhältnis der Inhärenz — also um die in dieses
Verhältnis gehörige Gruppe der Kantischen Relationsurteile;
bei Schuppes Identität handelt es sich um Urteile, die durch
das Verhältnis der Dependenz charakterisiert werden — wel-
ches schließlich dieselben Urteile sind, und was auf dasselbe
herauskommt: Die Tasse ist weiß; der Garten ist rechteckig
etc. sind Urteile, die sowohl P's Kategorie der Substantialität
wie auch dem Schuppeschen Identitätsverhältnis zufallen. —
Durch diese Exkursion sind wir nun in die Lage versetzt, P.
gegen Goldschmidts Vorwurf in betreff dieser Auswahl der
Kategorien zu verteidigen. G. möchte wissen, in welche der
beiden von P. anerkannten Urteilsarten P. Urteile wie: „Die
Winkelsumme im Dreieck ist gleich 2 R," ,,der Montblanc
liegt 4800 m über dem MeeresspiegeP)" einordnen will. Ich
glaube, P. würde sie unbedingt zu den Substantialitäts- oder
identischen Urteilen rechnen, zu denen nach P. überhaupt alle
mathematischen Urteile gehören, da sie für ihn nur ein logi-
sches, kein reales Verhältnis ausdrücken*).
P. vermißt in dem Kantischen Kategorien-Schema „manche
logischen Formen, die wirklich ontologische Gültigkeit in
— 55 —
Anspruch nehmen".^) Den Satz des Widerspruchs, ferner
Gleichheit, Verschiedenheit, Ähnlichkeit! Die Behandlung
des Satzes vom Widerspruch fehlt aber in der Kritik keines-
wegs; er wird als Prinzip der analytischen Urteile^) eingeführt
und bedingt die Identität unseres Bewußtseins in unsern Be-
griffen; nach Goldschmidf'^) ist damit dieser logischen Form
völlig Genüge getan, und ebenso sind seiner Meinung nach
Gleichheit und Verschiedenheit durch die Kantische Behand-
lungunter den Reflexionsbegriffen^) als erledigt zu betrachten. —
Ich bin überzeugt, daß K. P. gegenüber hier den richtigeren
Standpunkt vertritt, wenn er Verschiedenheit und Gleichheit —
oder wie er sagt: Einerleiheit, wodurch dann auch das Miß-
verständnis vermieden wird, als ob es sich um „Gleichheit"
bei der psychologischen Ideenassociation handelt, Gleichheit
hat hier vielmehr den Sinn von Identität — nicht unter die
reinen Verstandesbegriffe rechnet und sie damit erkenntnis-
theoretisch verwendet, sondern ihnen psychologische Bedeutung
zuschreibt — allerdings ohne es eigentlich zu wollen und sich
der Tatsachen, die näher zu erörtern hier nicht der Ort ist,
bewußt zu werden. Seine Unterscheidung in eine logische
und eine transsc: Reflexion in Bezug auf diese Begriffe ver-
liert allerdings schon dann jede Bedeutung, wenn sich seine
Unterscheidung einer intelligiblen und sensiblen Welt als un-
haltbar erweist. — Identität und Verschiedenheit tauchen bei
K. in der Kritik noch einmal auf in der Kritik der spekulativen
Theologie^). Dort wird Identität durch das logische Prinzip
der Gattungen postuliert, welchem das der Arten entgegen-
steht. Hier werden Identität und Verschiedenheit zu regu-
lativen Ideen: „die Vernunft zeigt hier ein doppeltes, einander
widerstrebendes Interesse, einerseits das Interesse des Umfangs
(der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, anderer-
seits des Inhalts (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannig-
faltigkeit der Arten." K. nennt den sich hier offenbarenden
Grundsatz „ein transsc. Gesetz der Spezifikation." — Die
^) Schuppe: Logik S. 36.
*) Schuppe a. a. 0. S. 37.
») G. S. 118.
*) P. * S. 144.
1) P. ♦ S. 182.
«) K.: Kr. d. r. V. 150 ff.
3) G. S. 118.
*) K.: Kr. d. r. V. S. 139 ff. S. 141 ff.
») K. : Kr. d. r. V. S. 510 f.
— 56 —
dritte von P. vermißte Kategorie der Ähnlichkeit würde als
abgeleitete sich aus den beiden andern ergeben. Sie faßt
Gleichheit und Veischiedenheit in sich und hat ihre eigentliche
Bedeutung einzig in dem Gesetz des Vorstellens, also in rein
psychologischen Prozessen.
In Bezug auf den Grundgedanken der Kantischen Ana-
lytik unternimmt es G., der Paulsenschen Darstellung ein
fundamentales Mißverständnis nachzuweisen, indem er bei
P. eine Verwechslung zweier grundlegender Begriffe entdeckt').
P. bezeichnet die Natur ohne erkennenden Verstand angeblich
mit K.'s Worten als ein „Gewühl von Empfindungen",
während K. sich richtig ausdrückt „Gewühl von Erscheinungen."
Meines Erachtens steht dieser Schreibfehler P.'s in keinem
Verhältnis zu der Bedeutung, die G. ihm beilegt. Schwerer
wiegt schon eine andere Verwechslung bei P., auf die G.
aufmerksam macht-). Alle Verbindung des Mannigfaltigen der
Empfindung stammt aus der spontanen Tätigkeit des Sub-
jekts^). Vielleicht kann man in diesem Satze P.'s mehr wie
einen Schreibfehler, sondern schon ein Mißverständnis K.'s
und eine Reminiscenz an Schopenhauer erblicken. Es muß
selbstverständlich heißen: Alle Verbindung des Mannigfaltigen
der Anschauung Dieselbe Verwechslung findet sich
bei P. noch einmal in der Behandlung der Antizipationen*), wo
P. der „Empfindung" außer Extensivität auch Intensivität,
einen Grad, zuspricht; während es sich in AVirklichkeit um die
Kantische „Anschauung" handelt. P. schreibt im Sinne
K.'s.^): ,,Daß wir die Wirklichkeit als eine einheitliche, von
Gesetzen beherrschte Vielheit dauernder Dinge, als ein kosmi-
sches System anschauen, das ist eine Folge nicht der Konsti-
tution der Wirklichkeit an sich .... denn die Wirklichkeit
an sich mit ihrer Gesetzmäßigkeit wandert nicht in unsere
Vorstellung über, .... es ist vielmehr die Wirksamkeit des
Verstandes, der seine Einheit und Gesetzmäßigkeit in die ge-
gebenen Wahrnehmungselemente hineinträgt" Gold-
schmidt wendet dagegen ein, daß der Rezeptivität der Sinn-
G. S. 126 f.
») G. S. 123.
») P. * S. 183.
*) P. * S. 184 und « S.
*) P. * S. 184.
197.
— 57
lichkeit ein transsc. Objekt korrespondiere, das wir notwendig
„denken". „Wenn unsere Gesetze a priori sich nicht nach
der Natur als ihrem , Muster' richten, sondern wenn es um-
gekehrt ist, so ist doch damit nicht geleugnet, daß eben unsere
»Anschauung' jenes , kosmischen Ganzen' die Folge eines
transsc. Grundes sei')." Ich sehe nicht, daß P. im Sinne K.'s die
Überzeugung G.'s leugnet; aber auf das transsc. Objekt
kommt es an dieser Stelle garnicht an, soudern nur auf die
Ursache der Gesetzmäßigkeit der Natur; oder will G. andeuten,
daß wir in dem transsc. Objekt die Ursache zu suchen haben
für die vom Aprioritätsstandpunkt so schwer zu beantwortende
Frage, weshalb diese bestimmten ,, Anschauungen" sich gerade
diesen bestimmten Kategorien unterordnen?
K. gibt in der l. Auflage der Kritik eine ausführliche
„psychologische oder subjective Deduktion" der Verstandesbe-
griffe, die dann nach P. in der 2. Aufl. in den Begriff der
„produktiven Einbildungskraft" zusammengezogen ist^j. K. gibt
als Ursache dieser Änderung an, jene Deduktion sei entbehrlich
und das Buch würde mit ihr zu voluminös werden; P. wittert
andere Gründe: K. wollte der heiklen und mißverständlichen
Erörterung über den „transsc. Gegenstand" „ausweichen;" „auch
die innere Unentschiedenheit über die Grenzen der Wirksamkeit
des Verstandes in Bestimmung der Sinnlichkeit mochte ihm
drückend sein^)." Auf eine nähere, beweiskräftige Erörterung
dieser Behauptungen läßt P. sich nicht ein. Adickes und
Vaihinger sind der Meinung, daß K. durch Auslassung der
subjektiven Deduktion den Gedanl:engang der Transscendental-
Philosophie fester geschürzt habe. — Vielleicht kann man
noch weiter gehen: K. hat eine Erörterung ausgeschaltet, die
ihrem eigentlichen Wesen nach in einer erkenntnistheoretischen
Untersuchung nicht am Platze ist. P. bezeichnet sie richtig
als den „Versuch, den Hergang der Bestimmung der sinn-
lichen Anschauung durch den Verstand zu beschreiben^)."
Wenn aber von solchem „Hergang", also von einer zeitlichen
Aufeinanderfolge einzelner Prozesse in dem in Frage stehenden
Erkenntnisgange geredet werden kann, so würden wir K. wieder
1) G. S 281..
2) P. * S. 185.
3) P. * S. 187.
*) P. * S. 185.
— 58 —
59 —
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bei einer Vermischung der logischen und der realen Zerlegung,
der erkenntniskritischen und der psychologischen Betrachtungs-
weise überraschen — was K. in der 2. Aufl. besonders ver-
meiden vvilP). Als Resultat jener Krürterungen ergibt sich
der Nachweis, daß wir vermöge der transsc. Funktion der rei-
nen Kinbildungskraft das Mannigfaltige der Anschauung mit
der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen A[>perception
in Verbindung setzen-). Diese Verbindung geht nach der
1. Aufl. in einer dreifachen Stufenfolge vor sich: durch die
Sinnlichkeit, die Einbildungskraft und die Apporception — also
drei im Sinne K.'s rein transsc. aufzufassende Vorgänge, die
P. als eine Reihe zeitlich aufeinanderfolgender Einzel[)rozesse
betrachtet; und sicher nicht ganz ohne Grund. Dadurch ent-
wickelt sich ihm ein Gegensatz zwischen der „psychologischen
und subjektiven Deduktion" einerseits und der metaphysischen
und transsc. andererseits. Goldschmidt folgert daraus^) eine
völlige Unkenntnis auf Seiten P.'s in betreff des Kantischen
Unterschiedes zwischen Erkenntniskritik und Psychologie.
Da würde sich zunächt die Frage erheben, ob es in Wirk-
lichkeit nur einen Gegensatz und eine feste gegenseitige
Abgrenzung der Erkenntnistheorie und der Psychologie gibt
oder ob K. für sich eine besondere in Anspruch nimmt, und
in der Tat offenbart K.'s prinzipieller Standpunkt ein ganz
neues Verhältnis zwischen psychologischer und erkenntnis-
kritischer Betrachtung. Während Demokrit-Berkeley die Seins-
frage aus dem Verhältnis des einzelnen Menschen zur
Außenwelt zu lösen suchten, handelt es sich bei Descartes
schon um das einzelne bestimmte Bewußtsein, welches
zu der ihm gegenüberstehenden Welt auch den eigenen
Leib gehörig betrachtet. Bei K. schließlich haben wir
den Gegensatz von „Bewußtsein überhaupt" und der
Welt, seinem Objekt schlechthin. Während die grundlegende
psychologische Schwierigkeit dieses Standpunktes für G. nicht
vorhanden ist, nämlich, wie die an sich seiende Welt dieses
„Bewußtsein überhaupt" anders als in der konkreten Existenz
eines Einzelbewußtseins affizieren kann — wo dann also von
1) S. Anmerk. 3 zu S. 59.
'^) K.: Kr. d. r. V. 133.
») G. S. 129.
vornherein eine psychologische Beziehung bestände — sucht
G. die sonstigen psychologischen Elemente in der Kritik zu
erklären: K.'s Untersuchungen seien „gleichsam noch mit den
Eierschalen der ersten immer analytisch (regressiv) vor-
gehenden Überlegung behaftet^)." „Sie zeigen uns den Weg,
den die Gedanken des Philosophen selbst gegangen sind-)."
Meines Erachtens wird man bei näherer Untersuchung schwer-
lich zu dem Resultate kommen, daß jene offenbar psycholo-
gischen Elemente in dieser Deduktion nur auf Rechnung
der flüchtigen Darstellung K.'s zu setzen sind; sie liegen
vielmehr im Wesen seiner ganzen Erörterung selbst^).
Von hier aus verstehen wir P. am besten, wenn er einen
Bruch in K's transsc. Deduktion^) konstatiert und ihn entweder
nach der Seite des Rationalismus oder des Empirismus über-
wunden wissen will. Nach K. können nur die Gesetze, auf
denen eine Natur überhaupt als die Gesetzmäßigkeit der Erschei-
nungen in Raum und Zeit beruht, aus dem reinen Verstandes-
vermögen entwickelt worden; während besondere Gesetze,
welche empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, davon
nicht abgeleitet werden können ; Erfahrung muß hinzukommen,
um ihre Gesetzmäßigkeit kennen zu lernen. P. fragt sich mit
Recht, wie das zu verstehen ist, da doch alle Verbindung
aus dem Verstände kommen soll, also Verbindungen der
V) G. S. 129.
<!) G. S. 130.
^) Übrigens ist dies nicht die einzige Stelle, wo die Erinnerung
an den eigenen Weg der Entdeckung K. verieitet, die streng transsc.
Darstellung durch psychologische Erwägungen zu unterbrechen und zu
trüben. Man vergleiche Kr. d. r. V Einl. zur II. Aufl. S. 647. Am Be-
ginn des Abschnitts scheint es, als ob unser reines Erkenntnisvermögen
durchaus unabhängig von der Erfahrung in uns aufgefunden werde. In
Wirklichkeit ist K. der Meinung, daß nicht nur der apriorische Charakter
des Erkenntnisvermögens selbst, sondern auch die Erkenntnis dieser
Apriorität von der Erfahrung unabhängig sei (siehe K. a. a. 0. und
Adickes a. a. 0. Anm. S. 87 f.) - trotzdem spricht er am Schluß jenes
Abschnitts von der Übung, deren es bedarf, bevor wir zu jener Ab-
sonderung geschickt gemacht werden! —
Kr d. r. V. S. 86 sagt K. ferner, die Begriffe liegen in ihren
ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstände „vorbereitet"
„bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt und durch
eben denselben Verstand, von denen ihm anhängenden empirischen Be-
dingungen befreit, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden." (! !) —
*^ P. ♦ S. 189.
i
II
— 60 —
Erscheinungen nach Regeln, die aus der Sinnlichkeit kommen,
nicht möglich sind. Es kann kein Zweifel sein, daß hier
tatsächlich der transsc.-dualistische Gesichtspunkt K. 's versagt,
wenn K. den Ursprung empirischer Gesetze in die Sinnlich-
keit verlegt, zugleich aber alle Gesetzmäßigkeit und Vorbindung
der Spontaneität des Verstandes und der Einbildungskraft
zuschreibt. Wenn auch der kantische Widerspruch offenbar
ist, so läßt P.'s Alternative zusehr die vorwiegend psychologisch
„historisch-genetische" Auffassung jenes transsc. Verhältnisses
von Seiten unseres Verfassers erkennen, w^ährend im Sinne
K.'s und der Kantianer der eine vorliegende Erkenntnisprozeß
transscondental zerlegt wird in die Synthosis der Apprehension
und die transsc. Synthesis der Einbildungskraft.
Für K. ist auch tatsächlich keine Seite der Paulsen-
schen Alternative annehmbar. Den Eationalismus anzuneh-
men hindert ihn die Setzung des Dinges an sich, und dem
Empirismus steht die reine Anschauung entgegen, und da-
mit die vorausgesetzte Allgemeinheit und Notwendigkeit der
Mathematik und der mathematischen Wissenschaften.
Goldschmidt bemerkt mit Recht, daß wir es hier mit
dem fundamentalen Gedanken der ganzen Kritik zu tun haben*):
„Was den Gegenstand formal bestimmt, können wir a priori
erkennen, was ihn zu diesem bestimmten Objekt macht, das
müssen wir ihn wohl oder übel selbst fragen." „Der Ver-
stand gibt das Gesetz, die Erfahrung den Fall, der unter ihm
steht^)." Das ist in der Tat der Kantische Gedanke, durch
den er die Möglichkeit der gesetzmäßigen Erfahrung erwiesen
zu haben meint: „Wenn K. immer wieder betont, daß es em-
pirische Gesetze ohne Verstandesgesetzo nicht geben könne,
so kann er nicht zu dem allen Tatsachen Hohn sprechenden
Ergebnis gelangen, daß der reine Verstand empirische Ge-
setze hervorbringen sollte'^)." Die Conclusio dieses Satzes ist
nicht klar. Wenn der Verstand die Bedingung aller Gesetze
ist, so muß er die Gesetze — selbstverständlich nicht den ma-
terialen Inhalt auch — hervorbringen; wenn nicht, wo ist
dann die Grenze zu ziehen zwischen den Gesetzen, deren Be-
— ei —
dingung er ist und den „empirischen Gesetzen?" Zu einem
Resultat kann man hier nicht gelangen, und zwar liegt das
an dem willkürlich konstruierten Gegensatz zwischen „be-
stimmten Beobachtungen" und „allen Beobachtungen";
zwischen empirischen Gesetzen und reinen Gesetzen. Nach
G. schließt das eine das andere nicht aus, „im Gegenteil" ;
als „Beweis" (?) beruft sich G. darauf, daß „die Schärfe dieser
Trennung und eine Einsicht in die Abstraktion selbst und
ihre Bedeutung von der Urteilskraft, von dem Judicium dessen
abhängt, der sie vollzieht*)".!
„Zur Ermittlung des Gravitationsgesetzes ge-
hören bestimmte Beobachtungen, ohne die man es ebenso-
wenig hätte aufstellen können, als ohne mathematische Erkenntnis,
der die objektive Wirklichkeit gemäß sein muß. Vor aller
Beobachtung aber muß u. a. das Causalgesetz gedacht sein-)."
Es fragt sich, ob ein solcher Gegensatz zwischen bestimmten
Beobachtungen und allen Beobachtungen tatsächlich vorhanden
ist. Sind nicht alle Beobachtungen auch bestimmte? Sind
„alle Beobachtungen" etwas qualitativ anderes als einzelne
„bestimmte Beobachtungen," so daß wir vor ersteren etwas
Apriorisches annehmen müssen, wodurch die letzteren dann
zu empirischen Gesetzen werden? Das was allen Beobach-
tungen vorangehen muß, um auf einzelne und bestimmte an-
gewandt zu werden, das kann doch analog dem logischen
Verhältnis von „allen" zu „einzelnen" vorgestellt werden, also
als eiiifache logische Überordnung und wäre dann durch alle
empirischen Beobachtungen gegeben, brauchte also nicht als
apriorisch dem Verstand zugeschrieben werden. — Übrigens
ist OS immer noch fraglich und von G. keineswegs klargestellt
worden, was denn das heißen soll, die Kategorien müssen
als allen Beobachtungen vorhergehend gedacht werden. Wir
haben bei K. 12 Kategorien; geht nun jede derselben allen
Beobachtungen voraus? Dann hätten wir also eine zwölf fache
Vorwegnahme der Synthesis der Anschauung im Verstände;
das aber ist nicht der Fall, wie die flüchtigste Beobachtung
zeigt. Die zwölf Kategorien teilen also „alle Beobachtungen"
unter sich, jede bekommt einen bestimmten Ausschnitt —
G. S. 131.
») G. S. 134.
3) G. S. 135.
») G. S. 135.
«) G. S. 137.
— 6-2 —
dann ist aber nicht zu verstehen, in welchem Sinne „u. a. das
Causalgesetz" vor allen Beobachtungen nach G. vorhergehen
soll. Ijetzteres ist in Wirklichkeit auch keineswegs der Fall;
es sind auch nur bestimmte Beobachtungen, die wir nach dem
Causalgesetz verknüpfen — lange nicht alle der zeitlichen
Aufeinanderfolge allein. Zur Ermittlung des Gravitationsge-
setzes gehören einzelne bestimmte Beobachtungen und zur
Entdeckung des Causalgesetzes führten auch einzelne Beob-
achtungen, wenn auch in bei weitem größerer und klarer zu
Tage tretender Zahl, da die Geltung des letzteren Gesetzes
eine viel umfangreichere ist, wie die des ersteren. G. eifert
dagegen, daß es möglich sei, die Gravitation sich a priori zu er-
denken; — das zu behaupten fällt P. aber garnicht ein, er
geht auf die andere Seite des Problems aus, nämlich auf die
empirische Begründung des Causalgesetzes. Es fehlt bei G.
überhaupt nicht an mancherlei Mißverständnissen P.'s. Ebenso-
wenig z. B. wie obiges zu behaupten, ist es P. eingefallen an-
zunehmen, der Verstand habe in Galilei und Newton das Cau-
salgesetz in die Welt gebracht^) ! ! — eine Behauptung, gegen
welche G., wenn sie wirklich aufgestellt wäre, nicht mit Un-
recht energisch zu Felde ziehen mußte. Aber G. zitiert P. falsch
und mißversteht ihn. P. schreibt'^): „Wie der Verstand in
Galilei und Newton für die unendliche Mannigfaltigkeit der in
Ilaum und Zeit gegebenen Fallbewegungen eine Formel ge-
bildet hat, wodurch sie begriffen werden können, so hat er
[nämlich doch der Verstand überhaupt, nicht wie G. P. ver-
steht: der Verstand in Galilei und Newton] auch das Causal-
gesetz nicht als ein absolut reines und starres Verstandes-
gesetz in die Welt gebracht sondern es an und für die in
der Wahrnehmung gegebenen räumlich-zeitlichen Vorgänge
gebildet". Die ganze hierauf bezügliche Erörterung G.'s ist
also gegen Luftgespenster gerichtet.
e) Transsc. Analytik der Grundsätze.
Über P's Behandlung der Analytik der Grundsätze bleibt
nicht mehr viel zu bemerken übrig. Sie ist größtenteils
— 63 —
schon bei der Analytik der Begriffe erledigt, und besonders
Goldschmidts Polemik beschränkt sich gänzlich auf die Analj^tik
der Begriffe, nimmt hier aber auch alle Einwände P.'s gegen
die Kantische Behandlung der Grundsätze vorweg.
Nach P. handelt es sich in der ganzen Analytik um^)
„die apriorische und zugleich objektive Gültigkeit von Urteilen,
nämlich gewisser allgemeinster Sätze der Naturwissenschaft."
Der Nachsatz ist geeignet, ein Mißverständnis aufkommen zu
lassen, welches wir zum Beispiel in Cohens Kritik des Paul-
senschen Buches finden. Er rügt, daß bei P. nicht das Urteil
das Mittel sei, Grundsätze aufzufinden, sondern die Sache selbst.
Diese aber sei nach K. nicht nur in den Urteilen, sondern
auch in den Bedingungen der Sinnlichkeit, die dem Urteile
vorausgehen, enthalten; und ferner führen die Urteile noch
garnicht unmittelbar, sondern erst „über die Leichname der
Kategorien hinweg" zu den Grundsätzen; beide „sind nur
Futter für die Grundsätze^)." In Wirklichkeit trifft dieser
Vorwurf nicht P.'s Meinung, wohl aber seine unklare und
mißverständliche Darstellung. P. faßt die Grundsätze
durchaus nicht als einfache logische Urteile, sondern als das
transsc. Analogen jener Urteile^). — Ahnlich mißverständlich
in Bezug auf diese Frage ist eine Stelle in dem Abschnitt über
die Methode der kritischen Philosophie^): „Behauptet K. mit
Recht, daß die Grundsätze der reinen „Naturwissenschaft"
in demselben Sinne rationalen Charakter haben wie die Sätze
der reinen Mathematik oder der formalen Logik?" In Wirk-
lichkeit behauptet K. das garnicht, denn er ist es gerade, der
den irrationalen Faktor, nämlich die sinnliche Beobachtung in
der reintn Naturwissenschaft betont. Mit Eecht hebt Cohen^)
hervor, daß P. mit dieser Gegenüberstellung: Mathematik und
Logik auf der einen Seite — und Physik auf der andern das
ganze Problem umgehe. Es mischt sich an dieser Stelle wie
auch sonst bisweilen in P.'s Kantdarstellung sofort der
eigene Gesichtspunkt unseres Verfassers hinein; welcher
jener Gegenüberstellung gemäß Erkenntnisse rein logischer
1) G. S. 138.
P. * S. 190.
1) P. * S. 180.
») Cohen : „Nation" 1899 No. 43, 44, S. 623.
3) P. Anm. zu S. 139 f.
♦) P. * S. 215.
») Cohen a. a. 0. S. 623.
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— ß4 —
und realer Art unterscheidet, und wie wir oben sahen, die
Mathematik zur ersten Art zählt.
Nach P.^) haben wir infolge des Kantischen Schematismus
,, eigentlich 2 Kategorientafeln, eine rein begriffliche und eine
sensifizierte, eine rein logische und eine reale." Letztere hat
Gültigkeit für die Erscheinungswelt. „Die logischen Kategorien
haben Gültigkeit für alle Dinge, die überhaupt Gegenstand
des Denkens werden können, also auch für die Dinge an sich
selbst; und das ist der ältere und im Grunde stärkere Ge-
dankengang." Wie P. mit dieser letzten Behauptung seine
Auffassung der Kantischen Philosophie als agnostizistischen
Monismus'-) vereinen will, ist nicht einzusehen. Letzteren de-
finiert P. folgendermaßen: „Kürperwelt und Bewußtseinswelt
verschiedene Formen des an sich Wirklichen, das wir nicht
erkennen, aber als einheitliches und gleichartiges voraussetzen
können." Was bedeuten aber die Worte „Einheitlichkeit" und
„Gleichartigkeit" in Bezug auf eine unerkennbare Wirklichkeit
an sich? Und ferner entsteht die frage: Setzt K. nun die
Einheitlichkeit und Gleichartigkeit des an sich Wirklichen
nur voraus, wenn er sie doch nach P. denken kann? Der
Unterschied, der so häufig im Sinne K.'s zwischen „erkennen"
und „denken" gemacht wird, kommt hier wenig in Frage;
wie aber denkt P. sich hier den Unterschied zwischen „denken"
und ., voraussetzen?'* — Nach P. hängt die Auffassung, daß
K. die Dinge an sich durch die Kategorien zu denken glaubt,
mit K.'s „metaphysischer Ichlehre'* zusammen, deren Behandlung
durch P. uns noch zu beschäftigen hat^).
Wie wenig P. dem Schematismus und den Grundsätzen
eine selbständige Stellung und Vermittlung zwischen Ästhetik
und Analytik zuerkennen will, resultiert aus seiner Meinung,
der eigentliche Platz der Behandlung der Axiome der An-
schauung sei die Ästhetik; die Axiome seien nur in die Ana-
lytik verlegt (!), weil K. für den Titel der Quantität in der
Kategorientafel keinen geeigneten Inhalt fand*). Der Kantische
Schematismus wird von P. überhaupt sehr stiefmütterlich be-
-. 65 —
handelt und zwar ganz in dem Sinne, den wir bei Adickes
finden, dessen Kantüberzeugung mit der P.'s mannichfAche
Berührungspunkte zeigt. Nach Adickes wird die hier vor-
liegende Schwierigkeit — Synthesis der empirischen Anschau-
ungen unter reine Verstandesbegriffe — erst von K. geschaffen
und zwar der Urteilskraft wegen ^). Die parallele Behandlung
der Transsc. -Philosophie zur Logik verlangte, daß auch der
Urteilskraft ein Abschnitt in der transsc. Logik korrespondiere.
Für die Unmöglichkeit des Schematismus führt Adickes an:
„Wo wegen Ungleichartigkeit eine Subsumtion nicht statt-
finden kann, da kann sie auch nicht vermittelt werden", „man
kann doch nicht sagen, man subsumiere zwei Pakete, welche
man zusammenbindet, unter einen Bindfaden." Der letzte
Grund für diese Auffassung von Adickes liegt in dem psycho-
logischen Element, welches unbestreitbar der Trennung in
rezeptive Sinnlichkeit und spontane Veratandestätigkeit bei
K. zu Grunde liegt, obwohl er nun als tatsächlich vorliegend
nur eine untrennbare Verknüpfung — schematisierte Begriffe
oder symbolische Anschauungen — anerkannt wissen will,
die nur erkenntnistheoretisch in jene beiden Faktorn zerlegt
werden soll — also nicht real in dem Sinne, daß von einer
tatsächlichen Seinsverknüpfung im Sinne von Adickes die Rede
sein könnte. Nach K. sind dann die Schemata nicht nur so
und so viele Arten Bindfaden, sondern das empirisch Gegebene,
so wie es uns tatsächlich vorliegt-)^).
P. * S. 194.
2) Paulsen: Einl. in d. Philos. » S. 62.
3) P. * S. 195.
*) r. * s. lor,.
») Adickes: Ausgabe d. Kr. d. r. V. Anm. zu S. 171.
«) Der ablehnenden Haltung von P. und Adickes dem Schematis-
mus gegenüber nimmt sich die zentrale Position, welche diesem Kanti-
schen Gedanken bei Chamberlain zugewiesen wird, eigenartig aus. Er
sucht die „trans.sc. Verknüpfung" scharf herauszuarbeiten und bemüht
sich um die genaue Feststellung der Schnittlinie zwischen der Sinnlich-
keit und dem Verstände. Zwischen diesen beiden äußersten Enden
unsers Erkenntnisvermögens entdeckt er ein Zwäschenreich: die Mathe-
matik, wenn dieses Zwischen reich in subjektiver Beziehung, —
die Zeit, wenn es in objektiver Beziehung bestimmt wird. Die Ma-
thematik offenbart uns eine anschauliche Seite, die aber in der Arithmetik
doch nach der Seite des Verstandes gerichtet ist, und eine gedankliche
Seite, die sich nach der Richtung der Anschauung wendet, in der Geo-
metrie. In der ersteren haben wir das Schema, in der letzteren das
Symbol (Vergl. K. : Kr. d. r. V. S. 551 : die Algebra ist eine symbolische
Konstruktion!) — Nur in der Mathematik sind wir nach Ch. befähigt,
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^ 66 —
Am eingehendsten ist naturgemäß P.'s Behandlung der
Analogieen der Erfahrung. Gegen das Kantische Grundgesetz
der Substantialität wendet P. ein^): das Beharrende, welches
alle Zeitbestimmung voraussetzt, brauche nicht absolut kon-
stant zu sein, für die irdische Zeitbestimmung genüge die
relative Beharrlichkeit der Bewegungen des Planetensystems.
„Ein Uhrzeiger, dessen Spitze 100000 Jahre brauchte, um
1/100000 eines Millimeters fortzuschreiten, stände für uns
still." Ebensowenig ist es uns möglich und für uns not-
wendig, den Satz: „Die Masse der Materie bleibt konstant"
allgemeingültig und notwendig zu beweisen. Der Satz ist
vielmehr nach P. nur eine „axiomatische Präsumtion," die
aber völlig ausreiche! Barth wendet gegen diese Ausführungen
P.'s ein 2): In den Bewegungen der Himmelskörper seien diese
doch selbst beharrlich. Die Gleichmäßigkeit der Bewegung
sei zur Messung wohl nötig; zur Erkenntnis der bloßen Folge
genüge aber, daß die Zustände an einem und demselben Be-
harrenden sich vorfänden. — Meines Erachtens ist in dem
Sinne aber auch die Beharrlichkeit der Himmelskörper selbst
immer nur relativ; denn auch sie entstehen und vergehen,
befinden sich also in fortwährender Bewegung!
„das Symbol in das Schema und das Schema in das Symbol restlos um-
zusetzen" (S. 216).
Schema: (a-f b)-i=a--f 2ab-|-b'^ Symbol:
a-
ab
b^
(Ch S. 217).
In objektiver Beziehung aber füllt die Zeit dieses Zwischengebiet aus;
wir haben dann die Zeit als Bewegung im Schematismus nach der
Seite der Kategorien, der Stammbegriffe, und die Zeit als Dauer im
Symbolismus nach der Seite des Raumes, des Ausgedehnten (Ch. S. 201 ff.).
Das Schauen wird dadurch als die eigentliche I]rkenntnismethode K.'s
proklamiert: bewegt das Auge sich, so erhalten wir Gestalten, vSymbole,
die sich schlieÜlich auf ein einziges Symbol, den Baum zurückführen
lassen; bewegen die Gegenstände sich, so erhalten wir Zahlen, Schemen. —
3) Barth: Kantstudien Hl, S. 230 ff. wirft die Frage auf, weshalb
die Zeit und nicht der Raum von K. als reines Schema der VersUndes-
begriffe angenommen werde. Ihm scheint der Grund darin zu bestehen,
daß die Zeit einem reinen Verstandesbegriffe näher komme, und er zitiert
für diese seine Meinung eine Stelle aus der Dissertation von 1770: (§ 15)
„Tempus autem universali atque rationali conceptui magis propinquat,
complectendi omnia omnino suis respectibus, nempe non sunt uti cogi-
tationes animi." —
') P. * S. 199 f.
2) Barth: Kantstudien IH, S. 22G.
— 67 —
Als wichtigsten Gedanken des Grundgesetzes der Caü-
salität betrachtet P. die Unterscheidung des subjektiven Vor-
stellungsverlaufes von dem objektiven Ablauf der Erscheinungen;
während K. ^) aber „die subjektive Folge der Apprehension
von der objektiven Folge der Erscheinungen ableiten" will,
behauptet P. das Gegenteil): „Der Verstand ist es, der die
Gesetze der Mechanik findet und formuliert, aber doch nicht
durch reine immanente ,transsc. Logik', sondern auf Grund
gegebener und beobachteter Folge in der Zeif Von hier
aus versteht sich dann von selbst, daß P. nur eine präsumtive
Gültigkeit des Causalgesetzes anerkennen will. Schon in der
Formulierung des Gesetzes macht sich der grundlegende
Unterschied zu dem strengen Kantianer Goldschmidt be-
merkbar. G. gebraucht die Formel: „Jedes Geschehen setzt
ein anderes Geschehen als Ursache voraus" oder „die sich
bietende Veränderung (die Wirkung) ist mit einer Ursache
notwendig zu verknüpfen ^j". In beiden Formeln kommt der
Begriff der Ursache selbst wieder vor, wir haben es also nur
mit Umschreibungen des Causalgesetzes zu tun. P. drückt
den Causalsatz so aus: „Dieselben Erscheinungen haben regel-
mäßig dieselben Erscheinungen zur Folge ^)". Da tritt uns
sofort der empirische, aposteriorische Charakter des Gesetzes,
den P. nur anerkennt, deutlich entgegen. Er faßt das Causal-
gesetz häufig als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, m
welcher Gestalt es allerdings für unsere Zeit seine vollendetste
Formulierung erhalten hat. Denkt P. das Causalgesetz aber
immer sofort in seiner allgemeinen empirischen Gestalt, dann
läßt sich seine Behauptung, daß es fortgesetzter Verbesserung
fähig ist, wohl verstehen; und wenn G. erklärt^): „Wer für
möglich erklärt, daß das Causalgesetz veränderlich ist,
der hebt damit die Einheit des Verstandes in dem Inbegriff
der Erfahrung und damit den objektiven erkennenden Verstand
selbst auf;" — so können wir dem beistimmen, insofern damit
der apriorische Charakter eines im letzten Grunde psychologisch
vorgestellten Verstandes gemeint ist. Lassen wir aber diese
1) K.: Kr. d. r. V. S. 184.
«) P. * S. 203.
3) Goldschmidt S. 13-4.
*) P. * S. 204.
-M G. S. 139.
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-^ 68 —
Voraussetzung fallen, so wird G.'s Behauptung haltlos. P.
meint, wenn er von einer Veränderlichkeit des Causalgesetzes
spricht, stets nur die immer bleibende Möglichkeit, ein nur
als präsumtiv in dieser Gestalt anerkanntes Gesetz, präziser
und schärfer zu formulieren — nicht das Gesetz selbst ist
demnach veränderlich, sondern seine Formulierung. — An
anderer Stelle^) weist G. auf die Unmöglichkeit und den
Innern Widerspruch der „Skepsis'*, wie er P.'s Auffassung
mehrfach bezeichnet, hin; und er meint, in der „Skepsis"
werde immer ein gesetzmäßiger Verstand vorausgesetzt, der
doch auch zur Wirklichkeit gehöre. — Diese Bemerkung ist
wiederum nur verständlich unter der Voraussetzung, die eben
bei K. und demnach bei G. immer zu machen ist, nämlich
eines psychologischen Gegensatzes zwischen einem mit Apri-
oritätscharakter ausgestatteten Verstände und einer ihm ob-
jektiv-absolut gegenüberstehenden Welt an sich. Von beiden
kommt etwas, das in dem, was wir Erfahrung nennen, sich
in transsc. Verknüpfung offenbart. In jener ,,Ske])sis" wird
keineswegs, wie G. meint, ein gesetzmäßiger Verstand voraus-
gesetzt; soweit letzteres bei P. dennoch geschieht — und es
ließen sich eine Menge Belege dafür auffinden — soweit hat
er sich selbst von jenem psychologischen Gegensatz nicht
freigemacht, der vielmehr in seiner Auffassung noch die be-
denklichere Form annimmt, daß bei ihm ein leerer, durch
keine Kategorien charakterisierter Verstand der em[)irischen
Welt gegenüberstehen soll. — Wird nun wirklich die Physik
aufgehoben, „wenn man ihre Bedingungen im Erkenntnisver-
mögen antastet ^'j"? Den Physiker interessiert doch nur die
gegebene Welt der „Erscheinungen", die sich ihm als unter
letzten allgemeinsten Begriffen, wie Causalität etc. stehend,
offenbart. G. vergleicht einen Erkenntnistheoretiker, „der
nicht von vornherein Erkenntnis und in ihr einen vielleicht
zunächst noch unbestimmten Anteil des Subjekts" anerkennen
will mit einem Physiker, ,,der die Natur des Gewitters be-
stimmen will, ohne daß diese Erscheinung jemals beobachtet
worden wäre^)". Wo ist da das tertium comparationis? Etwa
das tatsächliche Gegebensein einerseits des Gewitters vor seiner
1) G.: f. Arsch, yst. Ph. V, 1899, S. 295.
») G.: Arch. f. syst. Ph. V, 1899, S. 294.
3) G. a. a. 0. S. 296.
— 69 —
Beobachtung und andererseits einer Erkenntnis — und in ihr
ein vielleicht noch unbestimmter Anteil des Subjekts — vor
der Aufstellung einer Theorie der Erkenntnis? Sicherlich
müssen vorhandene einzelne Erkenntnisse selbst jeder Theorie
der Erkenntnis überhaupt voraufgehen, warum aber auch ein
Anteil des Subjekts in denselben?
In der p]rörterung des Causalsatzes kommt P. schließlich
zu dem Resultat: Das Causalgesetz^) ,,ist die letzte axioma-
tische Voraussetzung, womit die Wissenschaft an ihr Werk
geht, aber nicht ein starres Apriori-Besitztum, sondern in der
Arbeit an gegebenem Material gebildet" — eine Auffassung,
die man an sich vielleicht gelten lassen kann; aber ob sie
,, im Grunde auch Kants Anschauung ist, nur daß die Angst vor
dem Skepticismus Humes ihn hinderte es auszusprechen," das
scheint mir, ganz abgesehen von der Unbestimmtheit, die
noch in dem „im Grunde" P's steckt, nicht nur zweifelhaft,
sondern unrichtig. Denn K. faßt gerade die Erfahrung selbst
als ein Produkt aus dem Anschauungsmaterial der Sinnlichkeit
und den Begriffen des Verstandes, den Kategorien, zu denen
auch die Causalität gehört, die also nach ihm völlig und rein aus
dem Verstände und nicht aus dem gegebenen Material stammt.
P. fügt zu der Erörterung des Causalgesetzes selbst noch
eine Behandlung von K.'s Ansicht über den Inhalt des Causal-
verhältnisses hinzu^). Es handelt sich bei der Causalität der
Erscheinungswelt überall nur um eine Gesetzmäßigkeit der
Folge in der Zeit, nirgends um Wirkung. Diese letztere ist
den Dingen an sich und der intelligiblen Causalität vorbehalten,
die einer ,,logisch-teleologischen Notwendigkeit" untersteht.
Wird man auch den ersten Teil dieser Paulsenschen Bemerkung
anerkennen können, so erscheint der zweiten, auf die Causalität
der intelligiblen Welt bezüglichen Hälfte gegenüber größte
Vorsicht geboten; Es liegt im innersten Interesse P.'s überall
bei K. diejenige Deutung seiner Gedanken herauszulesen, auf
die er dann seine Konstruktion einer positiv-dogmatischen
Metaphysik K.'s stützen kann. —
Eine Bemerkung P.'s über den Gesamtcharakter der
synthetischen Grundsätze führt uns zu einer Erörterung des
1) P. ♦ S. 200.
2) P. ♦ S, 207.
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— 70 —
'Verhältnisses, in dem nach P. die Prolegomena zur Kr. d. r. V.
stehen. P. möchte die synthetischen Grundsätze aus dem
Kategorien-Schema herausgelöst wissen und den Axiomen die
Überschrift geben: Transsc. Deduktion der Mathematik. An-
ticipationen und Analogien sollten dann zusammengefaßt
werden als Transsc. Deduktion der reinen Naturwissenschaft,
denen die Postulate als allgemeine Anmerkung gegen realistischen
Rationalismus und dogmatischen S[)ritualismus zu folgen hätten.
„Das ist das Schema, wie es K. selbst dem Vortrag der
Prolegommenen zu Grunde gelegt hat^)." —
Allerdings gehören in den Proleg. Anticipationon und
Analogien unter der von P. vorgeschlagenen und von K. in
den Prol. auch tatsächlich angewandten Überschrift zusammen;
in der Kritik dagegen bemüht K. sich gerade, die aus dem
Ursprung der Grundsätze sich ergebenden engen Zusammen-
hänge zwischen den Axiomen und den Anticipationen einerseits,
den Analogien und den Postulaten andererseits aufzudecken.
Erstere sind konstitutiv, letztere dagegen regulativ^). Diese
Erörterung offenbart deutlich das schon mehrfach erwähnte
Mißverständnis P.'s über die Methode, die K. einerseits in der
Kritik, andererseits in den Proleg. verfolgt. Dort geht er
analytisch-regressiv vor, gibt also eine Entwicklung der transsc.
Philosophie aus der allgemeinen Logik; in den Proleg. ist
seine Methode synthetisch-progressiv, er geht hier also von
den vorliegenden Tatsachen selbst aus: Also nicht K. verwirrt
die Probleme, sondern P. selbst, indem er diese beiden Wege
der Kantischen Darstellung nicht auseinanderhält — obwohl
er selbst an anderer Stelle den Unterschied der Kritik von
den Proleg. im Anschluß an K. richtig bestimmt^).
In P.'s Buch folgt nun die Behandlung der Phänomena
und Noumena, der Amphibolie der Reflexionsbegriffe und
der Methode der kritischen Philosophie. Soweit diese Unter-
suchungen von Belang sind, habe ich sie an früheren Stellen,
besonders im I.Abschnitt über K.'s Rationalismus, in Betracht
gezogen! —
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») P. ♦ S. 195.
'') K.: Kr. d. r. V. S. 172 f.
') P. ♦ S. 243.
71
f) Transsc. Dialektik.
In der Behandlung der Kantischen Dialektik scheint P.
der eigentlichen Aufgabe einer ,, Darstellung" am nächsten zu
kommen den andern Kapiteln seines Buches gegenüber. Wir
gewinnen hier einen tatsächlichen Begriff von dem, was K.
gewollt und dargelegt hat — einen Begriff, der im einzelnen
allerdings noch manchen Widerspruch hervorruft. —
Die von K. behauptete Beziehung zwischen der Dialektik
und der Schlußlehre wird von P. geleugnet. Sie entspringe
nur dem Schematismus, in den der Versuch, die Ideen als
notwendige Erzeugnisse der menschlichen Vernunft darzustellen,
verstrickt sei. P. möchte die Probleme der Dialektik für sich
allein behandelt wissen; sie entstehen nach ihm dadurch, daß
die Vernunft, über alles Einzelne und Relative hinausgehend,
notwendig den Begriff des Absoluten schafft und so zu den
Kantischen Ideen gelangt^).
Goldschmidt möchte wissen, wie der Verstand dazu
komme, über sich hinauszugehen und welchen tatsächlichen
Ursprung die Ideen haben, wenn eben nicht die logischen
Funktionen des Urteils und die Verstandesbegriffe. Man
könnte hier G. gegen ihn selbst ins Feld führen: an früherer
Stelle hat er verschiedentlich gegen P.'s Auffassungen geäußert^),
P. habe nicht die Pflicht, eine eigene Lösung der Probleme
zu geben, wenn er die Kantische nicht anerkenne. — Im
übrigen ist G.'s Frage, wie denn der Verstand dazu komme,
über sich hinauszugehen, psychologischer Natur. K. glaubt
den Ursprung der dialektischen Probleme entdeckt zu haben,
indem er sie zu denjenigen Kategorien in Beziehung setzt, „in
welchen die Synthesis eine Reihe ausmacht und zwar der
einander untergeordneten (nicht beigeordneten) Bedingungen
zu einem Bedingten^)'*. —
P. glaubt in dieser Entdeckung eine Täuschung K.'s
erblicken zu müssen. G.'s Versuch, P. zu widerlegen und zur
Anerkennung des Kantischen Gedankens zu zwingen, erschöpft
sich in vielfachen Variationen des Satzes: Alle Erkenntnis
steigt auf von den Sinnen zum Verstände und findet ihren
») P. * S. 220.
2) G. S. 170. 172.
») K. : Kr. d. r. V. S. 342.
— 72 —
Abschluß in der Vernunft. Einen Beweis gibt er nicht und
kann er nicht geben, weder für den Gedanken des A priori
überhaupt, noch für einzelne seiner Teile — es sei denn die
Möglichkeit der Erfahrung, aber sie kommt liier bei den Ideen
nicht in Betracht! —
P.'s Darstellung der „rationalen Psychologie" bedarf
nach G. einer Ergänzung. Besonders scheint ihm P.'s Be-
merkung, die sich auf die Unmöglichkeit, von einer Substanz
des Seelenwesens zu reden, bezieht^), der Verbesserung dahin
notwendig, daß trotzdem auf die Beharrlichkeit seines Daseins
in der Zeit geschlossen werden darf. Ich kann nicht ent-
decken, wo P. sich des hier gerügten Mißverständnisses
schuldig macht; in dem von G. zitierten Satze doch sicher
nicht: „Der Begriff der Substanz ist gebildet für die An-
schauung der materiellen Welt; hier hat der Satz von der
Beharrlichkeit der Substanz seine bestimmte Bedeutung: die
Masse der Materie bleibt dieselbe. Zur Aufstellung
eines gleichartigen Satzes gibt das Feld der innern, seelischen
Vorgänge auf keine Weise Veranlassung; der Satz: die Sub-
stanz des Seelenwesens ist der Quantität nach unveränderlich,
ist ein Satz ohne allen Sinn^)." Daß P. damit „die Beharr-
lichkeit seines [des Seelenwesens] Daseins in der Zeit^) leugnet,
kann ich nicht finden, insbesondere, da er selbst dann fort-
fährt: „Die Einheit des Selbstbewußtseins ist eine lediglich
funktionolle", so deutet er hier die Beharrlichkeit, nämlich
die nur in der Einheit der Seelenfunktionen bestehende P]in-
heit und Identität der Seele, in numerisch verschiedenen Zeit-
punkten an.
Leider vermissen wir bei P. jede kritische Bemerkung,
zu der K.'s Ausführungen doch hier an vielen Stellen Stoff
bieten z. B. da, wo er von der Subreption spricht, auf welche
sich die irrtümlichen Probleme über das Verhältnis von Körper
und Seele beziehen. —
Wir kommen zu P.'s Behandlung der Kantischen Antino-
mien oder der rationalen „Kosmologie." P. erkennt die Probleme
als „wirkliche, echte" an, bedauert aber ihre Einordnung in
1) P. * S. 223.
2) P. ♦ S. 223.
3) a. S. 175.
— 73 —
das aus den 4 Klassen der Kategorien sich ergebende System
der Ideen. G. fragt^): „Wie stehen die Probleme zu jenen kosmo-
logischen Ideen in Beziehung?" P. behauptet: garnicht! sie sind
in das System hineingezwängt und zwar durch Teilung des
ersten, des Unendlichkeitsproblems, in zwei: Idee der Welt-
schöpfung und Idee des notwendigen Wesens. P. lehnte vorhin
die Analytik, nämlich das System der apriorischen Kategorien
ab und erkennt hier die dialektischen Probleme in der noch
nicht systematisierten Art an, wie sie ihm direkt vorzuliegen
scheinen. Er tritt von empirischer Seite an die Probleme der
Vernunft heran, und da ist sein Standpunkt genau so konsequent
wieder G.'s, welcher von der Analytik heikommend die Ideen
sofort in der Kantischen Beziehung zu dem Kategorienschema
auffaßt und behandelt. Eine andere „Beziehung" zu geben
ist P. keineswegs verpflichtet, handelt es sich bei ihm doch
um „kritische", nicht um „dogmatische Einwürfe^)"
G. geht an anderer Stelle^) in seinem Vorwurf gegen P.
noch weiter. Da P. die Kategorien nicht anerkennt, so dürfe
er auch die Lösung der Antinomien nicht gelten lassen; P.'s
Standpunkt offenbare einen unberechtigten Eklektizismus. —
In Wirklichkeit aber erkennt P. die Antinomien als kosmo-
logische Ideen, die sich aus dem Schema der Kategorien er-
geben, nicht an, sondern nur die empirisch gegebenen Probleme,
die dann von K. jenem Schema eingeordnet sind. Was nun
K.'s Lösung anbetrifft, so gilt die Paulsensche Anerkennung
derselben nur sub specie der Kantischen Transsc.-Philosophie.
Wenn P. sagt: „In der Tat wird das die einzig mögliche
Lösung dieser Probleme sein^)", so fährt er doch später fort:
„Sind sie [Raum und Zeit] nur in den Funktionen der Syn-
thesis wirklich, so verliert die Frage ihre Bedeutung, für den
Verstand, nicht auch für das anschauliche Denken,
was auch K. nicht behauptet." — Für den Kantischon Stand-
punkt ist die Lösung also gegeben, aber nicht für das an-
schauliche, mithin empirische Denken, worauf P. aber allein
hinauswill. G.'s Vorwurf richtet sich nicht gegen P.'s Meinung,
1) G. S. 177.
2) K.: Kr. d. r. V. S. 237.
3) G. S. 178.
*) P. ♦ S. 231.
— 74 —
wohl aber gegen P.'s durchaus nicht klare und einwandfreie
Darlegung.
G. rügt mannichfache Schreibfehler und Irrtümer P/s in
der Einzeldarstellung. Der erste ist berechtigt und in spätem
Auflagen von P. verbessert worden^).
Zu einer 2. Änderung des ihm von G. vorgeworfenen
Irrtums in betreff des regressus in infinitum oder indefinitum
hat P. sich nicht verstanden. P. schreibt-): „Raum und Zeit,
die Körper und Bewegungen in ihnen, und so die Causalreihe
sind nicht etwas absolut F]xistierendes, sie sind nur Er-
scheinungen." Sicherlich ist das K.'s Meinung. „Wie jede
Zahl in indefinitum teilbar ist, so jeder Raum und jede Raum-
erfüllung." Dieser Satz dagegen enthält Wahres und Falsches
im Sinne K.'s; wie sich schon ergibt, wenn man ihn mit K.'s
Definition des umstrittenen Unterschiedes zwischen infinitum
und indefinitum zusammenhält: K. schreibt^): „Wenn das
Ganze in der empirischen Anschauung gegeben worden, so
geht der Regressus in der Reihe seiner innern Bedingungen
ins unendliche; ist aber nur ein Glied der Reihe gegeben,
von welchem der Regressus zur absoluten Totalität allererst
fortgehen soll: so findet nur ein Rückgang in unbestimmte
Weiten (in indefinitum) statt." Letzteres ist bei dem Raum
selbst der Fall — hier haben wir also einen regressus in in-
definitum*). Ersteres aber gilt für jede Raumerfüllung, nämlich
für jeden Körper oder wie K. sagt „einer zwischen ihren
GrenzengegebenenMaterie^).*' Wenn nun fernerP. in derCausal-
reihe einen regressus und einen progressus in indefinitum aufgege-
ben findet, so ist das nur für den regressus richtig") für den pro-
gressus kommt die Unterscheidung garnicht in Betracht; sie
In der 1. Aufl. formuliert P. die Frage der Antinomie: „Ist die
Welt in Zeit und Raum endlich oder nicht?" (P. » S. 213). In den
späteren Auflagen schreibt er richtig: „Ist die Welt in Zeit und Kaum
endlich oder unendlich?" (P. * S. 228).
2) P. * S. 230 f.
>) K.: Kr. d. r. V. S. 415.
*) K. : a. a. 0. S. 420 f.
») K.: a. a. 0. S. 415.
«) K.: a. a. 0. S. 416.
— 7b —
ist „eine leere Subtilität," denn nach K. ist es gleichgültig
zu sagen : „Verlängert sie [eine garade Linie] so weit ihr wollt"
oder „ihr sollt niemals aufhören sie zu verlängern^)." — Gold-
schraidts Vorwurf geht insofern zu weit, als er nur einen
progressus in infinitum anerkennen will gegenüber P.'s pro-
gressus in indefinitum; was doch nach K. beides auf dasselbe
hinauskommt.
P.'s Darlegung der einzelnen Antinomien ist sehr kurz
und gibt nur die allgemeinsten Umrisse der Probleme. G.'s
Einwendung gegen diese Darstellung ist aber trotz der Weit-
schweifigkeit geringfügig und wiederholt nur schon häufig
von ihm Gesagtes; zum Teil trifft sie auch erst P.'s Darlegung
einer positiven Metaphysik K.'s, die noch zubehandeln ist^). —
In der Darlegung der „rationalen Theologie" K.'s meint
P.. K. hätte sich mit dem bloßen Hinweise begnügen können:
zur Realität gehört, Gegenstand möglicher Erfahrung zu sein
oder in der Anschauung gegeben sein zu können, und
daß solche Realität natürlich nur Einzeldingen zukom.nen
könne, nicht aber dem Inbegriff aller Denkbarkeit, nämlich
Gott^). K.'s Kritik der drei Beweisarten ist nach P. nur
nebensächliche Zugabe, die eigentlich in der Kr. d. r. V.
ganz am unrechten Platz ist. P. vergißt, daß es bei kritischen
Einwürfen sich stets einzig um die Kritik der Beweisarten
handelt, während dogmatische p]inwürfe, die K. für sich aber
ablehnt, auf die Bestimmung des umstrittenen Gegenstandes
selbst sich beziehen. Jene von P. vermißten notwendigen
Folgerungen aus der Analytik in Bezug auf den Gottesbegriff
1) K. a. a. 0. S. 414. 415.
2) Ein wichtigerer Einwurf findet sich bei Barth (a. a. 0. S. 232):
P. sei zuweit gegangen in der Behauptung, daß die Thesen der ideahs-
tischen, die Antithesen der materialistischen Richtung entsprechen, deren
Vertreter in der antiken Philosophie Plato und Epikur seien. Barth will
mehr den Gegensatz des anschaulichen und des begrifflichen Denkens
in jener Gegenüberstellung finden. In den Thesen haben wir nach ihm
„Data des unmittelbaren, innerhalb der Anschauung sich haltenden Ver-
standes;" in den Antithesen „Ergebnisse des die logischen Axiome un-
beschränkt anwendenden Geistes, den K. Vernunft nennt." - Meines
Erachtens hat aber die Paulsensche Gegenüberstellung vor dieser letzteren
den Vorzug größerer Klarheit und Anschaulichkeit, wenn sie auch, wie
Barth zeigt, nicht streng durchgeführt werden kann.
») P. * S. 233.
— 76 —
hat K. gleich zu Beginn seiner Untersuchung gezogen^). Er
zeigt dort, daß „durch reine Verstandesbegriffe .... gar
keine Gegenstände können vorgestellt werden". „Die Ideen
sind aber noch weiter von der objektiven Realität entfernt,
als Kategorien", „aber noch weiter als die Ideen scheint das-
jenige von der objektiven Realität entfernt zu sein, was ich
das Ideal nenne". Von dieser letzten „transsc. Idee" schreibt
er dann: „Die Vernunft legte sie nur als den Begriff von aller
Realität der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt
zum Grunde, ohne zu verlangen, daf3 alle Realität objektiv
gegeben sei und selbst ein Ding ausmacht. Dies letztere ist
eine bloÜe Krdichtung^^)". Die Erörterung des Gottesi)roblems
als Konsequenz aus der Analytik fehlt also bei K. durchaus
nicht, hier in der Dialektik aber stehen die von P. als neben-
sächlich bezeichneten Behandlungen der Gottesbewei^e gerade
im Mittelpunkt des Interesses. P. unterscheidet nun zwischen
empirischer und intelligibler Realität. — K.'s Ablehnung des
ontologischen Beweises soll nach P. nur auf empirischem
Boden Gültigkeit haben. K. stelle Gott mit Talern in eine
Reihe! — also mit empirischen F]inzelwesen, und dann sei
es freilich leicht, die Absurdität des ontologi.schen Beweises
auszumachen — während die intelligible Realität Gottes durch
K.'s Ablehnung des Beweises garnicht berührt werde! — Man
wird diesen Einwand P.'s nur richtig verstehen unter seiner
Voraussetzung einer Denkbarkeit der Dinge an sich, die bei
ihm — vermeintlich im Sinne K.'s — leider sehr häufig zu
einer Art tatsächlicher Erkennbarkeit der intelligiblen Welt
wird. Die wirkliche Kritik des ontologischen Beweises muß
nach P. zeigen, „daß der Begriff einer Einheit aller ideellen
Realität innerlich unmöglich sei." Von dem Begriff hängt
bei ihm alles ab; ist der unmöglich d. h., nach P., ist er
nicht denkbar, dann ist der ontologische Beweis unrettbar ge-
richtet. Hier wären gegen P. alle Einwendungen zu wieder-
holen, die man gegen eine Kantauffassung geltend machen
muß, welche eine Denkbarkeit [= Erkennbarkeit] der Dinge
an sich behauptet.
1) K.: Kr. d. r. V. S. 451 ff.
*) K.; Kr. d. r. V. S. 460.
— 77 -
G. läßt nur einen Boden gelten für das, „was sich theo-
retisch als Beweis ausgibt')." Er weist auf den Satz des
Widerspruchs hin'"^): im Begriffe des Allerrealsten liegt der
der Existenz nicht, folglich entsteht kein Widerspruch, wenn
man sie verneint. Nach P. aber soll eben die Möglichkeit
des Begriffs eines allerrealsten Wesens erst nachgewiesen
werden — und zwar verlangt er einen Begriff aller ideellen
Realität, deren Denkbarkeit nach reinen Kategorien für ihn
der nervus rerura ist. Die wirkliche Differenz zwischen P.
und G. besteht also inbetreff des Begriffs der Realität; P.
kennt zwei Realitäten, G. nur eine! — Mit vollem Recht aber
weist G. darauf hin, daß Gott von K. keineswegs in eine Reihe
mit Talern gestellt werde; es handelt sich nur um eine Analogie
von Urteilen, aber nicht von Sachen!
P.'s Kritik der Kantischen Widerlegung deskosmologischen
Beweises beschränkt sich auf die Wiederholung der Bemerkung:
Sie habe nur auf empirischem Boden Gültigkeit. Eigentlich
hätte er dann aber diesen Einwurf auch auf den dritten, den
physiko-teleologischen Beweis ausdehnen müssen, denn dieser
letzte hängt nach K. aufs engste mit dem kosmologischen
zusammen, und beide enden schließlich im ontologischen
Beweis. —
Ein schon oft wiederholtes Charakteristikum — um
nicht zu sagen Mißverständnis — der Paulsenschen Darstellung
und Kritik begegnet uns hier wieder: P. geht überall von den
empirischen Tatsachen aus, während K.'s Gegenstand die
Vernunft war. Nur von hieraus läßt sich erklären, warum
P. der Meinung ist, der physiko-teleologische Beweis gehöre
„eigentlich'* nicht „in eine Kritik der Versuche der reinen
Vernunft, die Wirklichkeit a priori zu konstruieren" weil
er von empirischen Daten ausgehe'^). Da scheint P. nicht
bemerkt zu haben, daß auch der kosmologische Beweis mit
der Empirie zu tun hat, und der Unterschied zwischen beiden
besteht nur darin, daß bei dem ersten bestimmte empirische
Daten in Frage kommen, während bei dem letzten es sich um
das empirisch Gegebene überhaupt handelt. Das eigentliche
1) G. S. 185.
2) G. S. 187.
3) P. * S. 236.
1 1 I
! i
rt
— 78 -
Wesen der Kantischen Transsc.-Philosophie kommt in P.'s
Darstellung niemals zu seinem Recht; es gibt für P. überall
nur ein Entweder — Oder: entweder a priori-rationalistisch
oder a posteriori-empirisch. — —
g) Kants „Uetaphysik^j".
Als 2. Teil der theoretischen Philosopliie K.'s läßt P.
der Behandlung der Erkenntnistheorie diejenige der Meta-
physik folgen. Freunde und Gegner des Paulsenschen Buches
sind darin einig, dafi in der liebevollen Behandlung dieser in
gewissem Sinne von P. neu entdeckten Seite der Kantischen
Philosophie die Haupteigentümlichkeit der Paulsenschen Kant-
darstellung überhaupt liegt: nämlich K. nicht von der Kr. d.
r. V. aus aufzufassen, sondern auf Grund seiner gesamten
Denkernatur, die sich nach P. am klarsten in seinen meta-
physischen Überzeugungen offenbart. Nicht aber nurP. 's Gegner,
auch Heman, der dem Paulsenschen Buch sehr günstig gegen-
übersteht, äußert schwere Bedenken gegen P.'s Konstruktion
einer positiven Kantischen Metaphysik^). Seiner Meinung nach
brauchen wir auch nicht auf eine Metaphysik der Zukunft
im Sinne K.'s zu warten, da alles, „was auf Grund der
Kantischen Erkenntnistheorie sich an metaphysischen Grund-
sätzen über Gott, Welt und Menschensoele aufstellen und ent-
wickeln läßt'S schon von Ritschi und seiner Theologenschnle
aufgezeigt sei.
Uns beschäftigt hier zunächst die fundamentale Auf-
fassung der Kantischen Philosophie überhaupt: Ist sie Meta-
physik? und wenn nicht, in welchem Verhältnis steht sie zur Me-
taphysik? P. betrachtet die Transscendental-PhiIoso[)hie als eine
Substruktion der darauf sich erhebenden Kantischen Metaphysik;
*) P. legt der Behandlung der Kantischen Metaphysik die von
Pölitz 1821 herausgegebenen Colleghefte über K.'s Metaphysik zu Grunde.
Heman (a. a. 0. S. 275) weist auf die Unzulänglichkeit der Pölitzschen
Hefte hin und erkennt in ihnen eine Überarbeitung, in welcher kritische,
negative Partien gestrichen sind. Ein gut Teil der positiven, dogmatischen
Ausführungen P.'s werden daher auf Kosten dieser ungenauen Quelle zu
setzen sein, was sich im einzelnen nachweisen läßt, wenn man die
Pölitzschen Hefte mit den von Heinze veröffentlichten Stücken aus dem
handschriftlichen Nachlaß selbst vergleicht.
^) Heman: Zs. f. Philos. u. philos. Kr. l i i. ili.
-^ 79 —
zu deren systematischerDarstellungK. nicht mehr gekommen sei.
Demgegenüber bemerkt Goldschmidt^): „Das metaphysische
Urteil tritt uns schon überall da nahe, wo die Wirklichkeit
selbst allgemein beurteilt wird wofern wir von Gegen-
ständen irgend welche Prädikate aussagen, so ist die Frage:
welche von diesen Prädikaten sind an das Verhältnis zum
Subjekt gebunden, welche nicht? Welche Prädikate kommen
den Dingen an sich zu^)?** „Ist die Kritik vom ersten bis
letzten Blatt Erkenntnistheorie, so ist sie vom Anfang bis
zum Knde zugleich Metaphysik, der alle apriorische Erkenntnis
mit Ausnahme der Mathematik zugewiesen wird.** G., der an
diesen Stellen wie so häufig das zu Beweisende immer vor-
aussetzt, nämlich die Richtigkeit der ursprünglichen Gegenüber-
stellung : erkenntnistheoretisches Subjekt und objektive Außen-
welt und ferner das selbstverständliche Vorhandensein apriorischer
Erkenntnis, erblickt im (regensatz zu P. in K.'s Transscendental-
Philosophie zugleich eine Metaphysik. P. konstruiert einen
Zwiespalt zwischen K., dem P^rkenntnistheoretiker und K.,
dem Metaphysiker^). Beide sind „nicht zu vollständiger Aus-
gleichung gekommen*)". Ich glaube, zu einem großen Teil
wird man diesen von P. hier bloßgelegten Zwiespalt auf P.'s
irrige Auffassung zurückführen können, den Primat der prak-
tischen Vernunft im Sinne der Kantischen Philosophie doch
durch irgend eine Hintertür auch in die erkenntnistheoretische
Behandlung einzuführen und zu Gunsten einer positiven Meta-
physik zu verwerten. Die praktische Vernunft vereint sich bei
P. mit der spekulativen Vernunft in der Dialektik und kon-
struiert eine positive letzte und höchste systematische Einheit
nach Zweckgedanken^), welche sich dann bei P. im Gegensatz
zu K. als die eigentliche Insel der Wahrheit im Ozean voll
Dunst und Nebelbänken erweist; wogegen eben K. die mensch-
liche Erkenntnis gerade an das anschaulich Gegebene als ein-
zigen Gegenstand der Erkenntnis verweist. Das anschaulich
Gegebene, die „Erscheinung", ist nach der Paulsenschen In-
terpretation bloß eine Nebelbank, „die über dem mundus
») G. S. 2.
2) Goldschmidt: Arch. f. syst. Phil. V, 1899, S. 286.
3) P. « S. 188.
♦) P. * S. 259.
') P. ♦ S. 257 f.
n
fi
f *
In }
— 80 —
intelligibilis liegt und dessen Umrisse in unserer Sinnlichkeit
auf gewisse Weise wiederspiegelt, ganz wie bei Plato die sinn-
liche Welt die Ideenwelt in getrübten Bildern darstellt^)".
Diese von P. richtig gezogene Konsequenz, daß K., wenn die
metaphysische Auslegung des mundus intelligibilis richtig ist,
sich restlos als Platoniker entpuppen müßte, hätte P. von
einer so willkürlichen Konstruktion einer Kantischen Meta-
physik abhalten müssen, wenn K. auch nicht selbst noch seine
Beziehungen zu Plato in so klarer und zutreffender Weise
dargelegt hätte^).
P.'s Darlegung der Kantischen Metaphysik selbst schließt
sich insofern dem Gedankengang der Dialektik naturgemäß
an, als er von dorther die Grundprobleme der Meta[)hysik
herübernimmt: Gott, Unsterblichkeit und Willensfreiheit.
Ich werde mich im Folgenden auf die Erörterung einiger
kritischen Bemerkungen unsers Autors beschränken; die meisten
der von P. hier noch einmal aufgeworfenen Fragen haben ihre
Erledigung schon bei der Behandlung der Dialektik und düs
formalistischen Rationalismus in K.'s Philosophie erhalten. P.'s
Darlegung selbst ist sehr weitschweifig und mit häufigen
Exkursionen in die historischen Beziehungen K.'s zu seinen
Vorgängern, besonders zu Plato und Spinoza durchsetzt. Man
wird in dem Hervortreten dieser beiden eine Konsequenz der
Paulsenschen Gesamtauffassung erblicken müssen, nach
welcher der formale Rationalismus der Kern des Kantischen
Systems ist.
In der Behandlung der Kantischen transsc. Dialektik
lesen wir bei P.^): „Seine [Kants] kritische Fragestellung: wie
kann die Vernunft a priori die Wirklichkeit erkennen? schließt
prinzipiell jede auf die konkrete Gestalt der Wirklichkeit ein-
gehende Betrachtung von vornherein aus. An sich wird
freilich die Frage: ob denn nicht Metaphysik a posteriori
möglich sei , als eine durchaus vernünftige gelten
müssen." G. hält P. einen durch Sperrdruck hervorgehobenen
Einwand entgegen*): „Wir haben von demselben Schriftsteller
1) P. * S. 260.
2) K.: Kr. d. r. V. S. 38.
») P. * S. 2:37 f.
*) G S. 189.
— 81 —
erfahren, daß das synthetische Urteil a posteriori eine contra-
dictio in adjecto bedeutet. Was ist nun Metaphysik a pos-
teriori?" Der Einwurf ist wohl nicht so schwerwiegend.
Allerdings hätte P., wenn er sich der Kantischen Terminologie
bedient, Metaphysik „a posteriori" in Anfangs- und Schluß-
striche setzen sollen. Im übrigen aber spricht er sich klar
darüber aus, was er unter Metaphysik a posteriQri verstanden
wissen wilP): „Von den Erscheinungen aus zu philosophieren",
„Inter[)retation der den Sinnen gegebenen körperlichen Welt
aus dem eigenen Innenleben"; und nach der vorhin bezeich-
neten Stelle ist diese Metaphysik eine Beantwortung der Frage
nach Wesen und Konstitution der Wirklichkeit „auf Grund
der gesamten Erfahrungserkenntnis, wenn nicht in apodiktischen
Sätzen, so doch in begründeten Ansichten." Die sich hierauf
beziehenden Einwürfe G.'s, ob diese Metaphysik ein Wissen
oder ein Nicht- Wissen sei, mit welcher Art Wirklichkeit wir
es hier zu tun haben, was P. unter „begründeten Ansichten"
versteht etc., bleiben allerdings in vollem Umfange bestehen.
P. behandelt als erstes metaphysisches Problem das onto-
logisch-psychologische und vertritt die Meinung, K. habe die
„aktualistische Seelentheorie" neu begründet — eine Über-
zeugung, die er dann für seinen eigenen Voluntarismus und
die Beziehungen desselben zu K. nutzbar macht 2): „Die Seele
ist nicht ein totes Substrat, nicht eine starre Substanz nach
Art der Atome, sondern reine Energie, lebendige Tätigkeit
des Erkennens und Wollens. — Auch diese Gedanken dürfen
als dauernde Errungenschaften der Philosophie bezeichnet
werden. In jüngster Zeit beginnt auch die aktualistische
Theorie vom Wesen der Seele, nach vorübergehender Ver-
dunklung, wieder hervorzutreten." Der oben erwähnten
Kantischen Auffassung des Ich als Ding an sich hängt K.
nach P.3) „immer noch etwas von der alten Seelen-Substanz
an." Dem gegenüber ist Erich Adickes, sonst in Bezug auf
die Kant-Auffassung P.'s Anhänger, der Meinung, daß K.
immer an der Substantialität der Seele nach Art von Leibnitz'
1) P. ♦ S. 263.
») P. * S. 416.
») P. * S. 266.
6
-J
II
u
— 8'2 —
Monaden festgehalten habe: die Seele gehe bei K. nicht im
Seelenleben, in einzelnen psychischen Prozessen auf ^). Meines
Erachtens tritt uns in der Kr. d. r. V. die Seele als erkennbar
nur in den psychischen Vorgängen entgegen. Andererseits
fällt aber die Seele als das dem Menschen zu Grunde liegende
Ding an sich unter K.'s Auffassung der Dinge an sich über
haupt, nach welcher er sich wohl positive „Privatmeinungen
über dieselben erlaubt, aber keine wissenschaftlichen Über-
zeugungen. P. dagegen, der in der Dissertation von 1770
den eigentlich Kantischen Standpunkt niedergelegt finden will,
betrachtet auch die dort geäußerten metaphysischen Erörte-
rungen über den mundus intelligibilis als die immer in Kant
vorherrschende Gedankenströmung. In Bezug auf den mundus
intelligibilis erhebt er sich sogar zu der kühnen Behauptung,
daß K., „wenn die Sache auf entweder — oder gestellt wäre,
eher als den mundus intelligibilis jene agnostizistischen Ten-
denzen der Analytik und Dialektik hätte fahren lassen ^j" —
eine Auffassung, die nicht im geringsten gerechtfertigt ist.
Wenn P. aber hier in dem Ich als Ding an sich nur ein nicht
Ernst zu nehmendes Rudiment einer alten, von K. selbst über-
wundenen Anschauung erblickt, so kommt P. in einen Wider-
spruch zu seiner sonst immer an der Dissertation von 1770
orientierten Kantauffassung, die gerade auf eine starke Beto-
nung der intelligiblen Welt bei Kant hinauslief; dann scheint
also an dieser Stelle die alte metaphysische Ansicht K.'s auch
nach P. nicht die richtige und immer vorherrschende zu sein!
Wir kommen endlich zur Erörterung des meta[)hysischen Pro-
blems der Willensfreiheit. Von den zwei Bedeutungen, die K. der
Willensfreiheit beilegt: praktische und transscendentale Freiheit,
möchte P. nur die erste anerkennen. Nach K. hat die prak-
tische Freiheit die transscendentale zur notwendigen Voraus-
setzung. P. aber meint 3): „Zur Konstruktion der Vorgänge
im wirkHchen Leben, im besondern der Verantwortlichkeit,
ist er [der Begriff der praktischen Freiheit] ausreichend und
aliein brauchbar." Goldschmidt bemerkt dazu*): „Wenn man
1) Adickes: Deutsche Litt. Zeitung 1898, No. 29, S. 1151.
«) P. * S. 261.
«) P. * S. 272.
*) G. S. 180.
— 83 —
das in ein anderes Gebiet überträgt (in das Eeich einer andern
Kategorie), so heißt das, man hat nicht nötig, gegen die Ur-
teile 2X2 = 4 und 2X2 = 5 sich aufzulehnen, wenn man
hier dieses, dort jenes , gebraucht'." Diese Analogie trifft
nicht zu, es fehlt das tertium comparationis in dem ,, Ge-
brauch," denn dieser ist für die Kategorie der Causalität
nach K. ein zwiefacher, Causalität aus Notwendigkeit und
Causalität aus Freiheit, aber er besteht auch nur für diese
Kategorie und nicht ebenfalls für die der Vielheit resp. Ein-
heit, auf die sich doch die arithmetischen Urteile beziehen.
Bei den mathematischen Urteilen gibt es nur einen einfachen
Gebrauch, nämlich den auf Grund der reinen Anschauungs-
form des Raumes möglichen, also nur den empirischen Ge-
brauch.
— 84 —
Schluß.
Wir sind am Kade. In dieser Paulsenschen Darstellung
der positiven dogmatischen Metaphysik Kants gipfelt seine
Gesamtauffassung der Kantischon Philosophie als eines neu be-
gründeten formalistischen Rationalismus. Mußten wir in dem Be-
streben, einen solchen Rationalismus aus dem Kantischen System
herauszukonstruieren, eine einseitige Betonung des bei Kant
unleugbar vorhandenen rationalistischen Faktors erkennen, so
ist auf der andern Seite die groiio Unklarheit, die bei P. über
die Verschiedenheit erkenntnistheoretischer und psychologischer
Behandlung herrscht, die Ursache, daß vielfache fruchtbare
Resultate der empiristischen Kritik P.'s an der Kantischen
Philosophie wieder in Frage gestellt werden.
Für P.'s prinzipielle Auffassung Kants scheinen mir zwei
Momente entscheidend zu sein, deren Berechtigung P. meines
Erachtens aber auf keine Weise darzulegen gelungen ist: Die
schon erwähnte Behauptung einer positiv-dogmatischen Meta-
physik im Sinne K.'s, und die in engem Zusammenhang damit
stehende Überzeugung, daß der eigentliche Kantische Standpunkt
in der Dissertation vom Jahre 1770 und nicht in den spätem
kritischen Schriften zu suchen sei. Aus diesen beiden Momenten
lassen sich die Einzel-Auffassungen P.'s in betreff der ver-
schiedensten Kantischen Probleme deduzieren; während schließ-
lich sein mangelndes Verständnis dem transscendentalen
Charakter der Kantischen Gesamtauffassung gegenüber durch
seine eigene philosophisch-metaphysische Überzeugung bedingt
ist, welche auf der einen Seite einen reinen Empirismus ver-
ficht, um auf der andern in einer rationalistischen Metaphysik
zu enden. Von seinem Empirismus aus bringt er an die
Kantische Darlegung immer jenes Entweder — Oder: Em-
pirismus oder Rationalismus heran, ohne der transsc. Ver-
knüpfung beider bei K. gerecht zu werden! —
— 85 -~
Bei Goldschmidt kommen diese Grundelemente der
Paulsenschen Überzeugung nicht zur Geltung. Er erörtert —
bisweilen sehr heftig polemisch — die einzelnen Mißverständ-
nisse und Einwände P.'s, ohne sie in ihrem Zusammenhang
mit dem fundamentalen Standpunkte P.'s zu verstehen. So ist
es erklärlich, daß er sehr häufig mit seinen Erörterungen an
den Paulsenschen Gedanken vorbeischießt, ohne sie zu treffen,
indem er von seinen Voraussetzungen aus, ohne den Paulsen-
schen gerecht zu werden, gegen Behauptungen zu Felde zieht,
die er erst in P's. Darlegung hineininterpretiert hat. Gold-
schmidt ist durchaus Kantianer; bei P. vereinigen sich, wie
wir sahen, jene beiden oben erörterten Momente seiner Kant-
auffassung mit der Tendenz einer empiristisch und „historisch-
genetisch" orientierten Philosophie, die ihn von vornherein die
einzelnen Probleme von ganz anderer Seite auffassen läßt,
wie sie Goldschmidt erscheinen, so daß bisweilen sogar ein
gegenseitigesVerständnis ausgeschlossen erscheint, auch wenn sie
sich in ihren positiven Behauptungen garnichtsoweit von einander
entfernen. P. als Empirist geht von der Natur aus; Goldschmidt,
der Kantianer, von der Vernunft. Während P. die Natur der
Gegenstände ins Auge faßt: Wahrnehmung, Erscheinung, Ding
an sich — erörtert Goldschmidt die Art unserer Erkenntnis-
faktoren: Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft. — Und wenn sich
die Resultate beider tatsächlich häufig sehr nahe kommen —
obwohl gänzlich verschieden ausgedrückt — so ist das vor
allem K.'s Verdienst selbst, der gerade so viele transscenden-
tale Verknüpfungen zwischen der Natur der Objekte und der
Art unserer Erkenntnisfaktoren, also zwischen Empirismus
und Rationalismus aufgedeckt hat. Wenn trotzdem G. oft in
sehr erregter Polemik und mächtiger Entrüstung gegen P.
zu Felde zieht, so liegt das an einer gegensätzlichen Ein-
seitigkeit bei beiden. Das äußert sich z. B. in Bezug auf
das Verhältnis, in dem Erkenntnistheorie und Psychologie bei
beiden zueinander stehen. P. fundiert die ganze Erkenntnis-
theorie psychologisch und geht sogar soweit, daß er den
jetzigen Erkenntnischarakter des menschlichen Verstandes als
allmählich biologisch in der Gattung entwickelt verstehen will.
G. dagegen erkennt psychologischen Betrachtungen nur sehr
beschränkte Berechtigung zu. Ganz im Sinne K.'s ist ihm
der Verstand das Vermögen der Begriffe; er ist charakterisiert
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durch die apriorischen Erkenntnisfaktoren des Menschen und
ist so der psychologischen Betrachtung entzogen und einer
rein erkenntnistheoretischen Behandlung vorbehalten.
Viele der Angriffe G.'s gegen P.'s Buch haben wir
ablehnen müssen. Ziehen wir noch in Betracht, daß eine lleihe
seiner Ausstellungen allein seiner flüchtigen Lektüre des Paul-
senschen Buches entspringen, so werden wir P. verstehen,
wenn er in der Vorrede zur 4. Auflage seines Buches sich
gegen Goldschmidts Polemik verwahrt; wenn er „anmaüliche
Belehrung, hochfahrendes Besserwissen und absprechenden
Tadel" aus dem Kreise der allein wahren Kantianer, „die jede
Abweichung von K. aus dem Nichtverstehen K.'s erklären,"
ablehnt. „Kantstudium, keine Kantkritik; Kantstudium, bis
kein anderer Gedanke mehr Eingang in den Kopf findet: wer
sich so trainiert hat, dem muß natürlich jede Abweichung vom
Kanon als Irrtum oder als Mißverständnis erscheinen." —
Mag aber auch der orthodoxe Kantianismus für den freien,
gesunden Fortschritt der philosophischen Forschung ein Hemm-
nis bedeuten, so ist doch andererseits für das Unternehmen
einer historischen Kant- Darstellung eine größere Objektivität
und Selbstaufgabe erforderlich, als sie das Paulsensche Buch
erkennen läßt — und vor allem eine größere Vorurteilslosigkeit;
denn nur als Vorurteile glaube ich so fundamentale Irrtümer
P.'s auffassen zu können, wie sie sich in den Behauptungen
offenbaren, Kants eigentliche Meinung sei in der Dissertation
von 1770, nicht in den kritischen Schriften niedergelegt, und
K. habe demgemäß immer an einer positiven dogmatischen
Metaphysik festgehalten. —
Immerhin wird man in dem Versuch, das Gedankenwerk
des größten deutschen Denkers von empiristischem Standpunkt
aus zu beleuchten, einen Vorzug des Paulsenschen Buches
anerkennen müssen, dessen fördernder Einfluß bei denen, die
als Lernende an das Studium K.*s herantreten, um so mehr
sich geltend machen dürfte, als die Darlegungen P.*s in diesem
Buche, wie in allen seinen früheren Schriften in anregender
und anziehender Form vorgetragen werden. —
Lebenslauf.
Am 8. Mai 1884 wurde ich als ältester Sohn des Lehrers Richard
H e;2:en wald, evangelischer Konfession, zu Mark. Friedland (West-
preußen) geboren. Bis zai meinem 14. Lebensjahre besuchte ich die
Voikssciiule meiner Heimatstadt und kam im Herbst 1898 auf die Kgl.
Präparandenanstalt zu Plathe (Pommern), um mich dort auf den Beruf
des Volksschullehrers vorzubereiten. Im Januar 1900 erfüllte mein Vater
den von mir lange gehegten Wunsch, ein Gymnasium besuchen zu dürfen.
Nach kurzer Vorbereitung wurde ich Ostern 1900 in die Untersekunda
des Schiller-Realgymnasiums zu Stettin aufgenommen. Da mein Vater
inzwischen nach Danzig versetzt worden war, vertauschte ich im Herbst
desselben Jahres das Schiller-Realgymnasium mit dem St. Johann-Real-
gymnasium in Danzig, an welchem ich Ostern 1904 das Abiturienten-
examen bestand. Ich bezog die Universitäten Marburg, Berlin, Königs-
berg und Greifswald, um Philosophie, germanische und romanische
Philologie zu studieren; und hörte die Vorlesungen folgender Herren
Professoren :
Marburg:
Elster, Knopf, Natorp, Rade, Vogt, Wechssler.
Berlin:
Brandl, Delmer, Herrmann, Lassen, Richard M. Meyer, Paulsen,
Roethe, Erich Schmidt.
Königsberg:
Baumgart, Franke, Kowalewsky, Nicholls, Schade, Schultz-Gora,
Thurau.
G r e i f s w a 1 d :
Haußleiter, Heuckenkamp, Rehmke, Reifferscheid, Schmekel, Schuppe,
Stange, Stengel, Stosch.
Allen meinen verehrten Lehrern spreche ich an dieser Stelle
meinen herzlichsten Dank aus.
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